31. Juli 2007

Annette Schavan: Eine Ministerin hat eine Idee

Am vergangenen Wochenende erschien im "Tagesspiegel am Sonntag" ein Interview mit der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan. Sie äußerte sich zur Vorschule, zur Hauptschule, zur Universität. Aber es sind nur zwei Sätze aus diesem Interview, eher nebenher gesagt, die Aufmerksamkeit, ja Aufsehen erregten:
Und ich bin auch davon überzeugt, dass wir in den allermeisten Fächern keine so große Vielfalt von Schulbüchern brauchen. Wo es einheitliche Bildungsstandards gibt, kann ein Schulbuch in ganz Deutschland zur Grundlage von verschiedenen Lehrplänen werden.
Wie kommt diese Bundesministerin dazu, sich über Schulbücher zu äußern?

Das Schulwesen fällt bekanntlich unter die Kultur- Hoheit der Länder. Seltsamerweise haben wir aber dennoch einen Ministerin, die für Bildung zuständig ist. Und weniger seltsamerweise versucht sie, wie alle ihre Vorgänger, das Grundgesetz, sagen wir, auf seine Belastbarkeit zu testen, indem sie sich munter in das Schulwesen einmischt.

Zuständig ist sie so wenig, wie der Bürgermeister von Nieder- Mumbach für die Nahost- Politik der Bundesrepublik zuständig ist. Aber sich Gedanken machen, nicht wahr, das ist ja nicht verboten. Auch nicht einer Ministerin.



Annette Schavan ist die vermutlich Agilste in diesem Amt seit Jürgen W. Möllemann.

Man hat den Eindruck, daß sie sich in den Käfig ihrer fehlenden Kompetenzen eingesperrt fühlt wie weiland Houdini in sein Drahtgestell, das freilich auch noch unter Wasser war. Der Vorhang senkte sich, Houdini rumorte, und schwupps! taucht er frei auf. So würde es, scheint mir, die Annette Schavan auch gern mit der Schulpolitik machen.

Jetzt hat sie, in diesem Interview, sozusagen erst mal eine Hand rausgestreckt. Und hat prompt heftige Reaktionen ausgelöst, die man zum Beispiel in der FAZ und der SZ nachlesen kann.



Bundeseinheitliche Lehrbücher? Welcher Teufel hat diese Ministerin geritten, als sie diesen hanebüchenen Vorschlag in die Welt gesetzt hat?

Wenn ein Lehrer gut ist, dann macht er seinen individuell gestalteten Unterricht. Ihm sind Lernziele vorgegeben, durch die Lehrpläne. Wie er sie erreicht, das muß man ihm, dem guten Lehrer, selbstverständlich überlassen.

Er sollte dieses oder auch jenes Lehrbuch auswählen können. Er sollte die Freiheit haben, vielleicht auch gar kein Lehrbuch zu benutzen, sondern seine Unterrichts- Materialien selbst zu gestalten. Wenn er ein Lehrbuch ausprobiert hat und feststellt, daß die Schüler wenig damit anfangen konnten, dann sollte, dann muß er selbstverständlich das Recht haben, auf ein anderes Lehrbuch umzusteigen.

Es ist schlimm genug, daß sich da die Kultusministerien einmischen. So, als sei den Bürokraten eine Weisheit zugewachsen, die der Lehrer selbst nicht hat.

Aber der Gedanke, daß nun von Flensburg bis Oberpfaffenhofen, von Aachen bis Görlitz alle Schüler ihre Nasen in dasselbe Lehrbuch stecken müssen, weil irgendeine Super- Kultusbürokratie, vielleicht die Konferenz der Kultusminister, das so beschlossen hat - das ist doch ein wahrhaft abwegigiger Gedanke.

Was soll denn einen Lehrer noch motivieren, guten Unterricht zu machen, wenn er noch nicht einmal die Lehrmaterialien selbst aussuchen kann?

Ganz abgesehen davon, daß dann reihenweise die Schulbuch- Verlage, die bei dieser Verteilungs- Lotterie nicht zum Zug kamen, in den Orkus gekippt würden.



Daß überhaupt jemand eine so seltsame Idee äußern kann wie Frau Schavan, wirft ein Schlaglicht auf die kulturelle Situation in Deutschland.

Die Linken rufen nach der Einheits- Schule, in der die Guten und die Schlechten gemeinsam lernen sollen. (Daß davon in Ländern wie den USA, in denen alle in eine High School gehen, keine Rede sein kann, habe ich kürzlich erläutert. Gegen die Vielfältigkeit High Schools ist das deutsche dreigliedrige Schulsystem ausgesprochen egalitär).

Und nun tutet also auch die Konservative Schavan aus demselben Horn: Das Gymnasium nicht abschaffen, aber die Gymnasien vereinheitlichen will sie. Die Lehrer auf Vordermann bringen. Ihnen nicht nur die Lernziele vorgeben, sondern sie auch gleich noch an die Hand nehmen und ihnen den Weg hin zu diesen Zielen weisen.

Jene Annette Schavan, die nie als Lehrerin vor eine Schulklasse gestanden hat, die aber umso mehr Erfahrung mit der Hierachie der Katholischen Kirche hat.



Ja, aber. Ist es denn nicht schlimm, daß ein Kind, wenn die Eltern umziehen, auf einmal ein anderes Lehrbuch vorfindet, ja nach anderen Lehrplänen lernen muß?

Was ist daran schlimm? Auch im Berufsleben muß jeder sich darauf einrichten, mal dies und mal jenes zu lernen. Wer nach der Lehre in eine andere Firma wechselt, kann nicht gut sagen: Aber das habe ich bei XYZ in der Lehre ganz anders gelernt.

Studenten tendieren heute leider dazu, ihr ganzes Studium an derselben Uni zu verbringen. Ich habe an drei Unis studiert, wie es früher einmal selbstverständlich war.

Immer mit neuen Lehrbüchern.

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Zettels Meckerecke: Drübergebrabbelt

Ich hasse diese Sendungen, in denen jemand eine Rede hält, eine Pressekonferenz gibt, in einem Interview auftritt - und über das, was er oder sie sagt, wird in einer anderen Sprache, bei uns Deutsch, drübergebrabbelt.

Man hört dann mehr oder weniger noch das in der Lautstärke heruntergefahrene Original, man hört die Übersetzung. Ich versuche das Original zu verstehen, wenn ich die betreffende Sprache hinreichend beherrsche - ein mühsames Unterfangen. Meist zappe ich dann weg.

Bei Live- Übertragungen mag es nicht anders gehen, als den Simultan- Übersetzer drüberbrabbeln zu lassen.

Das meiste, was gesendet wird, ist aber aufgezeichnet. Warum kann man dann nicht Untertitel laufen lassen, statt dieser Brabbelei? So schnell, wie ein Simultan- Übersetzer live spricht, könnte er auch den Text abhören und die Untertitel in den Rechner eingeben. Jedenfalls fast so schnell. Wenn's mal nicht ganz synchron wird - wen würde das stören?



Der Anlaß für diese Meckerecke ist die absurdeste, die lustigste Drüber- Brabbelei, die ich jemals erlebt habe.

Eben ging eine Pressekonferenz von Condoleezza Rice in Scharm el Scheich zu Ende. In Ägypten also.

CNN begann zu übertragen, Al Jazeera begann zu übertragen. Aber Rice war nicht zu verstehen. Denn das ägyptische Fernsehen bot nur eine Version an, in der ein Arabisch- Dolmetscher drüberbrabbelte. Den Rice-Ton herauszufiltern gelang den Tontechnikern offenbar nicht; es ist vermutlich auch nicht so einfach.

CNN und Al Jazeera reagierten unterschiedlich.

CNN brach die Übertragung nach ein paar Minuten ab und startete eine andere Sendung.

Al Jazeera aber hatte eine pfiffige Idee: Sie ließen über das Drüber- Brabbeln druberbrabbeln.

Als ich von CNN zu Al Jazeera zurückzappte, wußte ich erst gar nicht, was los war: Da sprach Rice, aber man hörte ihre Stimme nur schwach, man hörte eine arabische Stimme, und man hörte das, was Rice sagte, aber mit der typischen gedehnten Sprache eines Simultanübersetzers; und eben mit Männerstimme gesprochen.

Al Jazeera hatte also blitzschnell die Situation erkannt. Wie CNN konnte man den Rice-Ton nicht herausfiltern. Also ließ man einen Simultan- Dolmetscher das, was ein ägyptischer Simultan- Dolmetscher aus dem Englischen ins Arabische übertrug, wieder ins Englische übertragen. Wenn man genau hinhörte, dann vernahm man drei Texte, einander überlagernd: Ganz leise Rice, lauter der erste Simultan- Dolmetscher, und darüber ganz laut der zweite.

Sehr putzig. Aber gut reagiert. Wie überhaupt Al Jazeera ein ungemein wacher, ein ungemein schneller Sender ist.

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30. Juli 2007

Zettels Meckerecke: Alles in Butter? Was für ein Quark!

Die Bauern der EU sind, dank moderner Agrartechnik, in der Lage, mehr Milch, Eier, Fleisch, Obst und Gemüse zu produzieren, als wir EU-Bürger essen können; selbst wenn wir alle der Völlerei verfallen würden.

Infolgedessen würden "Schweineberge", "Butterberge", "Milchseen" usw. entstehen, wenn nicht eine fürsorgliche Bürokratie in Brüssel, samt den vielen Agrarministern der einzelnen Staaten, etwas dagegen tun würden.

Sie tun Verschiedenes:

Zum einen versuchen sie, den Bauern das Nicht- Produzieren schmackhaft zu machen. Flächen- Stillegungs- Prämien werden gezahlt, Abschlacht- Prämien. Es gibt Geld dafür, nicht oder weniger zu produzieren.

Zweitens kauft man den Bauern ihr Produkt ab, um es dann ungenießbar zu machen. Wein wird beispielsweise zu Industrie- Alkohol verarbeitet.

Drittens kann man den Bauern Quoten verordnen, wie die Milchquote. Die Quote wird dem Bauern zu einem garantierten Preis abgekauft. Wer mehr produziert, muß sehen, wo er mit seinem Produkt bleibt.

Sodann wird aufgekauft und eingelagert. Und andere Maßnahmen mehr.

Aber nicht nur das. Sondern die Produktion, die niemand braucht, wird auch noch subventioniert. Das muß sein - so heißt es -, weil nur dadurch die EU-Bauern trotz ihrer hohen Produktions- Kosten mit den billig erzeugten Produkten anderer Weltgegenden konkurrieren können.

Die französischen Weinbauern des Languedoc zum Beispiel erhalten EU-Mittel dafür, auf Riesenflächen billigen Wein anzubauen, für dessen Vernichtung - dh seine Umwandlung zu Industrie- Alkohol - dann wiederum EU-Mittel eingesetzt werden. Insgesamt 48,47 Milliarden Euro werden aktuell von Brüssel als Subventionen ausgeschüttet.



