23. November 2006

Deutschland im Herbst. Oder: Die VerSPIEGELte Presse

Mal ehrlich - wer hätte damit gerechnet, daß Deutschland nach einem Jahr Großer Koalition so gut dastehen würde?

Außenpolitisch haben wir wieder Gewicht; die antiamerikanische Politik der Rotgrünen ist Vergangenheit. Die Achse Moskau-Berlin-Paris liegt, vor sich hinrostend, auf dem Schrotthaufen der Geschichte. Innerhalb eines Jahres hat die Kanzlerin ein internationales Ansehen gewonnen, wie es selbst Helmut Schmidt und Helmut Kohl erst im Lauf von Jahren ihrer Kanzlerschaft hatten erreichen können.

Die Wirtschaft boomt. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Der Haushalt ist nach Jahren erstmals wieder verfassungsgemäß. Die Kriterien von Maastricht werden wieder erfüllt.

Ohne die Großkotzigkeit der Schröder-Regierungen, ohne die immer wieder "nachgebesserten" Gesetze, ohne die ständig korrigierten unsoliden Prognosen, ohne windige Schlagworte à la "Agenda 2010", ohne diese ganze Schaumschlägerei, die Rotgrün kennzeichnete, arbeitet die jetzige Regierung zurückhaltend, solide und erfolgreich. Die Kanzlerin prägt mit ihrer Persönlichkeit diesen Arbeitsstil.



Gewiß, wir haben nun einmal keine liberalkonservative Regierung, sondern eine schwarzrote. Also gibt es manches, das wie eine Fortsetzung der rotgrünen Restaurationszeit anmutet, dieses nachgerade gespenstischen Versuchs altgewordener Linker, ihre Jugendträume aus den siebziger Jahren als Sechzigjährige in die Tat umzusetzen.

Der bisher schlimmste Rückfall dieser Art war das unsägliche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das man im Grund nur mit einem difficile satiram non scribere kommentieren kann. Auch die Gesundheitsreform trägt diese rotgrüne "Handschrift"; obwohl sie zugleich auch diejenige der CDU trägt. Ob ein solches seltsames Palimpsest überhaupt realitätsfähig ist, bleibt abzuwarten. Ich glaube es eher nicht.



Aber abgesehen von solchen Rückfällen und Einschränkungen hätten wir Deutsche doch jeden Grund, aufzuatmen und uns zu freuen. Der Mehltau ist weggeblasen. Deutschland ist erkennbar dabei, in die Gegenwart zurückzukehren, die Realitäten der Dritten Technologischen Revolution, der Globalisierung, der weltweiten Deregulierung und Liberalisierung zur Kenntnis zu nehmen und sich darauf einzustellen. Überall wird Deutschland reformiert; manchmal fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit, wie bei der größten Universitätsreform in der Deutschen Geschichte, der allgemeinen Einführung der Bachelor-Studiengänge, die gegenwärtig stattfindet.

Nur, was tun die Deutschen? (Nein, nicht die Deutschen; aber doch ein erschreckend großer Teil unseres Volks): Sie motzen. Sie verweigern dieser erfolgreichen Regierung ihre Zustimmung. Ja, gewisse Umfragen werden sogar so interpretiert, daß eine Mehrheit das Vertrauen in die Demokratie verloren habe.

Quer durch die Medien wird das mit moroser Bedenklichkeit kommentiert. Politikverdrossenheit wird mal wieder konstatiert, unsere Zukunft wird in Frage gestellt.



Berechtigterweise? Nein, gewiß nicht. Aber alle diese düsteren Kommentare sollten schon ernstgenommen werden. Nicht, weil sie berechtigter Ausdruck einer angeblichen deutschen Misere wären. Sondern weil sie eine ihrer wesentlichen Ursachen sind.

In unseren Medien hat sich in den vergangenen Jahrzehnten das abgespielt, was ich ihre VerSPIEGELung nennen möchte.

Eine Demokratie braucht eine investigative, eine gnadenlos alle Mängel aufdeckende Presse. Sie braucht auch eine Presse, die das Bestehende radikal in Frage stellt, die den Herrschenden nicht ihre Selbstrechtfertigungen und den Dummen nicht ihre Sottisen glaubt.

Diese Rolle hat in der Bundesrepublik der SPIEGEL gespielt; seit ihrem Bestehen. Er hat sie hervorragend gespielt. Rudolf Augstein hat sein Blatt zu Recht einmal das "Sturmgeschütz der Demokratie" genannt.

Was ein Lob ist; aber ja doch ein sehr selbstkritisches Selbstlob. Eine Presse, die in ihrer Gesamtheit aus Sturmgeschützen besteht, würde den demokratischen Rechtsstaat schnell in Schutt und Asche schießen.

