9. April 2007

Zettels Oster-LobhudelEi (6): Modell Deutschland. Eine Mini-Historie, Teil drei

Das "glücklichste Volk der Welt" waren wir Deutschen beim Fall der Mauer - so sagte es der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper.

Damit traf er das allgemeine Empfinden.

Diese Monate zwischen dem Oktober 1989 und Mitte 1990 waren für viele - auch für mich - die politisch intensivsten ihres Lebens. Emotional; denn was sich da abspielte, ließ niemanden kalt. Aber auch kognitiv: Meinungen und Einstellungen gerieten ins Wanken. Die Welt hatte sich so schnell verändert, wie das - jedenfalls in Mitteleuropa - über fast ein halbes Jahrhundert undenkbar gewesen war.

Man konnte das im Grunde nicht fassen, was sich da zutrug. Eine Diktatur wurde nicht blutig gestürzt, sondern gab schlicht klein bei. Alle diese Spannungen, die in Deutschland dadurch bestanden hatten, daß wir im Westen reich und frei und die im Osten arm und unterdrückt gewesen waren, entluden sich in einem kollektiven Freudenrausch.




Ich schiebe eine persönliche Erinnerung ein: Wir hatten über die Jahre der Trennung Kontakt zu Verwandten in der DDR gehalten, so gut es eben ging. Nun auf einmal "durften" sie "reisen". Wir haben sie zu Weihnachten 1989 zu uns eingeladen, und sie uns dann zu Ostern 1990 zu sich.

Für die einen wie die anderen waren es nicht nur bewegende Erfahrungen der neu gewonnenen Gemeinsamkeit, der Möglichkeit von unbehinderten Kontakten; sondern es war auch ein riesiges Staunen.

Die Verwandten gingen durch die Warenhäuser im Westen und konnten nicht fassen, was sie sahen. Sie konnten die Qualität des Straßensystems, den Zustand der Städte nicht fassen, nicht den ganzen für sie unvorstellbaren Luxus, in dem wir im Westen lebten.

Und wir waren, als wir sie dann ein Vierteljahr später besuchten, erschüttert von der Armut, die in der DDR herrschte, von dem jämmerlichen Zustand dieses Landes.

Weder die einen noch die anderen hatten sich die Kluft so groß vorgestellt.




Kaum jemand in der Bundesrepublik hatte sich ein realistisches Bild davon gemacht, in welchem Ausmaß der Kommunismus das Land herunter gewirtschaftet hatte. Das Wort "marode" wurde auf einmal zu einem Modewort.

Allmählich dämmerte es allen, daß dieses Land DDR, das in jeder Hinsicht am Ende gewesen war, nicht innerhalb von fünf Jahren zu "Blühenden Landschaften" werden konnte; wie wir alle es gedacht hatten. Helmut Schmidt galt als großer Pessimist, als er die Zeit bis zur Angleichung der Lebensverhältnisse auf 15 Jahre veranschlagte. Heute wissen wir, daß er selbst er ein zu großer Optimist gewesen war.

Das lag allerdings auch daran, daß sich die unerwartet großen Probleme der Wiedervereinigung mit anderen Problemen verbanden. Wir sind mit dem Jahr 1990 in dem Jahr angekommen, von dem an die Überschrift "Modell Deutschland" immer weniger paßt. Aber nun gut, führen wir die Mini- Historie zu Ende.



Es war schlicht zu viel, was in jenem Jahrzehnt an Problemen - nein, sich nicht einfach addierte, sondern multiplizierte. Denn jedes dieser Probleme machte die anderen schlimmer.

Da stellte sich erstens also heraus, daß die DDR in einem ungleich schlechteren Zustand gewesen war, als selbst die skeptischsten Experten das gewußt hatten. Die Infrastruktur kaum über dem Stand von 1950; die Fabriken durchweg veraltet und nicht konkurrenzfähig; der Staat überschuldet; die Städte verrottet.

Und vor allem: Die Bevölkerung durch sechzig Jahre Diktatur in einem Maß gezeichnet, wie kaum jemand sich das hatte vorstellen können - in ihrer Mehrheit (d.h. mit Ausnahme der Angehörigen der Nomenklatura und des Repressionsapparats auf der einen und dem Häuflein der Dissidenten auf der anderen Seit) überwiegend unselbständig, ängstlich, obrigkeitsgläubig, ohne Selbstvertrauen. Untertanen halt, wie sie jede Diktatur hervorbringt.

Dieses am Boden liegende, rückständige Teil- Land wurde nun durch die Einführung der D-Mark und des Kapitalismus unvorbereitet in die Moderne katapultiert.



In eine Moderne, in der sich die Regeln des ökonomischen Spiels grundlegend zu ändern begonnen hatten. Das nämlich trat zur gleichen Zeit als zweites Problem hervor.

Bis dahin war es so gewesen, daß die Hochlohn- Länder die hochwertigen Waren herstellten und die Niedriglohn- Länder die weniger hochwertigen Waren, die folglich zu billigen Preisen angeboten wurden.

Gewiß, es hatte Ausnahmen gegeben - Korea und Singapur, teilweise auch Japan, hatten anfangs hochwertige Waren zu niedrigen Gestehungskosten angeboten. Aber da das freie Gesellschaften waren, hatten sich die Löhne schnell angeglichen und damit die Produktionskosten.

Jetzt trat aber China auf den Plan und holte in rasendem Tempo zu den Industrienationen auf, was die Fähigkeit anging, hochwertige Güter zu produzieren. Aber nicht, was die Löhne anging, denn eine kommunistische Diktatur kann ihre Untertanen beliebig arm halten.



Also strömten zunehmend hochwertige Güter, vor allem der Elektronik, zu Tiefstpreisen auf den Weltmarkt. Das führte zu einer massiven Anpassungskrise in Europa. In Deutschland traf sie mit den Folgen der Wiedervereinigung zusammen und mit einem dritten, massivem Problem: Der steckengebliebenen Reform des Sozialstaats.

Daß aus vielen Gründen der Sozialstaat nicht so weiter existieren konnte, wie er in den siebziger Jahren ausgebaut worden war, hatte schon ein Jahrzehnt zuvor Otto Graf Lambsdorff in seiner berühmten Denkschrift erkannt; dem "Lambsdorff- Papier", das eine entscheidende Rolle beim Bruch der sozialliberalen Koalition gespielt hatte. Eine Denkschrift von nur 15 Seiten, die nicht nur die damalige Situation brillant analysierte, sondern die auch heute, ein Vierteljahrhundert später, noch aktuell (also höchst lesenswert) ist. (Der Link zu der PDF-Datei findet sich an der verlinkten Adresse).

Es hatte auch gegen Ende der achtziger Jahre zaghafte Versuche zum Gegensteuern gegeben. Aber dann stand die Bewältigung der Wiedervereinigung auf der Tagesordnung. Und die Bewältigung der Globalisierung.

Und vor allem hatte von Mitte der neunziger Jahre an die SPD, gesteuert von dem Taktiker Oskar Lafontaine, mit ihrer Mehrheit im Bundesrat jede Reform blockiert. Die offensichtliche Absicht war es, die Regierung Kohl in eine Lage zu manövrieren, in der sie die Bundestagswahlen 1998 verlieren würde.

Diese Taktik ging auf. Auf die schwierigen acht Jahre nach der Wiedervereinigung folgten die katastrophalen sieben Jahre der rotgrünen Regierung. Anmerkungen dazu im letzten Teil dieser kleinen Serie.