Das alles hätte ich aber besser im Imperfekt geschrieben. Denn wir erleben gegenwärtig auf dem Agrarmarkt eine drastische Wende. China und Indien sind im Begriff, so reich zu werden, daß sie auch europäische Agrarprodukte bezahlen können.

Infolgedessen steigen - endlich! - auch in der EU die Agrarpreise. Jedenfalls zunächst auf dem Markt für Milch und Milchprodukte.

Wenn wir Glück haben, dann zahlen wir für ein Pfund Butter, für einen Liter Milch vielleicht bald das, was diese Produkte wert sind; dh die Produktionskosten plus einen angemessenen Gewinn für Produzenten und Händler. Die Subventionen könnten dann abgebaut werden; wir würden alle davon profitieren, weil wir weniger Steuern zu zahlen brauchten.



Aber da haben wir die Rechnung ohne die Politiker gemacht. Kaum zeichnet sich ab, daß es zumindest für Milch und Milchprodukte so etwas wie einen freien Markt und angemessene Preise kommen könnte, da ertönt unisono das Wehgeschrei von Politikern - von den Grünen über die SPD bis zur CSU; allen voran natürlich der Ober- Populist Horst Seehofer.

Warum? Nun, einmal macht es sich natürlich immer gut, gegen Preissteigerungen zu sein und der Industrie, dem Handel sicherheitshalber erst einmal "Unverschämtheit" und dergleichen zu unterstellen. Daß die den Kleinen Mann ausnehmen, das weiß ja jeder Klippschüler.

Und zweitens würde eine Liberalisierung des Agrarmarkts natürlich auch die Macht der Agrar- Bürokratie empfindlich beschneiden. Alle die schönen Direktiven, Verordnungen, Durchführungs- Verordnungen, Erlasse und Antragsverfahren - vielleicht bald alle überflüssig?

Gemach, ihr Bürokraten. So schlimm wird es schon nicht kommen.

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So macht Kommunismus Spaß (5): Terrorismus der RAF, Terrorismus der Dschihadisten.

In "Welt-Online" steht im Augenblick ein sehr lesenswertes Interview mit der Tochter des vor dreißig Jahren, am 30. Juli 1977, von deutschen Terroristen ermordeten Bankiers Jürgen Ponto, Corinna Ponto. Darin sagt sie:
Eines Tages werden die Täter der RAF, wie auch der ETA, der Action directe und ihre Sympathisanten damit leben müssen, dass sie vor der Geschichte die ersten Formen, die nationalen Anfänge des inzwischen weltweiten Terrorismus gebildet haben.
Als ich im dritten Teil dieser Serie erörtert habe, warum heute der RAF-Terrorismus wieder so sehr in den Medien präsent ist, habe ich auf diesen Zusammenhang hingewiesen: Was damals ein paar Dutzend Verbrecher begonnen haben, das ist heute ein weltweites, uns alle bedrohendes Phänomen geworden. Man interessiert sich wieder für den RAF- Terrorismus, so habe ich argumentiert, weil er dem gegenwärtigen so ähnlich ist.

Jetzt möchte ich diese Überlegungen fortsetzen; aber diesmal mit Hinweis auf Unterschiede zwischen dem damaligen und dem heutigen Terrorismus.



Da ist erstens der Modus Operandi.

Die RAF ermordete, ebenso wie die Brigate Rosse, am liebsten einzelne Menschen.

Mal jagte man das Opfer in die Luft, wie Herrhausen. Mal knallte man es nieder, wie Buback und Ponto. Mal ließ man jemanden wochenlang leiden, bevor man "seiner kläglichen und korrupten Existenz ein Ende" machte. So stand es in einem "Bekennerschreiben", wie die Mitteilungen der Mörder verniedlichend genannt werden. Ein Ende durch Genickschuß, das hatte man sich für Schleyer einfallen lassen.

Also, die RAF war sehr erfindungsreich, was die Art anging, wie sie ihre Opfer zu Tode beförderte. Aber es waren einzelne Opfer. Die "Zielperson", ihre Begleiter, ihr Fahrer.

Die heutigen islamistischen Terroristen lieben das zwar auch; sie köpfen dann schon mal denjenigen, den sie in ihre Gewalt gebracht haben, statt ihn ins Genick zu schießen; kein sehr großer Unterschied.

Aber vor allem lieben sie das große Spektakel, die modernen Terroristen. Normale Bürger, sozusagen vom Baby bis zum Greis, sind ihre bevorzugten Opfer, und immer gleich möglichst viele davon. So weit war die RAF noch nicht gekommen.

Daß Menschen aus der gesamten Bevölkerung zu Opfern werden würden, das lag freilich auch in der Konsequenz der Strategie der RAF. Dazu gleich mehr.



Ein zweiter - der wesentliche - Unterschied scheint mir darin zu bestehen, daß die heutigen Dschihadisten sozusagen ernsthafte, realitätsbezogene Mörder sind, während die RAF-Mörder im Grunde aus einem Wahn heraus zu Verbrechern wurden.

Die Dschihadisten führen einen blutigen Krieg mit allen Konsequenzen, für sich, für andere. Es ist ein richtiger Krieg. Ein asymmetrischer Krieg, der sozusagen in unsere Zeit paßt.

Die Terroristen sind Teil einer weltweiten Bewegung, die immerhin bereits einen Staat erobert hatte, die weltweit unzählige Unterstützer und Sympathisanten hat. Die, dank der "Spenden" u.a. aus Saudi- Arabien, über nahzu unbegrenzte Geldmittel verfügt. Die im System der Madrasas in Westpakistan inzwischen eine schlagkräftige Vorfeld- Organisation hat, die ihr ständig neue, ideologisch bereits indoktrinierte Mitglieder zuführt.

So abscheulich, so verbrecherisch dieser Terrorismus ist: Er ist doch ein realistisches Unternehmen. Die Mörder wissen, was sie wollen. Und sie haben Chancen, es zumindest partiell zu erreichen. Wenn die USA nach den nächsten Präsidentschaftswahlen überstürzt aus dem Irak abziehen, dann ist ein von der El Kaida errichtetes Kalifat in einem Teil des Irak keineswegs eine Utopie.




In dem Film Black Box BRD äußern sich Eltern und Freunde ausführlich über den Terroristen Wolfgang Grams, der in Bad Kleinen ums Leben kam. Er wird als ein sozial engagierter, nachdenklicher und intelligenter junger Mann geschildert, der zur RAF kam, weil er unbedingt "etwas tun" habe wollen gegen das Unrecht in der Welt.

Als ich den Film gesehen habe, kam mir das umso bizarrer vor, je mehr dieses positive Bild von Grams sich entfaltete. Nicht, weil ich es den Gewährsleuten nicht abnehmen würde, daß Grams so gewesen ist. Sondern weil ich mich gefragt habe: Was in aller Welt wollte ein Mensch wie Grams damit erreichen, daß er sich entschloß, "etwas zu tun"?

Welches waren denn überhaupt die politischen Ziele der RAF? Was war ihr Gegenstück zu dem Ziel der Dschihadisten, das Kalifat zu errichten?

Welche Schritte zu diesem Ziel plante die RAF? Vergleichbar der Strategie der Dschihadisten, Länder wie Afghanistan und den Irak zu erobern und dort die Keimzellen des Kalifats zu schaffen, flankiert von Terroranschlägen in westlichen Ländern, um diese vom Eingreifen abzuhalten?



Es gibt, von einigen kleineren Schriften abgsehen, nur zwei Texte, in denen die Ziele und die Strategie der RAF dargestellt wurden.

Der eine trägt den Titel "Das Konzept Stadtguerrilla" und stammt von Ulrike Meinhof. Der andere, "Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa", wurde 1971 von Horst Mahler im Gefängnis verfaßt und unter der Tarnbezeichnung "Neue Straßenverkehrsordnung" herausgeschmuggelt. Später hat Wagenbach ihn als Rotbuch 29 veröffentlicht.

Also, wenn man wissen will, was denn "die RAF eigentlich wollte", dann ist man auf diese beiden Texte aus der Frühzeit angewiesen; der eine verfaßt von einer Autorin, die schon bald völlig an den Rand der Gruppe geriet, der andere von einem Autor, der heute ein Anführer der Rechtsextremen ist.

Nicht eben viel; nicht eben eine gute Quellenlage, wenn man wissen will, wofür diese Leute eigentlich Menschen gequält, zerfetzt, ins Genick geschossen haben.



Was steht in diesen beiden Texten? Sie sind einander sehr ähnlich; nur ist der von Mahler ausführlicher. Beide sind orthodox- kommunistisch. Die Argumentation wird von Lenin und von Mao her aufgebaut; es geht den Autoren darum, nachzuweisen, daß ihre Strategie streng den Anweisungen dieser Meister der Revolution folgt.

Das Ziel ist die kommunistische Revolution. Dazu muß man eine revolutionäre Situation schaffen; und die soll eben unter anderem durch Mordanschläge herbeigeführt werden. Mahler konkretisiert das mehr als Meinhof:
In der Anfangsphase bilden sich dezentralisiert und unabhängig voneinander einzelne Partisanengruppen, die Kommandoaktionen unternehmen. (...) Wenn die Kommandos taktisch richtig vorgehen, werden sie erreichen, daß die Unterdrückungskräfte, insbesondere die Polizei das System der Einzelstreifen in den Wohngebieten (Revieren) aufgeben müssen und sich nur noch in kampfstarken Gruppen bewegen können (...) Die Guerilla wird in der Lage sein, nach ihrer eigenen taktischen Wahl ausreichende Kräfte - ausgerüstet mit automatischen Waffen - zu konzentrieren, die derartige Patrouillen erfolgreich angreifen können. (...) Sowenig der Staat in der Lage ist, hinter jeden Arbeiter einen Gendarmen zu stellen, sowenig ist er in der Lage, jeden einzelnen Kapitalisten, Regierungsbeamten, Richter, Offizier usw. mit einem bewaffneten Posten zu schützen. (...) Gleichzeitig muß durch geeignete Aktionen der Guerilla das Privileg der Straflosigkeit für die Funktionsträger des staatlichen Unterdrückungsapparates beseitigt werden.
Und so weiter. Entworfen wird das Szenario des allmählichen Aufbaus einer kommunistischen "Gegenmacht", wie sich das ja im Vorfeld des Vietman- Kriegs in der Tat abgespielt hatte.



Nur, seltsam - wie man, von diesem Szenario ausgehend, zur kommunistischen Revolution kommen will, darüber findet sich in keiner der beiden Schriften auch nur ein einziges Wort.

Wohlüberlegt, scheint mir. Denn es liegt doch auf der Hand, daß der Staat diese Guerilla- Spielerei nicht so hätte gewähren lassen, wie damals die meisten Hochschulrektoren die Revoluzzer- Spielerei der "Roten Zellen" gewähren ließen.