Also: Einen SPIEGEL brauchte die Bundesrepublik, sie brauchte ihn dringend. Kein Presseorgan hat sich um die deutsche Demokratie so verdient gemacht. Aber eine Presse, die durchweg investigativ, erbarmungslos kritisch, nur aufs Aufdecken von Mängeln gerichtet ist - die ist alles andere als der Demokratie zuträglich.

In diese Richtung aber hat sich die deutsche Presse entwickelt. Investigativ sind sie heute alle, vom Stern über die taz bis zur FAZ. Von den "politischen Magazinen" im öffentlich-rechtlichen TV ganz zu schweigen, die von Anfang an so konzipiert gewesen waren; ein deutsches Unikum.

Auch kritisch, nicht selten ätzend kritisch, sind sie alle. Selbst die Zeit, unter Bucerius und der Gräfin von angelsächsischer Fairness, stimmt heute oft ein ins Konzert der, nennen wir sie so: Pankritiker, also der die schlechte Wirklichkeit schlechthin Bejammernden, ein.



Warum? Nun, only bad news is good news; das ist sicher ein wichtiges Motiv. Der Wettbewerb ist härter geworden. Neid ist das vermutlich stärkste Motiv von sehr vielen Menschen. Das Aufdecken von Durchstechereien, von Intrigen und von Versuchen Mächtiger, sich ungerechtfertigt zu bereichern - das ist ein sicheres Mittel, Leser zu finden, Quote zu machen. Es war früher das Alleinstellungsmerkmal des SPIEGEL und, auf einer anderen Ebene, der Boulevardpresse. Heute ist es das Erfolgsrezept eines großen Teils aller Medien.

Aber natürlich kann die Presse nicht eine Unzufriedenheit erzeugen, wenn es dafür nicht eine reale Basis gibt. Viele Menschen in Deutschland, wie viele Menschen in ganz Westeuropa, haben Angst. Sie sind zu Recht beunruhigt, denn wir befinden uns nun einmal in einer historischen Situation, in der wir Westeuropäer es viel schwerer haben werden, als wir es in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hatten, unserem Goldenen Zeitalter.

Wir vergreisen, wir sehen uns zunehmend mächtiger wirtschaftlicher Konkurrenz gegenüber, wir müssen mit Einwanderung zurechtkommen. Wir schienen den Reichtum gepachtet zu haben, und nun müssen wir ihn nicht nur mit der ganzen Welt teilen, sondern es besteht die reale Gefahr, daß wir ärmer werden. Wir sind nicht mehr besser als die anderen, und bald werden wir vielleicht viel schlechter sein.

Die Angst vor einer derartigen Entwicklung versuchen viele Menschen an Personen festzumachen, an Institutionen; sie irgendwie zu konkretisieren.

Sie versuchen, ihre Angst zu beherrschen, indem sie ihr Namen und Bilder zuordnen. Indem sie sie auf das Versagen bestimmter Parteien, auf die Schlechtigkeit der "politischen Klasse", auf die "Gier" der Manager und dergleichen zurückführen. So, wie unsere Vorfahren Dämonen oder den Teufel für das verantwortlich gemacht haben, dem sie sich ausgeliefert fühlten und das sie anders nicht begreifen konnten.

Man muß also realistisch sein. In gewissem Umfang müssen wir mit einer negativen Grundstimmung vieler Deutscher leben; auch wenn wir - hoffentlich - 2009 eine liberalkonservative Regierung bekommen, die, wenn sie über mehrere Legislaturperioden Bestand haben sollte, Deutschland wieder ganz nach vorn bringen könnte. Eine neue Adenauerzeit, eine neue Kohl-Epoche ist durchaus möglich.



Es sei denn, daß diese negative Grundstimmung uns 2009 eine Linksregierung beschert; bestehend aus der SPD mit den Grünen und/oder der PDS.

Dann allerdings müßten auch diejenigen, die wie ich Optimisten sind, wohl ihre Position korrigieren. Eine erneute Linksregierung könnte Deutschland wahrscheinlich nicht überstehen, ohne daß wirklich der Niedergang eintritt, den jetzt viele fürchten.

Aber noch bin ich Optimist. Bei Wahlen geht es ja immer nur um einen Swing von ein paar Prozent. 2005 waren es ein paar Prozent Dumme, die sich mit dem Gespenst des "Professors aus Heidelberg" schrecken ließen. Warum sollten es 2009 nicht ein paar Prozent Intelligente sein, deren Herz zwar links schlägt, die aber bereit sind, die Realität zur Kenntnis zu nehmen und die deshalb, sagen wir, liberal wählen?