5. Januar 2007

Zum 60. Geburtstags des SPIEGEL: Eine Eloge auf Rudolf Augstein

Rudolf Augstein war ein ungemein belesener Mann. Er hatte eine seltene Fähigkeit zur Analyse, und er war ein bemerkenswerter Stilist. Er war ein Mann von großer Integrität.

Ich kenne eigentlich nur zwei Journalisten, die ihm in allen diesen Hinsichten ähnlich sind bzw. waren: Den Deutschen Sebastian Haffner und den Herausgeber des französischen "Nouvel Observateur", Jean Daniel.

Ein seltsamer Zufall wollte es, daß Augstein seine Kommentare jahrelang unter dem mit Jean Daniel fast identischen Pseudonym "Jens Daniel" geschrieben hat. Als er mit diesen Kommentaren - heute würde man sagen, seiner Kolumne - begann, war er noch keine dreißig.

Die Kommentare von Jens Daniel, später dann auch als "Moritz Pfeil" und unter Augsteins eigenem Namen verfaßt, habe ich mit Begeisterung gelesen, als sie erschienen, und später mit Bewegung und in nostalgischer Erinnerung wiedergelesen. Die SPIEGEL- Bände stehen in meiner Bibliothek, vom ersten Jahrgang bis in die sechziger Jahre, im Lauf der Jahrzehnte gesammelt und immer einmal wieder in die Hand genommen.

Welche Klarheit der Analyse! Welche Wortmacht! Welche Irrtümer freilich auch, was was die Beurteilung der Außenpolitik Adenauers, der Stalin- Note von 1952, des Rapacki- Plans, der Chancen und Risiken einer Wiedervereinigung anging.

Im Unterschied zu Sebastian Haffner und Jean Daniel, die ihre politische Haltung mehrfach geändert haben, hat Augstein eine geradezu unglaubliche Prinzipientreue gezeigt - von seinem ersten Kommentar im Jahrgang 1947 bis zu seinem letzten Kommentar 2002, also über 55 Jahre hinweg. Er hat Adenauer einmal den "gußeisernen Kanzler" genannt. Er selbst war das noch viel mehr, gußeisern: Ein deutscher Patriot, ein überzeugter Liberaler.



Er war ein deutscher Patriot.

Er hat Adenauers Politik der Westintegration bekämpft, weil er sah, daß sie die Wiedervereinigung auf Jahrzehnte blockieren würde. Er hat - im öffentlichen, im SPIEGEL ausgetragenen Streit mit seinem Chefredakeur Böhme - sofort für die Wiedervereinigung plädiert, als sie sich 1989 als Möglichkeit eröffnete.

Er hat in seinen Kommentaren wieder und wieder die deutsche Interessenlage analysiert und sie gegen hegemoniale Bestrebungen verteidigt, sei es von Seiten der Franzosen, der Briten, der Amerikaner oder der Sowjets.

Augstein, der von Friedrich II und von Bismarck Faszinierte, hat immer das Kräftespiel der Nationen gesehen, nicht zwei monolithische Blöcke, wie das in der alten Bundesrepublik viele taten. Er wollte die Aussöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern, aber als gleichberechtigter Partner.

Er wurde freilich, wie so viele Patrioten, von seinem Patriotismus zu unrealistischen Urteilen verführt. Seine Hoffnung, in einem zu sowjetischen Bedingungen wiedervereinigten, neutralisierten und also von den USA nicht mehr geschützten Deutschland würde der demokratische Rechtsstaat weiter bestehen können, ein solcher Staat würde dem übermächtigen Druck der an seinen Grenzen stehenden Sowjetmacht standhalten können, war naiv.

Augstein war aber, mit seinem analytischen Verstand, auch Realist genug, frühere Irrtümer einzusehen.

Er hat am Ende wohl stillschweigend zugestanden, daß Adenauers Politik richtig gewesen war.

Er hat, trotz seiner Abneigung gegen den Kommunismus, die sozialliberale Ostpolitik befürwortet, ja sie publizistisch vorbereitet.

Er hat, trotz seines Patriotismus, immer vor einer Überschätzung der deutschen Möglichkeiten gewarnt.



Augstein war ein überzeugter Antikommunist.

Kein Blatt hat so umfassend über die Mißstände in der SBZ und später der DDR berichtet wie der SPIEGEL. Der erste SBZ- Korrespondent, Hans Holl, war im antikommunistischen Widerstand aktiv und mußte fliehen, um der Verhaftung zuvorzukommen.

Mehrere SPIEGEL- Korrspondenten haben später in der DDR den Widerstand gegen den Kommunismus in verschiedener Weise unterstützt, was scharfe Reaktionen der Kommunisten nach sich zog. Zeitweilig war der SPIEGEL deshalb in der DDR gar nicht durch einen offiziellen Korrespondenten vertreten.

In einer seiner "Lieber Spiegelleser!"-Kolumnen beschrieb Augstein einmal ein langes Gespräch mit dem brillanten kommunistischen Intellektuellen Wolfgang Harich. Und meinte dazu, am Ende des Gesprächs habe er gedacht: Wie kann ein so intelligenter Mensch nur Marxist sein. Und Harich, meinte Augstein, werde gedacht haben: Wie kann ein so intelligenter Mensch nur kein Marxist sein. (Ich zitiere das aus der Erinnerung; so wie alles, was ich in diesem Beitrag schreibe, aus der Erinnerung wiedergegeben ist).



Er war ein in der Wolle gefärbter Liberaler.

Er war liberal, was seine Redaktion anging. Es ist eine Legende, daß die SPIEGEL-Reaktion generell "links" sei oder gewesen sei. Es gab von Anfang an konservative Leitende Redakteure wie Leo Brawandt, Hans Dieter Jaene, Dr. Horst Mahnke und Georg Wolff. Die Chefredakteure Becker, Jacobi, Engel standen alle eher rechts als links von der Mitte.