Meinhof und Mahler muß es natürlich klar gewesen sein, daß diese von ihnen entworfene Strategie, sollte sie denn funktionieren, unweigerlich in einen Bürgerkrieg hätte führen müssen. Vielleicht träumten sie davon, so weit zu kommen wie 1920 die Rote Ruhrarmee oder die kommunistische Armee des Max Hölz in Sachsen.

Daß dann den Revolutionären zwar keine Freicorps, aber die Bundeswehr, wenn nötig vielleicht die US-Streitkräfte entgegentreten würden, das dürften Meinhof und Mahler verstanden haben. Sie hatten ja am Beispiel des Vietnam- Kriegs gerade erst gesehen, welche entsetzlichen Opfer - gerade auch unter der Zivilbevölkerung - der Guerillakrieg kostet, wie sie ihn herbeibomben wollten.



Sie wollten dieses Blutvergießen offensichtlich. Die Ermordung von einzelnen Personen sollte der erste Schritt sein; so etwas wie eine Initialzündung.

Als es richtig losging mit dem Morden, da waren sie allerdings nicht mehr dabei, die beiden Theoretiker und Strategen.

Beide waren Intellektuelle, die sich in Militärisches hineinträumten, die sich Gewaltphantasien hingaben; Phantasien, die angesichts der friedlichen, von Willy Brandt regierten Bundesrepublik, in der kein Arbeiter an Revolution und Bürgerkrieg dachte, wahnhaft waren.

Als die RAF dann in großem Stil zu morden anfing, da war es vorbei mit den programmatischen Schriften. Wollte man überhaupt noch irgend etwas, außer Herumballern, Bonnie und Clyde spielen, sich am Besitz einer Knarre ergötzen, die eigenen Leute aus dem Knast holen wie weiland Zorro seinen Vater?

Jedenfalls habe ich darüber nichts finden können, was diese zweite, was die dritte "Generation" der deutschen Terroristen überhaupt politisch wollte. Immer noch den Bürgerkrieg, und am Ende die Errichtung der Diktatur des Proletariats? Wenn nicht, was dann?

Alle aus der RAF, die sich öffentlich zu ihrer Vergangenheit zu erklären versucht haben - Boock, Dellwo, Jünschke, Grashof, Mayer-Witt - , haben dazu, soviel ich weiß, kein Wort gesagt. Sie reden vom Vietnam- Krieg, vom "Kampf gegen den Imperialismus". Nicht davon, welche Lage in der Bundesrepublik sie denn herbeibomben und herbeischießen wollten.



Und das ist eben der Unterschied zu den heutigen Dschihadisten. Diese wissen, was sie wollen. Sie halten - zu Recht - die Errichtung des Kalifats für realistisch.

Die RAF hatte anfangs ein Ziel und eine Strategie, die ungefähr so realistisch waren wie der Versuch, das Hippie- Paradies Christiania im Zentrum des Teheran Ahmadinedschads wieder aufzubauen. Dann, so scheint es, verschwand diese Fata Morgana. Was blieb, was Dutzenden von Menschen das Leben gekostet hat, das war die Kriminalität von Desperados.

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Marginalie: Worte des Tages

"Die Alternative zu Lafontaine lautet Seriosität und menschlicher Anstand."
Erhard Eppler

"Wir sollten ihn nicht dämonisieren. Er ist viel kleiner, als man denkt."
Siegmar Gabriel, ebenfalls über Oskar Lafontaine.



Übrigens: Auf dem Mannheimer Parteitag wählten die Delegierten der SPD am 16. November 1995 Oskar Lafontaine mit 321 Stimmen (gegen nur 190 Stimmen für dem amtierenden, von den Mitgliedern in Urwahl bestimmten Vorsitzenden Rudolf Scharping) zu ihrem Vorsitzenden.

Und zwar aufgrund eine Rede, in der Lafontaine exakt so schwadronierte wie heute: "Die Sekretärinnen, die Krankenpfleger, die Facharbeiter zahlen brav ihre Steuern, und die höheren Einkommen haben so viele Abschreibungsobjekte, dass Millionäre stolz sind, sich zu brüsten, dass sie keinen Pfennig Steuern zahlen - wie soll denn da das Vertrauen in unseren Staat noch gegeben sein?" Näheres hier.

Lafontaine war nie anders als jetzt. Und just deshalb hat die SPD ihm zugejubelt. Solange er einer der ihren war.

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29. Juli 2007

Ketzereien zum Irak (17): Hoffnungen auf nationale Einheit

Vor wenigen Minuten war in Djakarta Anstoß zum Endspiel der Asien- Meisterschaft im Fußball.

Al Jazeera berichtet ständig. Nicht nur aus sportlichem Interesse, sondern auch deshalb, weil dem Traditions- Meister Saudi- Arabien der Irak als Gegner gegenübersteht.



Eben meldet sich die Kurdistan- Korrespondentin von Al Jazeera, Hoda Abdel- Hamid. Sie sagt, zum ersten Mal seit langer Zeit wehten in Kurdistan Flaggen des Irak (die dort normalerweise sogar verboten seien!). Bilder im Hintergrund zeigen das Stadion von Kirkuk, fast gefüllt für die Video- Übertragung, und in der Tat sieht man überall die irakische Nationalfahne.

Auch die Kurden würden sich in dieser Situation als Iraker fühlen, sagt Frau Abdel- Hamid.

Die Nationalmannschaft setzt sich aus sunnitischen und schiitischen Arabern und Kurden zusammen. Schon bei ihren vorausgehenden Siegen gab es eine Welle nationaler Begeisterung. Zuerst bin ich durch den Blog "Iraq the Model" darauf aufmerksam geworden; das war, als der Irak Vietnam besiegt hatte. Jetzt ist man also im Endspiel.

Für den Fall eines Siegs wird ein Freudenfest auf den Straßen der irakischen Städte erwartet. Für Bagdad wurde präventiv ein Fahrverbot für alle Fahrzeuge verhängt, das eine halbe Stunde vor Anstoß des Spiels in Kraft tritt.

Natürlich wird befürchtet, daß Terroristen die Straßenfeste für blutige Anschläge "nutzen" werden.



Was ist eine solche Welle nationaler Einigkeit - vergleichbar dem deutschen Sommer 2006 - wert? Pessimisten sagen natürlich, daß das ein Kräuseln an der Oberfläche ist, das nichts an den tieferliegenden Problemen ändern kann. So wenig, wie die Euphorie des Sommer 2006 in Deutschland Arbeitsplätze geschaffen oder die Integration von Einwanderern erleichtert hat.

Aber hat sie nicht vielleicht?

Mir erscheint die Vermutung nicht unvernünftig, daß der Aufschwung der deutschen Wirtschaft durch den Optimismus jener Wochen einen zusätzlichen Schub bekommen hat; obwohl das schwer meßbar sein dürfte.

Mir scheint auch, daß es die Integration von Einwanderern sehr wohl befördert haben könnte, daß sie gemeinsam mit eingesessenen Deutschen die deutsche Fahne schwangen und für unsere Mannschaft zitterten. Auch das ist natürlich kaum objektiv zu bestätigen.



Solch ein psychologischer Effekt wird sich sicherlich nie gegen einen objektiven Trend durchsetzen können. Aber einen positiven Trend, wenn er schon existiert, verstärken, ihn stabilisieren - das könnte er vielleicht schon.

Gibt es denn im Irak solche einen objektiven Trend? Ja.

Uns erreichen ja, warum auch immer, fast nur negative Nachrichten aus dem Irak. Es ist, als gebe es einen Medien- Filter, der jede noch so klitzekleine Meldung über eine Bombe, eine Regierungs- Krise passieren läßt und in dem alles, was es aus dem Irak Positives zu melden gibt, auf magische Weise hängenbleibt.

Im Augenblick nun gibt es eine sehr große Hoffnung auf eine Wende zum Besseren auf Regierungs- Ebene, auf eine Entwicklung hin zu einer stärkeren nationalen Einheit.



Ende vergangenen Jahres habe ich über einen Blogbeitrag von Omar berichtet, in dem dieser argumentierte: Vorläufig noch sind im Irak die gemäßigten Schiiten Gefangene ihrer extremisten Bundesgenossen, und die gemäßigten Sunniten sind ebenso von von den sunnitischen Terroristen und ihren Sympathisanten abhängig. Das verhindert eine vernünftige Zusammenarbeit der Demokraten im Irak.

Seither haben sich die Verhältnisse positiv entwickelt, und gerade in diesen Tagen zeichnet sich eine weitere Chance für eine Wende zum Besseren ab.



Die bewaffneten Schiiten unter Sadr haben die Regierung inzwischen verlassen; Maliki hat sich weitgehend aus der Abhängigkeit von ihnen lösen können.

Eine parallele Entwicklung zeichnet sich jetzt bei den Sunniten ab. Und zwar im Rahmen einer Entwicklung, die auf den ersten Blick nur krisenhaft erscheint.

Aber eine Krise - ein Wendepunkt also, wörtlich übersetzt - kann eben auch Gutes mit sich bringen.

Das Negative steht im Titel des Berichts der "International Herald Tribune": Präsident Talabani und die Regierung kritisieren die Drohung der sunnitischen "Einigungs- Front" (Accordance Front), die Regierung zu verlassen.

Aber weiter unten in dem Artikel erfährt man, daß das sich am Ende als ein großer Fortschritt erweisen könnte.

In dieser "Einigungs- Front" sind nämlich zwei extremistische Parteien und eine gemäßigte, die "Irakische Islamische Partei" von Vizepräsident Tariq al-Hashemi.

Wenn die "Einigungs- Allianz" ihre Drohung wahrmacht und die Regierung verläßt, dann könnte die "Irakische Islamische Partei" in die Regierung zurückkehren.

Und zwar als Teil einer Regierung der Demokraten, unter Ausschluß aller Extremisten, an der derzeit gearbeitet wird. Vor allem Talabani bemüht sich um eine solche neue Regierung. Sie soll, nach Talabanis Vorstellungen, aus zwei gemäßigten schiitischen, zwei gemäßigten kurdischen Parteien und eben der sunnitischen "Irakischen Islamischen Partei" bestehen.

Dann hätte der Irak zum ersten Mal eine Regierung, die weder auf der einen noch auf der anderen Seite von Extremisten abhängig wäre. Nicht mehr angewiesen auf Abgeordnete, die Verbindungen zum Terrorismus haben.

Eine Regierung, die damit endlich ohne Rücksichten gegen den Terrorismus vorgehen könnte.

Gute Nachrichten also. Jetzt müßten die "Löwen der beiden Flüsse" nur noch Asien- Meister werden.



PS: Der Sender "El Iraqia" überträgt das Spiel. Es ist jetzt genau eine Viertel Stunde gespielt, und es steht noch 0:0. Im "Kleinen Zimmer" gibt's ab jetzt einen kleinen Live- Ticker.

