18. Oktober 2006

Armut (1): Autobiographisches

Den Begriff der "Unterschicht" möchte Arbeitsminister Müntefering vermeiden. Gestern erklärte er gar, es gebe keine Schichten in Deutschland. Gegen den Begriff "Armut" scheint sich eine solche Skepsis hingegen nicht zu regen. Die gestrige Presse ist voller Schlagzeilen wie "Koalition streitet über Ursachen der neuen Armut" und "Tiefensee fordert deutlichere Schritte gegen Armut".

Daß "Armut" ein mindestens so problematischer Begriff ist wie "Unterschicht", wird kaum zur Kenntnis genommen. Eine Ausnahme ist wieder einmal die FAZ, die darauf hinweist, daß "Armut ein relativer Begriff" sei und daß die zu ihrer Definition herangezogenen Grenzen "auf gesellschaftlich gesetzten Konventionen" beruhten und "in dieser Hinsicht willkürlich gegriffen" seien.

In der Tat. Was meinen wir überhaupt mit "arm"? Damit befaßt sich diese Serie. Ich beginne mit Autobiographischem.



Bei Ende des Zweiten Weltkriegs lebten meine Eltern in Thüringen und damit zunächst in der amerikanischen Besatzungszone. Als Thüringen und Westsachsen im Juli 1945 von den USA an die Russen als Besatzungsmacht übergeben wurde, sahen sie sich - es gab Gerüchte, es gab Beispiele - zunehmend in Gefahr, als Ärzte in die Sowjetunion deportiert zu werden. Es gelang erst meinem Vater, dann dem Rest der Familie, in den Westen zu fliehen. Dort kamen wir in einem kleinen Dorf unter, durch Vermittlung entfernter Verwandter meiner Großeltern.

Meine Großeltern und Eltern waren "ausgebombt" worden, dh sie hatten keinen materiellen Besitz mehr. Sie hatten kleine Ersparnisse, von denen wir lebten. Ein Einkommen gab es nicht; mein Vater konnte immerhin unentgeltlich in einem Krankenhaus als Assistenzarzt arbeiten, um sich fortzubilden.

Die sechsköpfige Familie wohnte in einem einzigen Raum. Er war allerdings relativ groß, nämlich der Schulraum einer ehemaligen Zwergschule. Mit Bretterverschlägen hatten meine Eltern ihn aufgeteilt, in zwei oder drei Teilbereiche. Die Möbel bestanden überwiegend aus Kisten, die man zweckentfremdet und umgebaut hatte; noch Jahrzehnte später sprach mein Vater von unserer "Kistenkultur". Geheizt werden konnte wenig. Im Winter waren wir auch in der Wohnung dick eingemummelt in Pullover, Decken usw. Aber eine gewisse Menge an Heizmaterial war doch irgendwie organisiert worden, so daß wir nie froren. Hauptsächlich hatte man wohl im Wald Kleinholz gesammelt, aber ich erinnere mich auch an einen Holzstoß neben dem Haus, aus Scheiten aufgebaut, die mein Vater gehackt hatte.

Unser Essen bestand im wesentlichen aus Kartoffeln, Gemüse, Brot und Quark, für uns Kinder dazu Haferschleim und Lebertran. Wenn die Felder abgeerntet waren, gingen wir "Ähren lesen" - die liegengelassenen Kornähren wurden aufgesammelt, zerstoßen, zu Eßbarem verarbeitet. Fett lieferten Bucheckern, die in umfangreichen Sammelaktionen jeden Herbst aufgesammelt und ausgepreßt wurden.

Von dem Bauern bekamen wir Kinder Äpfel, gelegentlich ein Stück Wurst. Manchmal luden sie uns ein, und wir durften große Scheiben Bauernbrot essen, das unglaublicherweise mit Butter und Zwetschgenmarmelade, der "Latwersch", bestrichen war. Wenn ein Schwein geschlachtet wurde, dann wurden wir Kinder während des Schlachtvorgangs eingesperrt, um nichts davon zu sehen (wir hörten aber die Todesschreie des Schweins), und danach gab es für alle - auch uns Städterkinder - Metzelsuppe und richtiges Fleisch, das Wellfleisch. Bilder zeigen mich als schmales und blasses, aber keineswegs unterernährtes Kind.



