3. Juli 2006

Randbemerkung: Das amerikanische Paradox

Der Anlaß zu dieser Randbemerkung ist ein lesenswerter Beitrag von Sparrow­hawk in "Zettels kleinem Zimmer". Es geht dort um das deutsche und das amerikanische politische System. Sparrowhawk zitiert einen Text aus der amerikanischen Verfassungsdebatte, geschrieben im Jahr 1788, der entweder von Hamilton oder von Madison stammt. Sparrowhawk benutzt diesen Text als Beispiel für die damaligen Überlegungen zur Gewaltenteilung und Machtbalance. Meine Randbemerkung zielt aber auf einen allgemeineren Aspekt.

Das amerikanische politische System ist auf eine Weise entstanden, für die es meines Wissens kein Beispiel gibt: Es wurde gewissermaßen auf dem Reißbrett entworfen; wie von Ingenieuren, die sich überlegen, wie man ein Gerät auslegen muß, damit es die gewünschte Leistung erbringt.

Diese erstaunliche, bewundernswerte Verfassung war das Werk von Männern, die zwar die Ideen der Aufklärung ins politische Werk setzen wollten, wie auch später die französischen Revolutionäre. Die aber - und das ist das Einmalige - nicht einen idealen Staat anstrebten, sondern einen funktionierenden. Die sich bei jeder Entscheidung über die Prinzipien und Institutionen des Staats fragten, welches vermutlich ihre Konsequenzen für die politische Praxis sein würden, gegeben den Menschen, wie er nun einmal ist.

Sie waren liberalkonservative Aufklärer. Skeptiker im Geiste Humes, nicht Weltverbesserer im Gefolge von Rousseau. Ihnen fehlte ganz und gar das Pathos, das nicht nur die Große Französische Revolution begleitete, sondern auch so gut wie alle demokratischen Bewegungen im Europa des 19. Jahrhunderts. Sie wollten nicht eine politische Welt, in der ein neuer Mensch enstehen würde, sondern eine, in der der alte Adam frei und menschenwürdig würde leben können.



Diese Verfassung hat das hervorgebracht, was man das amerikanische Paradox nennen kann: Kein anderer Staat der Welt ist seit mehr als zwei Jahrhunderten politisch so konservativ und zugleich gesellschaftlich so dynamisch wie die Vereinigten Staaten von Amerika.

Zu den Klischees, die uns in der Schule nahegebracht wurden, gehörte, daß "England ein konservatives Land" sei. Gewiß, das war es damals und ist es teilweise noch heute. Aber die USA sind ungleich konservativer. Dort wird noch immer der Präsident nach einem Verfahren - indirekt über Elektoren - gewählt, das im 18. Jahrhundert, angesichts der Weite des Landes, aus praktischen Gründen erforderlich gewesen war. Das Wahlrecht, die beiden Parlamentskammern, das Verfahren bei der Ernennung von Ministern - alles ist noch so, wie die Väter der Verfassung es sich ausgedacht hatten.

Gewiß, es gab immer wieder Amendments, Verfassungszu- sätze. Aber keines davon hat an an den Institutionen gerührt, hat irgendetwas Substantielles an der Verfassung verändert. Meist dienten sie nur dazu, die Verfassungsgrundsätze zu präzisieren oder veränderten Bedingungen anzupassen.

Die Verfassung regelt in ihrem fünften Artikel aufs Genaueste das Verfahren, das zu einem solchen Amendment führt; und die Amerikaner haben außerordentlich restriktiv, aber höchst wirkungsvoll von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Das berühmte First Amendment von Dezember 1791, das die Religions-, Presse-, Versammlungs- und Redefreiheit garantiert, bestand aus einem einzigen Satz: Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.

Punkt. Und das hat mehr als zweihundert Jahre gehalten, und es ist heute so zentral für die amerikanische Gesellschaft wie zur Zeit der Französischen Revolution.

Im Mai 1992 wurde der bisher letzte Verfassungszusatz ratifiziert, der erst siebenundzwanzigste in ziemlich genau zweihundert Jahren (und die ersten zehn waren 1791 gemeinsam ratifiziert worden): "No law, varying the compensation for the services of the Senators and Representatives, shall take effect, until an election of Representatives shall have intervened." Wenn Abgeordneten ihre Diäten erhöhen oder sonstwie ändern, dann kann das erst in der nachfolgenden Legislaturperiode wirksam werden. Wie weise, und wie sehr wieder orientiert am Alten Adam, wie er nun einmal ist!



Die USA, kann man also ohne Übertreibung sagen, werden heute noch nach denselben Gesetzen und mit denselben Institutionen regiert wie am Ende des 18. Jahrhunderts. Und zugleich sind sie - sieht man vom heutigen China ab, vielleicht bald auch Indien - die dynamischste Gesellschaft, die jemals existierte. (Ob China und Indien ihre Dynamik über Jahrhunderte beibehalten können, oder ob es nur eine vorübergehende Wachstumsdynamik ist, mag offenbleiben.)

Wie ist das möglich? Wieso hat dieser extrem konservative Charakter des amerikanischen politischen Systems eine ständige Wandlung der Gesellschaft, ihre ja auch in der Gegenwart wieder fast atemberaubende Transformation nicht nur nicht behindert, sondern augenscheinlich sogar begünstigt?

Die Antwort kann offenbar nur im Wesen dieser Verfassung selbst liegen. Ihre Stabilität muß ihre Ursache darin haben, daß sie den Wandel erleichtert. Mir scheinen drei ihrer Merkmale entscheidend zu sein:
  • Sie ist von lakonischer Kürze. Acht Artikel am Anfang. Dann die zehn Amendments von 1791, zusammen die "Bill of Rights" genannt. Und dann, innerhalb von zweihundert Jahren, siebzehn weitere Ergänzungen. That's all. Kein einziger Artikel wurde geändert oder außer Kraft gesetzt.

    Es wird also nur das wirklich Notwendige geregelt. Der Rest wird dem Rechtssystem überlassen, das - als angelsächsisches Fallrecht - geradezu ideal auf Wandlung hin eingerichtet ist.

  • Sie ist - vermutlich - auch kaum durch etwas Besseres ersetzbar. Ihre genialen Väter - allen voran der große Thomas Jefferson - haben sozusagen auf Anhieb die richtige Balance gefunden - zwischen den Rechten der Regierung und denen des Volks, zwischen der notwendigen Macht jedes Verfassungsorgans und ihrer Zügelung durch andere Verfassungsorgane.

  • Und sie ist drittens - und das scheint mir das Entscheidende zu sein - zutiefst skeptisch, also realistisch. Sie überfordert den Menschen nicht, sie rechnet mit seiner Schwäche, seiner Machtgier, seiner Selbstsucht. Das amerikanische Verfassungssystem ist in diesem Sinn zutiefst human.
  • Wer würde es also ändern wollen? So gut wie niemand, jedenfalls in den USA selbst. Extremisten, die, wie bei uns die Links- und die Rechtsextremisten, "das ganze System" ablehnen, sind in den USA kuriose Sonderlinge.

    Amerika, du hast es besser!