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28. Juli 2007

TV-Tip für zeitgeschichtlich interessierte Nachteulen: Ein Film über den Terroristen Klein

Heute um 23.15 wiederholt Phoenix den besten Dokumentarfilm, den ich zum Thema Terrorismus der siebziger Jahre kenne: "Ein deutscher Terrorist. Die Geschichte des Hans-Joachim Klein" von dem niederländischen Dokumentarfilmer Alexander Oey.

Klein entstammt der Frankfurter "Putztruppen"- Szene, zu deren Anführern Joschka Fischer gehörte. Er schildert im ersten Teil des Films die Mentalität, die Methoden dieser Leute, die z.B. im Wald bei Frankfurt regelrecht trainiert haben, wie man Polizisten Verletzungen zufügt.

Er geriet dann in die eigentliche Terroristen- Szene, in die Gruppe um "Carlos", war am Überfall auf OPEC-Angehörige in Wien beteiligt und sagte sich dann vom Terrorismus los. Er lebte dann lange im Untergrund in Frankreich.

Seine Geschichte ist bekannt. Nicht bekannt waren mir viele Einzelheiten, die Klein in dem Film erzählt, und die einen Einblick in die Denkweise, in die Gefühlskälte, in das paranoide Weltbild dieser Terroristen geben.



Klein wirkte auf mich zunächst, auch durch seine langsame Sprechweise und seinen hessischen Akzent, etwas "schlicht gestrickt". Je länger ich den Film gesehen habe, umso mehr wuchs meine Achtung für diesen Mann, der sich gegen den immensen Druck seiner Gruppe behauptet hat, der sich geweigert hat, ganz zum Verbrecher zu werden, der dafür sein Leben aufs Spiel gesetzt hat.

Der Film ist bester Dokumentarfilm. Der Regisseur drängt uns keine Meinung auf. Er manipuliert nicht durch Schnitte, durch Tricks à la Michael Moore. Sein Ziel ist es offensichtlich, Klein so authentisch zu Wort kommen zu lassen, wie das nur geht.

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Marginalie: Ein Geistlicher lobt "eine der besten Handlungen, die es je gab"

Aus der aktuellen Online-Ausgabe der "Gulf News" mit Sitz in Dubai:
Tehran: A senior Iranian cleric praised yesterday the country's judiciary for executing 16 men convicted for various offences including rape and kidnapping.

"The execution of those [convicts] was one of the best ... political and cultural actions that has ever taken place," Ayatollah Ahmad Jannati, a conservative cleric who heads the constitutional watchdog the Guardian Council told Friday prayer worshippers in Tehran.

Teheran. Ein führender iranischer Geistlicher lobte gestern die Justiz des Landes für die Hinrichtung von 16 Männern, die wegen verschiedener Verbrechen wie Vergewaltigung und Entführung verurteilt worden waren.

"Die Hinrichtung dieser [Häftlinge] war eine der besten ... politischen und kulturellen Handlungen, die es je gab", äußerte Ayatollah Ahmad Jannati, ein konservativer Geistlicher, der der Überwachungs- Organisation "Wächterrat" vorsteht, gegenüber Gläubigen beim Freitagsgebet.
Im Sommer geht die Polizei regelmäßig gegen "unmoralisches Verhalten" vor. In den vergangenen Wochen sind Dutzende Menschen wegen dieses "Delikts" - zum Beispiel "unislamische Kleidung" - ins Gefängnis gekommen.

Der Generalstaatsanwalt Saeed Mortazavi erklärte im Staatsfernsehen, daß 17 weitere Personen, die bei dieser Aktion verhaftet wurden, demnächst hingerichtet werden.

Dazu noch einmal der Ayatollah Jannati: "Solche Aktionen sollten sich wiederholen, und die Menschen sollten sie unterstützen und sie verfolgen."

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27. Juli 2007

Rudy Giuliani: Mehr als ein Law-and-Order-Mann

Er hat mit seiner Politik der zero tolerance New York zu einer der sichersten Großstädte der Welt gemacht. Er hat sich nach dem Angriff vom 11. September mustergültig verhalten; den geschockten New Yorkern wieder Mut und Zuversicht gegeben, den Wiederaufbau organisiert.

Er wäre, falls er zum Präsidenten gewählt werden würde, der Garant dafür, daß Präsident Bushs erfolgreicher Kampf gegen den Terrorismus, der nach dem 11. September keinen einzigen weiteren Angriff auf die USA zugelassen hat, fortgeführt wird.

So kennt man ihn, Rudy Giuliani, den Law-and-Order- Mann. Aber das ist vielleicht nicht das, was seine wahre politische Bedeutung ausmacht.



In der letzten Sonntagsausgabe der "Los Angeles Times" schreibt Ronald Brownstein über "Giuliani, the federalist candidate".

Der Begriff "federalist" hat in der amerikanischen Verfassungs- Geschichte eine zentrale Bedeutung: Die "Federalist Papers", hauptsächlich verfaßt von Alexander Hamilton und James Madison, begleiteten die Ratifizierung der amerikanischen Verfassung in den Jahren 1787 und 1788. Nirgends wurden damals die Prinzipien einer liberalen, aus der Aufklärung hervorgegangenen Verfassung so eingehend und so hellsichtig diskutiert.

Im Zentrum stand für die beiden Autoren der Föderalismus; deshalb der Name dieser Artikelserie. Denn nur Föderalismus garantiert Freiheit, indem er vor der Tyrannei des - wie man heute sagt - Big Government bewahrt. Herrscht, wie in den USA, Freizügigkeit zwischen den Staaten, dann kann sich kein Staat eine schlechte Politik, erst recht nicht die Unterdrückung seiner Bürger leisten: Sie liefen ihm davon, so wie der DDR "unsere Menschen", sobald sie konnten.



Giuliani geht, schreibt Brownstein, hauptsächlich als Kämpfer gegen den Islamismus ins Rennen um die republikanische Präsidentschafts- Kandidatur.

But his most innovative domestic idea casts him as a peacemaker on the social issues that have divided the nation since the 1960s.
Aber seine innovativste innenpolitische Idee weise ihn als jemanden aus, der die Nation in Bezug auf die Streitfragen versöhnen könne, die sie seit den sechziger Jahren gespalten hätten.

Diese "innovative" Idee nun ist freilich eine uralte - eben die Idee des Föderalismus.

Giuliani schlägt etwas vor, was wir hier in Deutschland ja gerade in einer Mickey- Maus- Ausgabe als "Föderalismus- Reform" hinter uns haben: Eine großangelegte Verlagerung der Kompetenzen. Und zwar durchweg von der Bundesregierung in Washington weg, hin zu den einzelnen Bundesstaaten.



Die Nation, argumentiert Giuliani, sei nun einmal in vielen Fragen fundamental verschiedener Meinung; von der Abtreibung über die Homosexuellen- Ehe bis zur Waffengesetzgebung. Das führt zu einem ständigen Kampf um die Vorherrschaft, solange die Entscheidungen allein in Washington fallen.

Warum, fragt Giuliani, sollen das nicht die einzelnen Bundesstaaten entscheiden? Die konservativen Staaten eine konservative Lösung bevorzugen, die (im amerikanischen Sinn) liberalen eine liberale Lösung? Das würde die Spannungen mindern, es würde damit, indem es die Vielfalt anerkennt, die Nation enger zusammenführen.

Giuliani selbst ist zum Beispiel für das Recht auf Abtreibung eingetreten und gegen die Homosexuellen- Ehe. Aber warum, sagte er in einem Interview, sollten nicht einzelne Bundesstaaten die Homosexuellen- Ehe erlauben und andere die Abtreibung unter Strafe stellen?



Nicht nur solche ideologisch geprägten Streitfragen möchte Giuliani gern entschärfen, indem er die Kompetenzen auf die Bundesstaaten überträgt. Auch im Gesundheitswesen könne, sagt er, den Staaten freigestellt werden, wie sie das System gestalten. Einzelne Bundesstaaten sollten "experimentieren" können; erfolgreiche Modell könnten dann ja von anderen übernommen werden. Auch die Maßnahmen gegen den Treibhaus- Effekt möchte Giuliani gern den Staaten überlassen.

Natürlich gibt es, sagt er, Grenzen des Föderalismus. Er ist zum Beispiel dafür, den von Präsident Bush eingeführten einheitlichen Schultest beizubehalten. Sollten die Bundesstaaten mit ihrer Waffengesetzgebung nicht erfolgreich sein, dann schließt er auch dort eine bundeseinheitliche Regelung nicht aus.



Ich ahne, daß mancher Leser das mit innerem Kopfschütteln zu Kenntnis genommen haben wird. Jakobinisches Denken, das im Staat, zumal im Zentralstaat, einen Wert an sich sieht, ist in Deutschland weit verbreitet, wenn auch nicht ganz so tief verwurzelt wie in Frankreich. Liberale machen da keine Ausnahme.

Aber recht bedacht, scheinen mir die Ideen Giulianis doch sehr viel für sich zu haben. Und wir Europäer sollten sie bedenken, wenn unsere Brüsseler Regierenden versuchen, bis hin zur Vermietung von Wohnungen, bis zur Einstellung von Mitarbeitern in unser Leben hineinzuregieren.

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Hinweis: "Der Weg zur liberalen Gesellschaft"

Unter diesem Titel hat Libero in "Zettels kleinem Zimmer" einen sehr interssanten Beitrag geschrieben, dem ich viele Leser und vor allem viele Kommentare wünsche.

Hurricans und globale Erwärmung - ein modernes Märchen?

Erinnnern Sie sich noch? Als vor knapp zwei Jahren New Orleans von der "Katrina"- Katastrophe betroffen war, reagierten viele Deutsche, vor allem aus dem rotgrünen Spektrum, nicht primär mit Mitleid mit den Opfern.

Sondern sie nahmen die Katastrophe zum Anlaß, auf die USA wegen ihrer angeblich schlechten Klimapolitik einzuprügeln. Die englische Ausgabe von "Spiegel-Online" hat damals einige dieser Stimmen zusammengestellt.

Einmal abgesehen vom arroganten Stil dieser Wortmeldungen, einmal abgesehen davon, daß aus Deutschland zwar viel Gerede kam, aber wenig Spenden für die Opfer - davon also abgesehen: Stimmt denn überhaupt die Voraussetzung, daß Katrina, daß überhaupt Hurricans irgend etwas mit Klimawandel zu tun haben?



Im gestrigen "Wall Street Journal" steht dazu ein Artikel von William Gray, Emeritus des Department of Atmospheric Science der Colorado State University.

An dieser Universität erforscht seine Arbeitsgruppe seit Jahrzehnten die Ursachen für Hurricans. Seit 24 Jahren gehört er zu den Experten, die jährliche Hurrican- Vorhersagen für das Atlantik- Becken erarbeiten.