Als Anfang der siebziger Jahre eine Redakteursgruppe um Hermann L. Gremliza, Dr. Bodo Zeuner und Dr. Alexander von Hoffmann den SPIEGEL in ein linkes Gesinnungsblatt umzufunktionieren versuchte, hat Augstein sie gefeuert.

Augstein war liberal in seinem unbeugsamen Eintreten für den demokratischen Rechtsstaat. Daraus resultierte sein Konflikt mit Strauß, den er anfangs geschätzt hatte und den der SPIEGEL in der erste Titelgeschichte über ihn (Titelbild: Die berühmten Zeichnung von Artzybasheff, auf der sich der Bayernhut über Strauß allmählich in einen Stahlhelm verwandelt) ausgesprochen positiv dargestellt hatte.

Als Augstein erkannte, daß Strauß ein unberechenbarer Machtmensch war, hat er ihn zu bekämpfen begonnen. Die Fama will es, daß Augstein diese Erkenntnis bei einem gemeinsamen Saufgelage kam, in dem er den wahren Strauß kennenlernte, oder kennenzulernen vermeinte.

Augstein blieb der FDP als Mitglied treu, auch wenn er sie oft attackierte und manchmal ihr "Totenglöcklein" hat läuten hören. Kurz saß er für die FDP sogar im Bundestag, aber er erkannte sehr schnell, daß er nicht zum Parlamentarier taugte, und er nutzte die erste Gelegenheit - man kann auch sagen, den ersten Vorwand- , sein Mandat niederzulegen und wieder Vollzeit- Journalist zu werden.



Er war eine intellektuell und charakterlich gleichermaßen beeindruckende Persönlichkeit.

Er war ein auch über Politik und Geschichte hinaus kenntnisreicher, übrigens auch ausgesprochen musikalischer Mensch. Vor allem ein ehrlicher, wie die meisten Skeptiker.

Ich habe in den Jahrzehnten, seit ich den SPIEGEL lese, niemals den Eindruck gehabt, daß er etwas aus taktischen oder sonstigen sachfremden Überlegungen geschrieben hat.

Alle Biographen beschreiben ihn als einen, der sagt, was er denkt. Ein gerader Charakter, der Taktieren und Finassieren gar nicht nötig hat, weil er mit seiner Persönlichkeit das, was er will, auch auf ehrliche Art durchsetzen kann. Das freilich sehr erfolgreich.



Er war ein Schöngeist und ein Machtmensch.

Er war ein Intellektueller, der in seiner Jugend Lyrik und ein Theaterstück verfaßt hat. Er war aber auch machtbewußt; und wie!

Er hat nicht nur linke Putschisten ohne viel Federlesens gefeuert, sondern ebenso seinen Chefredakteur Dr. Werner Funk, als dieser versuchte, Augsteins Macht auszuhebeln. Er hat in der SPIEGEL- Affäre wenige Stunden nach seiner Festsetzung ein Notprogramm für das Weitererscheinen des SPIEGEL auf die Beine gestellt.

Er hat alle Prozesse, von denen der SPIEGEL die meisten übrigens gewonnen hat, ohne Nachgeben durchgestanden.

Die Zeit der Studentenrevolution hat er souverän überstanden - indem er bereitwillig, aber unerbittlich mit deren Wortführern diskutierte; indem er im eigenen Haus durch die Schenkung an die Mitarbeiter, die das einzigartige Mitbeteiligungsmodell des SPIEGEL begründete, allen Rufen nach einer "Demokratisierung" zugleich entsprochen und ihnen den Wind aus den Segeln genommen hat.



Er war ein souveräner Mensch.

Das für mich Eindrucksvollste an der Persönlichkeit von Augstein war seine völlige Unfähigkeit, nachtragend zu sein.

Er hat sich mit Strauß versöhnen wollen, obwohl dieser versucht hatte, ihn ins Gefängnis zu bringen und den SPIEGEL zu vernichten.

Er hat sich mit Adenauer versöhnt (der das seinerseits erwidert hat, am Ende seines Lebens).

Er hat versucht, sich mit Kohl zu versöhnen. Mit einem Kommentar "Glückwunsch, Kanzler", in dem er ihn geradezu enthusiastisch für seine Leistungen bei der Wiedervereinigung lobte (bei Kohl freilich ohne Widerhall).



Er war ein Skeptiker und ein Träumer.

Augsteins Hauptschwäche war vielleicht, bei aller seiner Skepsis und seinem Zynismus, ein gewisses Wunschdenken.

Er glaubte, die diversen sowjetischen Lockungen zur deutschen Wiedervereinigung in den fünfziger Jahren könnten eine Chance bieten.

Er glaubte an die überzeugende Macht des freiheitlichen Rechtsstaats und hat die Niedrigkeit und Intriganz der meisten Politiker wohl unterschätzt. Er hat einmal gesagt, erst in seiner kurzen Zeit als FDP- Kandidat und dann im Bundestag sei er dahinter gekommen, wie es in den Parteien tatsächlich zugeht.

Er war ein Moralist, und wie viele Moralisten, die mit der Wirklichkeit zusammenstoßen, neigte er zum Zynismus.



Dies ist die überarbeitete Fassung eines Nachrufs auf Rudolf Augstein, den ich in der Nacht nach seinem Tod am 7. November 2002 in Infotalk geschrieben habe. Der Text ist stilistisch verbessert und hier und da ergänzt und korrigiert. Den lobenden Ton, der sich aus diesem Anlaß ergab, habe ich aber so gelassen.