9. August 2007

Der Fall Marco Weiss: Zwei Clashes of Cultures. Geklärte Fakten

Der Fall Marco Weiss hat alle Ingredienzien eines Kriminalfalls, der die Gemüter erregt; fast einer Cause Célèbre, auch wenn es sich nicht um ein Kapitalverbrechen handelt.

Es geht um Sexualität, noch dazu den Vorwurf sexueller Handlungen an einem Kind.

Es geht sodann um eine Grundangst vieler Touristen: Im fremden Land in die Fänge einer Justiz zu geraten, deren Rechtsverständnis nicht das unsere ist; in einem Gefängnis festgehalten zu werden, dessen Lebensbedingungen in Deutschland keinem Schäferhund zugemutet werden dürften.

Es geht weiterhin um einen Clash of Cultures, und zwar gleich einen doppelten.



Erstens zwischen deutscher und türkischer Kultur.

In der Türkei, zwar noch der Form nach säkular, aber von einer islamistischen Partei regiert, findet in den Ferienorten, findet zumal in Antalya, wo sich der Fall zutrug, Saison für Saison ein Festival des Hedonismus, der sexuellen Freizügigkeit statt.

In einem Land, in dem immer mehr Frauen wenn auch nicht die Burka, so doch das Kopftuch tragen, hüpfen die jungen Mädchen im Bikini am Strand umher. In einer Kultur, die alle Sexualität hinter die Mauern der Wohnung verbannt, findet in den Tourismus- Gebieten öffentliches Küssen und Knutschen statt.

Gewiß, man braucht das Geld der Touristen. Junge Türken mögen auch die sexuelle Freizügigkeit der englischen und deutschen Mädchen schätzen. Achten dürften die wenigsten sie dafür.



Die deutschen Stimmen in diesem Clash sind bekannt; und sie sind lebhaft. Man braucht sich nur eine der vielen Internet- Diskussionen zum Thema anzusehen, beipielsweise die in Welt-Online im Juni und Juli.

Aber die türkische emotionale Reaktion dürfte nicht weniger heftig sein. Einen Eindruck davon gibt vielleicht, was Emre aus Pennsylvania dazu in der "London Times" kommentiert:
It is amazing to see how such an incident provokes the racio-supermacist feelings in our "always morally right friends" in Europe. How conveniently this incident proves that we Turks are bloodthirsty savages who need to be civilized. Right?

Es ist erstaunlich, zu beobachten, wie sehr ein solcher Vorfall die Gefühle rassischer Überlegenheit bei unseren "Freunden, die immer moralisch im Recht sind" in Europa auslöst. Wie passend beweist doch dieser Vorfall, daß wir Türken blutdürstige Wilde sind, die zivilisiert werden müssen. Nicht wahr?



Der zweite Clash in diesem Fall ist sozusagen ein innerkultureller: Offenbar traf die Weltanschauung der Mutter von Charlotte M. auf die lockeren sexuellen Umgangsformen, wie sie unter amerikanischen, unter westeuropäischen Jugendlichen heutzutage üblich sind, zumal im Urlaub.

Nach allem, was man über diese Mutter weiß - ich habe im Web wenig genug über sie finden können -, ist sie eine fromme Christin, für die es offenbar eine Katastrophe war, daß ihr Kind mit 13 Jahren einen sexuellen Kontakt hatte. Eine Nachbarin sagte, Charlotte habe noch nie einen Freund gehabt.

Es liegt nahe, daß die Mutter den Vorfall nur dann mit ihrem Weltbild, dem Selbstverständnis ihrer Familie und auch mit deren Ansehen in der Gemeinde vereinbaren konnte, wenn sie ihn als eine sexuelle Aggression durch Marco Weiss sah; ihn jedenfalls so darstellte.



Wenn ein Fall sich derart sozusagen im Schnittpunkt mehrerer Emotionalisierungen befindet, dann kann man ihn nüchtern erst dann betrachten, wenn über die Fakten einigermaßen Klarheit herrscht.

Bis gestern war da nicht der Fall. Ich habe deshalb über das Thema nichts geschrieben, weil ich den Eindruck hatte, es nicht beurteilen zu können.