Am 3. August wird er zusammen mit seinem Kollegen Phil Klotzbach eine aktualisierte Vorhersage vorlegen. Sie wird für 2007 eine überdurchschnittliche Zahl von Hurricans vorhersagen.



Denn es gibt seit 1995 eine verstärkte Hurrican-Aktivität in der Karibik. Katrina war ein Beispiel dafür.

Aha, kurzschließen Menschen, die von Klimatologie wenig, von Ideologie aber umso mehr verstehen - also ist es doch die globale Erwärmung, die für die Zunahme der Häufigkeit von Hurricans ist. Denn auch die hat ja auch seit ungefähr 1995 zugenommen.

Und wenn man - siehe den oben verlinkten Artikel damals in "Spiegel-Online" - nicht nur Ideologe ist, sondern auch noch so arrogant wie der damalige Minister Trittin, dann kriegt man von da leicht die Kurve zum USA bashing.



Professor Gray sieht das anders. Verantwortlich für die momentane Zunahme der Hurricans ist, schreibt er, das Salz im Ozean. Jawohl, das Salz.

Seine Argumentation geht so:

Zunächst einmal weist er nach, daß wir zwar seit 1995 eine Periode verstärkter Hurrican- Aktivität haben, daß das aber keineswegs einen langfristigen Trend ausdrückt. Von 1957 bis 2006, also in einer Periode vermutlicher globaler Erwärmung, trafen die USA 83 Hurricans, davon 34 schwere. In der Periode von 1900 bis 1949 gab es aber 101 Hurricans, darunter 39 schwere. Nicht die Spur eines Trends hin zu mehr oder schwereren Hurricans.

Wohl aber Hinweise auf eine zyklische Veränderung. Von den vierziger bis zu den sechziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts gab es eine ähnliche Zunahme wie jetzt seit 1995. Perioden geringer Hurrican-Aktivität waren 1970-1994 und 1900-1925.



Das begründet die Hypothese, daß andere, sich ebenfalls zyklisch ändernde Faktoren für die Hurrican-Aktivität (mit)verantwortlich sein könnten.

Als den entscheidenden Faktor sieht Professor Gray den Salzgehalt des Atlantik an.

Aufgrund dieses - im Atlantik wegen seiner Landbegrenzungen besonders hohen - Salzgehalts gibt es eine Oberflächenströmung warmen Wassers nach Norden, wo es sich abkühlt, absinkt und als Tiefenströmung nach Süden zurückkehrt. Das ist die thermohaline Zirkulation (THC). Je stärker sie ist, umso mehr Luftzirkulation gibt es über dem Atlantik, deshalb umso mehr Hurricans.

Diese THC unterliegt nun Schwankungen aufgrund natürlicher Variationen im Salzgehalt des Atlantik.

Und siehe - schreibt jedenfalls Gray - : Perioden verstärkter THC korrelieren mit Perioden erhöhter Hurrican-Aktivität.



Warum findet diese Theorie - mehr kann es natürlich nicht sein - so wenig Beachtung im Vergleich zu der Theorie, die verstärkte Hurrican-Aktivität gehe auf globale Erwärmung zurück?

Dazu möchte ich die Schlußpassage des Artikels zitieren; auch deshalb, weil sie zeigt, wie es heute einem empirischen Wissenschaftler unter Globalisierungs- Theoretikern ergehen kann. Gray fragt, warum die Arbeiten seiner Gruppe so wenig rezipiert werden, und antwortet:
One reason may be that the advocates of warming tend to be climate modelers with little observational experience. Many of the modelers are not fully aware of how the real atmosphere and ocean function. They rely more on theory than on observation.

The warming theorists -- most of whom, no doubt, earnestly believe that human activity has triggered nature's wrath -- have the ears of the news media. But there is another plausible explanation, supported by decades of physical observation. The spate of recent destructive hurricanes may have little or nothing to do with greenhouse gases and climate change, and everything to do with the Atlantic Ocean's currents.

Ein Grund mag sein, daß die Vertreter der Erwärmung in der Regel Klima- Modellierer sind, die wenig Erfahrung mit Beobachtungen haben. Viele dieser Modellierer wissen nicht so genau, wie die wirkliche Atmosphäre und die Ozeane funktionieren. Sie vertrauen der Theorie mehr als der Beobachtung.

Die Erwärmungstheoretiker -- von denen die meisten zweifellos ernsthaft glauben, daß menschliche Aktivität den Zorn der Natur erregt hat -- haben das Ohr der Medien. Aber es gibt eine andere plausible Erklärung, die sich auf Jahrzehnte der Naturbeobachtung stützt. Die Vielzahl der zerstörerischen Hurricans in letzter Zeit könnte wenig oder nichts mit Treibhausgasen und Klimaänderung zu tun haben, und alles mit den Strömungen im Atlantischen Ozean.



Ich will keineswegs behaupten, daß Professor Gray Recht hat. Wie in früheren Beiträgen - hier und hier - begründet, habe ich zum Klimawandel keine Meinung; so wenig, wie zu anderen wissenschaftlichen Themen, von denen ich nichts verstehe.

Nur: Ich habe schon den Eindruck, daß in der Klima- Diskussion im Augenblick (auch und gerade in der Scientific Community) eine Entwicklung hin zur Dominanz einer einzigen Theorie im Gang ist, während abweichende Meinungen immer weniger gehört werden.

So etwas gibt es immer einmal, auch in einer freien Wissenschaft.

So krass unwissenschaftlich wie auf der WebSite des deutschen Umwelt-Bundesamts, das jede abweichende Meinung als Scharlatanerie darstellt, geht es allerdings in der Wissenschaft zum Glück nicht zu.

Was sich dieses von unseren Steuergeldern bezahlte Amt leistet, das hat in der Tat große Ähnlichkeit mit der Art, wie in totalitären Staaten eine bestimmte wissenschaftliche Meinung staatlich dekretiert wird.

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26. Juli 2007

Marginalie: Nicht nur im Antiamerikanismus sind wir Deutsche Spitze

Der "Nouvel Observateur" berichtet heute wieder einmal über eine länderübergreifende Umfrage. Diesmal geht es um das Sexualleben.

Und siehe: Wie beim Anti-Amerikanismus, so sind wir Deutsche auch in der Pro- Sexualität ganz vorn.

Die Untersuchung wurde vom Institut Novatris/Harris Interractive im Auftrag verschiedener französischer Medien durchgeführt und gestern publiziert.

Danach liegen die Deutschen mit 8,0 Sexualkontakten pro Monat weit vor den Italienern (7,3), den US-Amerikanern (5,9) und den Briten (5,8). (No sex please, we're British. Man hat es geahnt.)

Nur den Franzosen müssen wir uns geschlagen geben; sie bringen es auf 8,9 Mal im Monat.

Übrigens: Wir Deutsche, wir aus dem Land Luthers, folgen mit unserer Frequenz der Sexualkontakte sozusagen buchstabengenau dessen Regel: "In der Woche zwier, schadet weder dir noch mir, macht im Jahre hundertvier".

Gefragt wurde auch nach der Zahl der bisherigen Sexualpartner. Hier liegen wir Deutsche an der Spitze (13), gefolgt von den Amerikanern (12,5) und den Briten (12,5). Am Ende dieser Hitliste liegen die Franzosen (11,1) und die Italiener (10,3).



Kann man diesen Zahlen trauen? Man sollte sie zumindest with a grain of salt genießen. Denn vermutlich wird nirgends so viel geflunkert wie bei Jagd- Erzählungen und Bett- Geschichten.

Gut möglich also, daß wir Europäer und Amerikaner uns in Wahrheit alle sexuell ähnlich verhalten. Nur protzen die einen gern mit ihren sexuellen Aktivitäten, und die anderen spielen sie mit angelsächsischer Zurückhaltung herunter.

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Evolutionstheorie: The arrival of the fittest

In Diskussionen der Darwin'schen Evolutionstheorie wird häufig nicht zwischen drei Behauptungen dieser Theorie unterschieden:
1. Die heute existierenden Arten sind nicht also solche "geschaffen" worden, sondern sie sind das Ergebnis einer Evolution

2. Der Mechanismus dieser Evolution besteht darin, daß jede neu entstandene Mutation weiterbesteht oder wieder verschwindet, je nachdem, wie gut sie an die Umweltbedingungen angepaßt ist ("survival of the fittest")

3. Neue Mutationen entstehen durch zufällige Veränderungen des Genoms
Behauptung 1 war zu Darwins Zeit nicht neu; auch Lamarck vertrat zum Beispiel Evolution in diesem Sinn. Dieser Aspekt der Evolutionstheorie ist es vor allem, der von den Fundamentalisten der "biblischen Schöpfungslehre" bestritten wird.

Behauptung 2 ist diejenige, die in erster Linie mit dem Namen Darwin verbunden wird. Sie wird oft als "Kampf aller gegen alle" mißverstanden. Ihr Kern ist aber nur, daß die Evolution weder gesteuert ist (wie das die Theorie des Intelligent Design heute behauptet), noch durch die Weitergabe erworbener Eigenschaften funktioniert. Sondern allein durch Auslese in Abhängigkeit davon, wie gut der Fit ist, also die Anpassung an die Umwelt.

Am Kritischsten in der wissenschaftlichen Diskussion ist immer Behauptung 3 gewesen. Wie können rein zufällige Genänderungen (etwa aufgrund von natürlicher Strahlung) den hohen Grad an Komplexität hervorbringen, der das Ergebnis der Evolution ist? Wie kann ein System, das erst durch das Zusammenwirkung aller seiner Komponenten funktioniert - sagen wir, das Herz-Kreislauf-System - allein dadurch entstehen, daß sich mal dieses, mal jenes Gen zufällig änderte? Wie kommte es also überhaupt erst einmal zum arrival of the fittest?



Es ist diese dritte Behauptung der Evolutionstheorie, zu der die Forschung in den letzten Jahren gewaltige Fortschritte gemacht hat; der Nick für diese Forschungsrichtung ist Evo-Devo. Im Wissenschaftsteil der "New York Times" berichtet Carik Kaesuk Yoon darüber in einem faszinierenden Artikel.

Warum Evo-Devo? Weil es sich um ein interdisziplinäres Unternehmen handelt, am dem vor allem Evolutions- und Entwicklungsbiologen beteiligt sind. Molekularbiologie trifft sich mit Paläontologie, und so fort.

Der Beitrag der Molekularbiologie ist die Erkenntnis, daß das Genom hierarchisch organisiert ist. Es gib Steuergene, auch Werkzeug- Gene genannt, die untergeordnete Gene an- und abschalten, die das wiederum mit weiteren, ihnen untergeordneten Genen tun können und so fort.

Das Aufregende ist nun, daß Veränderungen im Einfluß solcher übergeordneter Gene eine Vielfalt von Änderungen im Phänotyp hervorbringen können. Eine große Artenvielfalt kann allein dadurch entstehen, daß ein, zwei Gene stärker oder schwächer wirken.