Bücher hatten meine Eltern kaum "gerettet"; wohl nur etwas Fachliteratur. Aber es gab eine Tageszeitung, anhand deren ich mit vier Jahren lesen lernte. Ich habe sie schon bald vermutlich gründlicher gelesen als die Erwachsenen; viel anderes war ja nicht zu tun. Ein "Volksempfänger" war auch gerettet oder wiederbeschafft worden, für den mein Vater eine endlos lange Antenne in vielfachem Hin und Her unter der Zimmerdecke gezogen hatte.

Irgendwie besorgten meine Eltern auch, als sie meine Leselust bemerkt hatten, das eine oder andere Kinderheft - "Puh der Bär", die "Bunte Kiste". Spielzeug hatten wir Kinder nicht, außer einem Teddybären, der die Ausbombung überlebt hatte, Bauklötzen und einem irgendwie aus der Reformpädagogik stammenden Spiel, bei dem man Zylinder in die passenden Röhren stecken mußte. Ein kreativeres Spiel war es, aus dem Lehm, den es um das Haus herum gab, Figuren zu formen.

Einmal kam ein "Zirkus" ins Dorf - dh eine Zigeunerfamilie, deren Darbietungen mit Ponies, Feuerschluckerei und Drahtseilakten meine kindliche Phantasie danach über Monate beschäftigte. Wir hatten "Freikarten" bekommen, weil meine Großmutter am Tag zuvor zwei bettelnden Familienmitgliedern ("zwei bildhübsche Zigeunerinnen" sagte sie immer wieder) Mehl geschenkt hatte. Einmal wurde im Dorfgasthaus ein "Tonfilm" gezeigt, vom Gemeindediener zuvor ausgerufen. Es war ein Micky-Maus-Film, in dem Micky auf einer endlosen Bohnenranke zum Mond kletterte.

Das waren die materiellen und ideellen Umstände, unter denen ich aufgewachsen bin, bis ich in die Schule kam. Etwa zur selben Zeit gelang es meiner Mutter, die "Niederlassung" für eine ärztliche Praxis zu bekommen, wir zogen in eine Kleinstadt, und es gab die Währungsreform. Danach war nichts mehr wie zuvor. Das Wirtschaftswunder begann auch für uns.



Ich habe das beschrieben, um deutlich zu machen, wie unklar der Begriff "Armut" ist.

Wir waren eben damals nicht arm, denn wir mußten nicht hungern, hatten ein Dach über dem Kopf, brauchten nicht zu frieren, hatten durch meine Eltern ärztliche Versorgung. Wir lebten an der Grenze zur Armut, aber eindeutig diesseits.

Armut - das bedeutete damals, nicht das Notwendige zum Leben zu haben. Das hat es in allen Kulturen, über die Jahrtausende bedeutet. Das bedeutet es auch heute noch für die meisten Menschen in den meisten Ländern der Welt: Hungern zu müssen, frieren zu müssen, keine ärztliche Versorgung zu haben, vielleicht nicht einmal eine Unterkunft.

Nur in einigen Teilen der Welt - in den USA, in Europa vor allem - hat sich ein Armutsbegriff herausgebildet, der mit dieser überkommenen Bedeutung des Worts kaum noch etwas gemeinsam hat. Als "arm" werden heute Menschen bezeichnet, deren Kinder nicht an Unternährung leiden, sondern an Fettleibigkeit; deren Problem nicht darin besteht, daß sie nichts außer der Tageszeitung zu lesen haben, sondern daß sie zuviel fernsehen und am Computer spielen. Menschen, die nicht nur ein Dach über dem Kopf haben, sondern denen der Staat ihre Wohnung bezahlt.

Es sind Menschen am unteren Rand der Gesellschaft; keine Frage. Aber sind sie "arm"?

Das ist das Thema der folgenden Teile dieser Serie: Es geht um statistische und andere Definitionen von "Armut"; zunächst aber um das, was wir konnotativ, assoziativ mit diesem seltsamen, emotional hoch geladenen Wort "arm" verbinden.