Seit gestern hat sich die Situation verändert. In dem Prozeß trat der Arzt Levent Hekim als Zeuge auf, der Charlotte M. unmittelbar nach dem Vorfall gynäkologisch untersucht hatte. Und es wurde der junge Mann befragt, der zu der betreffenden Zeit in dem Apartment anwesend war, sich aber auf den Balkon begeben hatte.

Hekims Aussage ist zum Beispiel im "Tagesspiegel" zu lesen:
(...) der türkische Gynäkologe Levent Hekim (58), der die 13-jährige Britin Charlotte nach jener Nacht vor vier Monaten untersucht hat, hat keine Anzeichen für eine Vergewaltigung des Mädchens gefunden. Er schildert Journalisten nach seiner Zeugenaussage, was sich damals ereignet hat.

Danach war Charlotte mit ihrer Mutter zunächst beim Hotelarzt. Der habe sich für nicht zuständig erklärt und die Mutter an das Krankenhaus verwiesen. Dort sei das Mädchen ganz entspannt gewesen. Die Frage, ob ihr Gewalt angetan worden sei, habe sie verneint. Sie habe Marco selbst eingeladen, gibt der Arzt die Aussage wieder.
Der junge Mann, der sich während des Vorfalls auf dem Balkon des Appartments aufgehalten hatte, sagte ähnlich aus (er war, mit unkenntlich gemachtem Gesicht, gestern im deutschen TV zu sehen): Er hätte nichts von einem "Gerangel" mitbekommen, und Charlotte sei nach dem Vorfall ganz entspannt gewesen.



Mir scheint bei diesem Stand der Dinge, daß der Vorgang im wesentlichen aufgeklärt ist. Es gibt keinen Hinweis auf eine Vergewaltigung, es gibt keinen Hinweis darauf, daß Marco Weiss überhaupt Gewalt angewandt hat. Alles bestätigt die Version, die er von Anfang an vorgetragen hat: Es habe in beiderseitigem Einvernehmen Petting gegeben, und dabei habe er einen Samenerguß gehabt.

Bleibt die Frage, ob Marco Weiss sich dennoch strafbar gemacht hat, indem er mit einem dreizehnjährigen Mädchen solche sexuelle Handlungen vornahm.

Wie das nach türkischem Recht ist, habe ich leider nicht in Erfahrung bringen können. Nach deutschem Recht müßte Marco Weiss aber sehr wahrscheinlich freigesprochen werden.

Das ist einem Artikel von Stefan Kirchner im "German Law Journal" zu entnehmen, dessen Tenor es allerdings ist, im Gegenteil zu zeigen, daß auch nach deutschem Recht Marco Weiss durchaus unter Umständen verurteilt werden könnte.

Aber der Artikel erschien, bevor die jetzt vorliegenden Fakten bekannt waren. Kirchner schrieb:
Should the defendant have erred regarding the age of the victim, it would mean that he was not aware of the fact that a requirement for criminal law consequences of his behavior – in this case the young age of the girl – was met. In this case, the perpetrator is considered to have acted without intent to commit the crime, § 16 (1) 1 StGB.

(...) Among them is the question of whether the victim consented to the sexual activities and if so, does it matter ? If the victim freely consented and was able to do so, no crime has been committed.
Wenn Marco Weiss hinsichtlich des Alters von Charlotte im Irrtum war, schreibt Kirchner, dann kann er nicht verurteilt werden. Wenn sie den sexuellen Handlungen zugestimmt hat, dann kann Marco nicht verurteilt werden. Nach deutschem Recht.

Das zweite - daß Charlotte einverstanden war - ist durch die Aussagen des Arztes und des jungen Engländers belegt. Das erste - daß er der Meinung was, sie sei fünfzehn - sagt Marco Weiss selbst aus; und es dürfte ihm schwer zu widerlegen sein.



Noch eine Bemerkung:

Es gibt einen Grund dafür, daß ich mich jetzt doch noch ausführlich mit dem Fall befaßt habe. Er quillt einerseits sozusagen über von Irrationalem - nationalen Empfindlichkeiten, Vorurteilen, religiöser Befangenheit. Andererseits scheint es jetzt, daß nicht mehr Aussage gegen Aussage steht, sondern daß der Fall rational und faktenorientiert entschieden werden kann.

Es geht also um Irrationalismus und Vorurteil vs. Vernunft und Aufklärung. Und das interessiert mich immer.

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