Ein Beispiel sind just die von Darwin erforschten Galapagos-Finken, deren einzelne Arten im Phänotyp so große Unterschiede aufweisen, daß Darwin Schwierigkeiten hatte, sie überhaupt alle als Finken zu erkennen. Manche haben zum Beispiel kurze, dicke Schnäbel, andere lange, dünne.

Man dachte, hunderte von Genen seien für die Herausbildung dieser Unterschiede verantwortlich. Tatsächlich gibt es jetzt starke Belege dafür, daß es nur zwei Gene sind, BMP4 und Calmodulin. Je stärker sich BMP4 auswirkt, umso größer, dicker und kräftiger wird der Schnabel. Je mehr Wirkung von Calmodulin, umso länger wird der Schnabel. Verstärkt man bei Hühner-Embryonen den Einfluß von Calmodulin, dann entwickeln sie eine Art Storchenschnabel!

Nicht hunderte, sondern nur zwei Gene sind also für die Vielfalt der Schnabelformen verantwortlich.



Und dieselben Gene haben analoge Effekte in ganz anderen Spezies. In afrikanischen Seen kommen Fische namens Cichlidae vor, die sich erheblich in der Größe und Kraft ihrer Gebisse unterscheiden; je nach bevorzugter Beute. Und siehe - bei denen mit kräftigen Gebissen ist der Einfluß von BMP4 in der embryonalen Entwicklung ausgeprägt, bei denen mit zartem Gebiß geringer.

Sogar die Kraft des Gebisses von Eidechsen und von Kaninchen wird durch BMP4 gesteuert!

Es gibt Hinweise darauf, daß "abgeschaltete" Gene schon lange in der Evolution existierten, bevor sie durch eine Umwelt- Herausforderung "angeschaltet" wurden - daß zum Beispiel Fische schon, bevor einige den Weg aufs Trockene gingen, Gene für das Wachsen von Fingern gehabt haben könnten.

Und auch das Geheimnis der Mimikry könnte sich so lösen. Wieso kann eine Art eine ganz andere so perfekt "nachahmen"? Weil, wird vermutet, sie dieselben Gene teilen, die nur bei den einen schon lange angeschaltet waren, bevor das auch die "Nachahmer" taten.

Der Artikel der NYT bringt noch viele andere Beispiele und spannende Befunde. Ich empfehle sehr seine Lektüre.

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25. Juli 2007

Zum Tod von Ulrich Mühe

Auf Ulrich Mühe bin ich erst durch "Das Leben der Anderen" aufmerksam geworden.

Ein herausragender Schauspieler in diesem herausragenden Film, so schien mir. Mit minimalen Mitteln spielend.

Dieser Gerd Wiesler ist in den Eingangssequenzen eigenlich ein Scheusal. Der kalte Technokrat der Erniedrigung, des Folterns von Menschen. Man muß jemanden solange verhören, bis er nicht mehr kann, sagt er. Denn je mehr man Druck ausübt, umso mehr wird sich der Unschuldige vom Schuldigen unterscheiden. Der Schuldige wird irgendwann zusammenbrechen. Der Unschuldige wird sich immer entschlossener wehren. So ungefähr, nicht wörtlich, aus meiner Erinnerung zitiert. Die Logik des Folterers, des Unmenschen.

Aber selbst in diesem ersten Teil des Films bleibt ein Rest Sympathie für diesen Mann, der sich sozusagen völlig in seinem Beruf verliert. Mühe gibt dieser Figur, die ein anderer als einen schneidigen Apparatschik gespielt hätte, eine Melancholie, eine eisige Einsamkeit, die den Zuschauer daran hindert, sie nur als Stasi- Schergen zu sehen.

Die Einsamkeit wird im Lauf des Films immer deutlicher, aber Mühe macht auch immer mehr Sensibilität sichtbar. Dieser Wiesler lebt selbst ja gar nicht; aber er beobachtet das Leben der Anderen, ja er nimmt es in sich auf. Er wechselt die Front, weil er aus seiner seelischen Erstarrung raus möchte, hinein in dieses Leben der Lebendigen.

Am Ende dann, in den Schlußsequenzen, sieht man den abgewickelten Stasi- Offizier, wie er Prospekte verteilt. Seine Körpersprache ist völlig anders als zuvor - der Schritt schleppend, die Schultern eingefallen. Wie Mühe das hinbekommt, ist ganz große Kunst. Und die stille Freude, als er das ihm gewidmete Buch entdeckt.

Ein großer Schauspieler, offensichtlich. Aus meiner Sicht der leiseste, der mit der stillsten Intensität spielende der großen deutschen Schauspieler der letzten Jahrzehnte.



Über keinen Film habe ich hier so viel geschrieben wie über "Das Leben der Anderen". Über die Frage, ob das eigentlich ein politischer Film ist. Darüber, wie anders man einen Film beim zweiten Ansehen wahrnimmt als beim ersten Mal. Anläßlich der Oskar- Nominierung über eine amerikanischen Kritik dieses Films, ein Musterbeispiels für die Tradition der amerikanischen Filmkritik. Und bei der Verleihung des Oscar noch einmal mit dem Versuch, die Qualitäten dieses Films in ein paar Sätzen zusammenzufassen.

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Marginalie: Der Zweiklassenstaat

Nein, nicht von dem "Zweiklassenstaat" ist die Rede, als den der SPD-Politiker Lauterbach unseren Staat gesehen wissen möchte. Sondern von einem wirklichen Klassenstaat.



Der Sender "Phoenix" hat heute Nachmittag eine 2005 vom MDR produzierte Sendung aus der Sparte "Ostalgie" wiederholt. Titel "Fröhlich sein und singen - Ferienlager in der DDR".

Man sah viele Bilder von glücklichen Jugendlichen. Zeitzeugen erinnerten sich daran, wie es damals war.

Schön, das will ich gar nicht bezweifeln. Ferienlager sind fast immer schön. Ein Onkel von mir, kein Nazi, hat mir mit Begeisterung von den Ferienlagern der HJ-Pimpfe erzählt. Lagerfeuer, gemeinsames Singen, Schnitzeljagden, Basteln und Sport treiben.

Die HJler mußten ohne Mädchen auskommen, wie die BdM-lerinnen ohne Jungen. Die DDR war da progressiver; in die Ferienlager fuhren Jungen und Mädchen gemeinsam. Folglich handelten die Erinnerungen sehr oft von der Ersten Liebe.



So weit, so gut. Aber eher nebenbei erfuhr man etwas, das für gelernte DDR-Bürger wahrscheinlich die pure Selbstverständlichkeit ist, das mich aber doch baß erstaunt hat: Diese Ferienlager waren strikt nach sozialer Klasse getrennt.

Nicht nur, daß die Kinder der Nomenklatura natürlich nicht mit dem Pöbel gemeinsam verreisten; das versteht sich ja.

Sondern auch für die Professoren- Kinder gab es eigene Ferienlager; die Lager der "Akademie der Wissenschaften". Ebenso gab es eigene Lager, in denen die Kinder der Filmschaffenden unter sich waren, die DEFA- Lager.

Diese beiden Beispiele wurden genannt. Ob es auch Lager für, sagen wir, die Kinder der Technischen Intelligenz, der Kinder der Angehörigen des Schriftsteller- Verbands usw. gab, weiß ich nicht. Vielleicht liest hier jemand mit, der dazu etwas sagen kann.

Die DDR war halt nicht nur eine Diktatur, sondern sie war - anders übrigens als der Nazi-Staat - eine Klassendiktatur.

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Ketzereien zum Irak (16): Authentisches aus Bagdad

Da sich kaum noch Journalisten in Bagdad aufhalten, sondern aus ihren Büros in Dubai, Amman, Kairo berichten, ist man für ein objektives Bild der Lage im Irak zunehmend auf zwei andere Quellen angewiesen: Irakische Blogger und die wenigen westlichen Freien Journalisten, die, meist unter dem Schutz der amerikanischen Armee, im Irak unterwegs sind.

Einen regelmäßigen Überblick über das Neueste aus englischsprachigen Blogs von Irakern findet man in "Dean's World" unter der Überschrift "The Carnival of the Liberated".

Zu den Freien Journalisten, die sich in den Irak wagen, gehören beispielsweise Michael Totten und Bill Ardolino.



Michael Tottens aktueller Bericht ist eine längere Reportage, die hauptsächlich (ziemlich weitschweifig, mit vielen Fotos illustriert) den Alltag amerikanischer Patrouillen schildert, die Reaktionen der Bevölkerung, die kleinen Fortschritte.

Eine interessante Information aus seinem Artikel, die jedenfalls mir neu war:

Im Bagdader Stadtteil Adhamiyah hat die Armee eine Mauer gebaut, die sunnitische und schiitische Wohnbezirke trennt. Zu Fuß kann man sie passieren, aber sie hindert Sprengstoff-Autos und Waffentransporter an der Passage. Innerhalb des ummauerten Bezirks leben hauptsächlich Sunniten, außerhalb Schiiten.

Dadurch seien, schreibt Michael Totten, die Anschläge sowohl der sunnitischen Milizen einschließlich der El Kaida als auch die der schiitischen Mahdi- Armee drastisch reduziert worden.

Auch andere gefährdete Areale - der Fischmarkt zum Beispiel - sind durch Mauern geschützt.



In diesem Zusammenhang ist interessant, was Omar in Iraq the Model schreibt: Die Zahl der Geschäfte hat nicht abgenommen, aber viele sind umgezogen. Sie ziehen weg von den Hauptstraßen, die durch Anschläge gefährdet sind, und siedeln sich in Nebenstraßen an, auf die ein Anschlag sich sozusagen nicht "lohnt".

Ein paar andere Informationen aus Omars Artikel:

Wenn vergangenen Samstag in Bagdad geschossen wurde, dann waren es überwiegend Freudenschüsse. Die irakische Fußball- Nationalmannschaft hatte nämlich bei der Asien- Meisterschaft 2:0 gegen Vietnam gewonnen.

Der Benzinmangel ist viel geringer als früher. Der Schwarzmarkt- Preis für Benzin liegt jetzt nur noch um die Hälfte höher als der offizielle Preis (60 Cents pro Liter; die Hälfte des Schwarzmarkt- Preises letzten Monat).

Die Stromversorgung hat sich, in Stunden gemessen, verdoppelt - allerdings schreibt Omar sarkastisch, die Begeisterung darüber solle sich in Grenzen halten, denn das bedeute vier statt zwei Stunden täglich Strom.



Wenn man ansonsten die in "Dean's World" verlinkten Blogs durchsieht, dann entsteht der Eindruck, daß vor allem eine sehr große Unzufriedenheit mit der Regierung herrscht.

Maliki wird allgemein als unfähig betrachtet. Die konfessionellen Auseinandersetzungen werden kritisiert; wobei niemand zu wissen scheint, was man denn dagegen tun kann.

Von einem "Bürgerkrieg" habe ich in keinem dieser Blogs etwas gelesen; außer einmal in dem Zusammenhang, daß irgendein Politiker mit Bürgerkrieg gedroht habe.



Das vielleicht Deprimierendste: Sämtliche Parlaments- Abgeordnete haben sich selbst (rote) Diplomaten- Pässe genehmigt. Und es gibt den Vorschlag, daß alle, die unmittelbar mit den USA zusammenarbeiten, ein Einreise- Visum zum dauerhaften Aufenthalt in den USA erhalten sollen.

Da werfen die US-Präsidentschaftswahlen ihren Schatten voraus. Viele Iraker werden sich daran erinnern, wie schändlich die US- Demokraten schon einmal die Menschen, die in Vietnam den USA vertraut hatten, im Stich gelassen haben.

Wenn Obama oder Clinton gewählt werden, dann wird aus dem Irak fliehen, wer immer es kann.

In der kürzlichen CNN/YouTube- Veranstaltung, in der die demokratischen Präsidentschafts- Kandidaten von Bürgern befragt wurden, haben mit einer Ausnahme alle sich für den Abzug aus dem Irak ausgesprochen. Es gab nur Differenzen darüber, wie schnell. Die Ausnahme war der Senator Biden, der einen eigenen Irak- Plan hat, nach dem immerhin ein kleines Kontingent im Irak bleiben soll.

Niemand von den Kandidaten hat ein Wort darauf verschwendet, was bei dem beabsichtigten Rückzug aus den Irakern werden wird, die mit den USA zusammengearbeitet haben.

Vielleicht sollte die US-Botschaft in Bagdad schon vorsorglich die Hubschrauber bestellen für den Tag nach den Präsidentschafts- Wahlen.



Und was zum Thema "Informationen zum Irak" nicht fehlen sollte: Iraq Slogger, eine umfassende, ständig aktualisierte Sammlung von Meldungen aus den verschiedensten Quellen.

Darunter auch eigene Analysen von Iraq Slogger. Zum Beispiel diese zu einem grausigen Thema: Die Morde und Folterungen, die schiitische und sunnitische Terroristen untereinander verüben.

Zwischen dem 18. Juni und dem 18. Juli wurden 592 Ermordete aufgefunden. Wenn man die Fundorte in eine Karte von Bagdad einträgt, dann zeigt sich, daß sie fast durchweg in konfessionell gemischten Bezirken liegen; kaum in rein oder überwiegend sunnitischen oder schiitischen. Die Morde sind, schreibt Iraq Slogger, Ausdruck von Machtkämpfen um die Kontrolle von Territorien.

Mit der Invasion des Irak hat das alles nichts zu tun. Da kämpft niemand gegen die Koalitions- Truppen. Sondern wie so oft nach dem Ende einer Diktatur - siehe Jugoslawien - machen sich die Konflikte, die von der Diktatur gewaltsam unterdrückt worden waren, blutig bemerkbar.

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Randbemerkung: Die freigelassenen Krankenschwestern waren Französinnen!

Dies erklärte gestern Präsident Sarkozy auf einer Pressekonferenz, die nicht nur anhörens-, sondern auch sehenswert war.

Er stand an einem Pult, flankiert von Fillon auf der einen und Kouchner auf der anderen Seite. Diese ohne Pult, stumme Staffage. Fillon sagte kein Wort. Kouchner fiel Sarkozy einmal ins Wort und duzte ihn sogar, bevor er ins korrekte Monsieur le Président wechselte. Mehr als einen, zwei Sätze wurde er aber auch nicht los.

Es war die Show des Präsidenten Sarkozy. Er antwortete weitschweifig auf die Fragen, glänzte sozusagen vor Stolz.

Und erweckte den Eindruck, die Freilassung sei das Werk der Familie Sarkozy, wenn er auch großzügig einräumte, daß andere mitgewirkt hätten.

Wieso bezeichnete er die Bulgarinnen als Französinnen? Nun, schon im Wahlkampf hatte er angekündigt, daß unter seiner Präsidentschaft Frankreich sich als Anwalt der Unterdrückten in aller Welt sehen werde. Deshalb auch die Entscheidung für Kouchner als Außenminister, den einstigen Gründer von "Ärzte ohne Grenzen" und Menschenrechtler.



Und wie war es nun wirklich? Das kann man in der "Welt" lesen. Außenminister Steinmeier und die deutsche Diplomatie hatten die Vereinbarung bereits weitgehend mit Gaddafis Sohn Seif al-Islam ausgehandelt, bevor Sarkozy sich überhaupt ins Spiel brachte:
Seit einem Libyen-Besuch im November 2006 kämpfte Steinmeier um die sechs Inhaftierten (...)

Das Auswärtige Amt verhandelte auf allen Ebenen. Wichtigster Ansprechpartner im Hintergrund: Seif al-Islam. Am 10. und 11. bot Steinmeier gemeinsam mit EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner dem offiziellen Chefunterhändler Abd al-Ubeidi umfangreiche finanzielle Entschädigungen für jede der von der Aids-Erkrankung betroffenen Familien an. (...)

Als Vorsitzender der Gaddafi-Stiftung verkündete Seif al-Islam am 10. Juli, man habe sich mit den betroffenen Familien geeinigt. Der Deal, dessen Zustandekommen auch aus London unterstützt wurde, sieht vor, dass die Familien aus einem 300-Millionen-Euro-Fonds der Gaddafi-Stiftung bezahlen werden. (...)

Und dann trat Cécilia Sarkozy auf den Plan.
Und dann holte Sarkozy noch das letzte an Propaganda aus der Sache heraus, indem er die Freigelassenen mit seiner eigenen Präsidenten- Maschine nach Sofia fliegen ließ. Seht, Sarkozy bringt euch nach Hause.



Was war nun wirklich die Gegenleistung für die Freilassung der Krankenschwestern? Dazu behauptet eine französische Organisation namens "Sortir du Nucléaire", er habe Gaddafi Hilfe bei der Entwicklung ziviler Nutzung der Nuklearenergie zugesagt.

Unplausibel ist das nicht. Auch das iranische Atomprogramm wurde einst wesentlich durch Frankreich gefördert.



Und unplausibel ist es vor allem nicht, wenn man die Libyen- Politik Sarkozys - heute ist er dort zu Besuch - im Kontext seiner mediterranen Strategie sieht.

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Marginalie: Kein Abbruch der Tour de France

Die Tour rollt weiter.
Für den Chef der Tour de France, Christian Prudhomme, kommt nach der Überführung von Dopingsünder Alexander Winokurow ein vorzeitiger Abbruch der Frankreich- Rundfahrt nicht in Frage. "Es war kein Thema für uns, die Tour zu stoppen, nur weil einige Russisches Roulette spielen", sagte der Franzose am Dienstag auf einer Pressekonferenz.
So steht es im Augenblick in FAZ.Online unter der Überschrift "Blutdoping bei Winokurow - Tour geht weiter".



Da schau her! Katholische Priester haben Kinder mißbraucht. Der Papst erklärte daraufhin, die Katholische Kirche werde trotzdem nicht aufgelöst werden.

Wer allen Ernstes auch nur die Frage stellen kann, ob die Tour abgebrochen werde, nur weil ein Fahrer des Blutdoping überführt wurde, der hat keine Ahnung von der nationalen Bedeutung der Tour für Frankreich.



Was das Thema "Doping" angeht, habe ich hier vor zwei Monaten argumentiert, daß es sich nicht um die Verfehlung Einzelner handelt, sondern um ein Problem mit der spieltheoretischen Struktur des Gefangenen- Dilemmas.

Die allgemeine Empörung über den Sünder, der erwischt wird, halte ich für Heuchelei. Er hat das Pech gehabt, geschnappt zu werden, das ist alles.

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24. Juli 2007

Der seltsame deutsche Antiamerikanismus

Ein aktueller - noch keine vier Wochen alter - Bericht des Pew Research Center enthält Umfragedaten, die weitweit erhoben wurden. Unter anderem wurde in 47 Ländern gefragt, ob man die USA eher positiv oder eher negativ sehe. Der gedruckte "Spiegel" dieser Woche bringt (S. 31) einen Auszug aus den Umfrage- Ergebnissen.

Danach ist die Meinung über die USA in keinem der berücksichtigten europäischen Länder so negativ wie in Deutschland.

Negativer ist das Bild der USA nur noch in diesen Ländern: Indonesien, Malaysia, Ägypten, Jordanien, Argentinien, Marokko, Pakistan, Palästinensergebiete, Türkei.



Gewiß, es handelt sich um eine Momentaufnahme.

Gewiß, die Antworten fallen deutlich positiver aus, wenn man nicht nach den "USA" fragt, sondern nach den "Amerikanern".

Dennoch, das Faktum bleibt, daß in Deutschland nach dieser Umfrage ein erschreckender Anti- Amerikanismus herrscht.



Das ist seltsam. Deutschland ist kein islamisches Land, wie fast alle, in denen der Anti- Amerikanismus noch größer ist.

Deutschland ist andererseits ein Land, das immer wieder von der Großzügigkeit, von der Freundschaft der USA profitiert hat.

Nach 1945 wurde in der US-Zone nicht demontiert, sondern es gab Hilfe für hungernde Kinder (sogenannte "Schulspeisung", ich habe sie jahrelang gegessen), es gab die Amerika- Häuser. Es gab schließlich vor allem den Marshall- Plan. Es gab die Luftbrücke, die das blockierte Berlin rettete.

Die USA haben auch später die Freiheit Westberlins verteidigt und sind dabei bis an den Rand eines Kriegs gegangen.

Die USA waren die einzige westliche große Macht, die die deutsche Wiedervereinigung bedingungslos unterstützt hat; ganz anders als Frankreich und England.



Wir Deutsche können uns über die USA wahrhaftig nicht beklagen. Aber mit einer Zweidrittel- Mehrheit beurteilen wir sie negativ. Wie kommt das?

Natürlich ist das eine Frage für die empirische Sozialforschung. Ich möchte nur einige Hypothesen nennen und sagen, für wie plausibel ich sie jeweils halte.

1. Es liegt an der Politik der Bush- Administration. Bewertung: Diese ist zwar sehr wahrscheinlich am weltweiten Anstieg des Anti- Amerikanisms beteiligt. Aber eben des weltweiten. Den extrem hohen gegenwärtigen Anti- Amerikanismus gerade in Deutschland erklärt es nicht. Also unplausibel.

2. Es liegt an der anti- amerikanischen Propaganda, wie sie in den deutschen Medien und im Bildungswesen weit verbreitet ist. In den Politmagazinen der Öffentlich- Rechtlichen zum Beispiel; an vielen Universitäten, an vielen Schulen. Bewertung: Ein Faktor, der eine Rolle spielen dürfte, vor allem in Wechselwirkung mit dem ersten Faktor. Bush liefert der anti- amerikanischen Agitation Material frei Haus, und diese nutzt es.

3. Die immer noch kurze demokratische Tradition, das immer noch mangelhafte demokratische Denken in Deutschland. Bewertung: Dies könnte ein entscheidender Faktor sein.

Ähnlich wie in islamischen Ländern gibt es in Deutschland eine Tradition darin, die Welt in Gut und Böse, in Freund und Feind einzuteilen. Dieses undemokratische Denken wurde durch die sogenannte "Demokratisierung" nach 1968 keineswegs vermindert, sondern im Gegenteil gestärkt. Kapitalismus schlecht, Sozialismus gut. Die da oben schlecht, wir da unten gut. Und so fort.

Hypothese: So, wie die beiden ersten Faktoren einander verstärken, so könnte dieses Denken in manichäischen Kategorien wiederum mit jedem der beiden interagieren. Eine negative Grundhaltung zu den USA gibt es in vielen Ländern, aber sie wird dort nicht verstärkt durch eine einseitige Medien- Propaganda. Deren Wirkung wiederum durch die deutsche Neigung zum undemokratischen Denken verstärkt wird.



Gegen Ende 2001 haben meine Frau und ich ein Konzert von Konstantin Wecker besucht. Er bedauerte am Anfang den Anschlag vom 11. September und legte dann los mit seinem anti- amerikanischen Programm; Anti- Amerikanismus pur nicht nur in den Liedern, sondern vor allem auch in den gesprochenen Zwischentexten.

Nun gut, so ist Konstantin Wecker. Das, was mich aber wirklich erschreckt hat, war die Reaktion des - überwiegend jungen - Publikums. Je anti- amerikanischer eine Äußerung, umso größer der Jubel. Der manchmal an eine kollektive Besoffenheit erinnerte, wie bei der Sportpalast- Rede von Goebbels. Nur einige wurden immer stiller und rührten keine Hand mehr. Ich bin der Pause gegangen.

Da war er förmlich zu spüren, dieser Mangel an demokratischer Reife in Deutschland. Die Großväter dieser jungen Leute hatten den Nazi- Rednern zugejubelt, wenn sie gegen die "US-Plutokraten" zu Felde zogen. Diese jetzigen Gegner der USA ließen eine ähnliche Mentalität erkennen, auch wenn sie sich als Linke verstanden haben dürften und die damaligen "Plutokraten" jetzt "Imperialisten" oder "Neoliberale" nennen.

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Gedanken zu Frankreich (17): Sarkozys mediterrane Strategie

Nicolas Sarkozy hat einen fulminanten Start hingelegt. Innenpolitisch war das zu erwarten gewesen. Schon im Mai hatte er angekündigt, daß seine Regierung die Reformen nicht einzeln nacheinander anpacken werde, sondern alle zugleich ("mener toutes les réformes en même temps").

Überraschender ist, daß Sarkozy in der Außenpolitik dasselbe Tempo vorlegt. Und dabei zeichnet sich eine Strategie ab, eines Napoléon würdig, mit dem Sarkozy ja mancherlei gemeinsam hat.



Klar war von vornherein gewesen, daß Sarkozy in der EU Deutschland die Rolle der Nummer eins streitig machen würde.

Dazu diente, sozusagen als Einstieg, Sarkozys Idee eines traité simplifié, eines vereinfachten Vertrags, anstelle der gescheiterten Europäischen Verfassung.

Die Konferenz von Brüssel war aus französischer Sicht primär nicht ein Erfolg Merkels, sondern ein Triumph Sarkozys, der anschließend ohne falsche Bescheidenheit verkündete, mit der Annahme dieser seiner Idee sei Europa gerettet worden.



Nur ändert das ja langfristig nichts daran, daß Deutschland nun einmal mehr Einwohner hat als Frankreich, eine größere Wirtschaftskraft. Jetzt zeichnet sich ab, was Sarkozy dagegen setzen will.

Er will einen geographisch- kulturellen Vorteil nutzen, den Frankreich gegenüber Deutschland hat: Es ist nicht nur ein westeuropäisches Land, sondern zugleich ein Mittelmeer- Land.

Und zwar nicht nur in dem Sinn, daß Südfrankreich zur mediterranen Kultur gehört, daß Frankreich mit Marseille einen der größten Mittelmeer- Häfen hat.

Sondern auch insofern, als es enge historische Verbindungen über das Mittelmeer hinweg hat, nach Nordafrika. Vor allem nach Algerien, das ja lange ein Teil des französischen Staatsgebiets war und keine Kolonie.



Sein erster Besuch eines afrikanischen Landes führte Sarkozy am 10. Juli nach Algerien.

Unter den Journalisten, die ihn im Flugzeug begleiten durften, war Jean Daniel, der Herausgeber des linken Nouvel Observateur; eines Blattes, das im Wahlkampf heftig für Ségolène Royal eingetreten war.

In seinem Leitartikel dieser Woche, betitelt "Sarko l'Algérien" berichtet Daniel Erstaunliches über das, was Sarkozy auf diesem Flug den Journalisten darlegte.



Er werde, sagte Sarkozy, zum Nationalfeiertag 2008 alle Länder des Mittelmeer- Raums einladen. "Je crois plus que tout à la force des symboles. Après l'Union européenne, ce sera l'Union méditerranéenne." Er glaube mehr als alles an die Kraft der Symbole. Auf die Europäische Union werde die Mittelmeer- Union folgen.

Und so, wie das couple Franco- Allemand, das französisch- deutsche Paar, wie man in Frankreich sagt, den Kern der EU bildet, so soll eine enge Allianz zwischen Frankreich und Algerien den Kern einer solchen Mittelmeer- Union bilden.
Nicolas Sarkozy déclare avec tranquillité qu'il entend conclure avec les Algériens un partenariat si privilégié, si exceptionnel et qui profiterait de manière si égalitaire aux deux parties que cela dissuaderait les ambitions compétitives des autres grandes puissances.

Nicolas Sarkozy teilt ruhig mit, daß er beabsichtigt, mit den Algeriern eine so privilegierte, so außergewöhnliche Partnerschaft einzugehen, von der auf eine so ausgeglichene Weise beide Seiten profitieren, daß das die damit im Wettstreit stehenden Ambitionen der anderen Großmächte vereiteln werde.


Voilà! Klassische Bündnispolitik. Deutschland und Frankreich bilden die Führungs- Allianz der EU. Aber Frankreich und Algerien bilden die Führungsallianz der neuen Mittelmeer- Union. Im Machtgefüge der einen Union kann Frankreich jeweils seine Rolle in der anderen Union in die Waagschale werfen.

Zusammen mit Deutschland ist es stärker als irgendwer sonst in der EU. Zusammen mit Algerien ist es stärker als irgendwer sonst in einer Mittelmeer- Union. Die beiden Stärken addieren sich aber nicht einfach, sondern sie treten in Wechselwirkung; die eine erhöht die andere.

Eine beeindruckende Strategie.

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22. Juli 2007

Marginalie: Wer heute alles einen Pressesprecher hat

Lesen Sie einmal diese Meldung aus dem Jahr 1977:
Die radikal- kommunstische RAF hat erneut bekräftigt, Hanns-Martin Schleyer getötet zu haben. "Die RAF kann sagen, wo sich die Leiche befindet", teilte RAF- Sprecher Christian Klar der Nachrichtenagentur AFP telefonisch mit. Wenn die deutsche Regierung den Toten bergen wolle, würde die RAF ihn bedingungslos herausgeben.
Absurd, nicht wahr? Und also natürlich fiktiv. Und nun lesen Sie bitte diese Meldung aus dem Jahr 2007:
In Afghanistan haben die radikal- islamischen Taliban am Sonntag erneut bekräftigt, ihre beiden deutschen Geiseln getötet zu haben. "Die Taliban können sagen, wo sich die Leichen der beiden Deutschen befinden", teilte Taliban- Sprecher Jussuf Ahmadi der Nachrichtenagentur AFP telefonisch mit. Wenn die deutsche Regierung die Toten bergen wolle, würden die Taliban sie bedingungslos herausgeben.


Wie sich doch die Welt in dreißig Jahren geändert hat!

Damals mußten Terroristen ihre "Informationen" auf verschlungenen Wegen an die Öffentlichkeit lancieren.

Heute haben sie einen namentlich bekannten "Sprecher", der ganz normal AFP anruft.

Und AFP findet nichts dabei, das zu verbreiten. Und unsere Medien drucken es ohne ein Anzeichung von Empörung darüber, wie salonfähig für sie offenbar inzwischen Polit- Verbrecher geworden sind.

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Marginalie: SPD-Kanzlerkandidatur - dog bites man, man bites dog

Was eine Nachricht ist und was nicht, das wird gern mit der Bemerkung des amerikanischen Journalisten John B. Bogart illustriert: "When a dog bites a man, that is not news (...). But if a man bites a dog, that is news".

"Spiegel-Online" bringt im Augenblick eine Meldung über eine Umfrage von TNS Forschung für den "Spiegel" zur SPD- Kanzlerkandidatur.

Vorn liegt Außenminister Steinmeier mit 21 Prozent der Befragten- Stimmen. Zweiter ist mit 18 Prozent Klaus Wowereit. Und erst an dritter Stelle folgt Kurt Beck mit 17 Prozent. Im Osten liegt Wowereit gar mit 25 Prozent auf Platz eins.



Daß Steinmeier vorn liegt, ist keine Überraschung. Dog bites man. Denn der Außenminister ist in Deutschland traditionell ungewöhnlich populär, weil er als jemand wahrgenommen wird, der parteiübergreifend die deutschen Interessen vertritt. Das war bei Schröder so, bei Scheel, bei Genscher, bei Kinkel und bei Fischer.

Die Man bites dog- Meldung ist natürlich, daß Wowereit vor Beck liegt und im Osten an erster Stelle. Noch vor einem Jahr sprach niemand von Wowereit, wenn es um die Kanzlerkandidatur ging. Er ist seither durch keine politische Idee hervorgetreten, noch weniger war er erfolgreicher als andere SPD-Ministerpräsidenten.

Aber wie Ziethen aus dem Busch ist Wowereit in die Reihe der Kanzler- Kandidaten der SPD gestürmt. Das einzige, was für ihn aus der Sicht eines Teils der Deutschen spricht, ist seine erklärte Bereitschaft, mit den Kommunisten zu koalieren.



Wie überschreibt "Spiegel-Online" die Meldung? Etwa "Wowereit vor Beck" oder "Wowereit im Osten auf Platz eins"? Nein. Die Überschrift lautet: "Steinmeier Favorit der Deutschen für SPD- Kanzlerkandidatur". Dog bites man.

Der "Spiegel" - ein Nichtnachrichten-Magazin?

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