31. März 2008

Kommunisten unter sich: "Die Linke" und der proletarische Internationalismus

Wie die Dinge gegenwärtig in Venezuela stehen, davon hat der langjährige Vertraute von Hugo Chávez, Heinz Dieterich, in einer schonungslosen Analyse auf der sozialistischen WebSite Apporea Ende letzten Jahres ein Bild entworfen. Eine deutsche Zusammenfassung ist hier zu lesen. Darüber, wie Venezuela auf dem Weg in den Sozialismus in diese Lage geraten ist, habe ich vor einem Jahr hier und kürzlich hier berichtet.

Venezuela dürfte, so wie es sich auf seinem Weg in den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" entwickelt, eines jener Länder wie Simbabwe sein, von denen nun wirklich nichts zu lernen ist. Es sei denn, man will aus ihrer katastrophalen Entwicklung entnehmen, wie man es auf keinen Fall machen darf.



Angesichts dieser Lage ist es schon ein wenig überraschend, in der heutigen "Jungen Welt" die Überschrift zu finden: "Von Venezuela lernen".

Wer will da von Venezuela lernen? Nun, "gut 30 Vertreter von Linksparteien und Gewerkschaften aus fast einem Dutzend EU-Ländern". Diese nämlich haben sich am vergangenen Samstag in Paris getroffen, "um konkrete Projekte zu besprechen". Projekte für Venezuela.

Und wie ist das nun mit dem Lernen von Venezuela? Davon sprach auf dem Treffen in Paris ein Vertreter der italienischen Kommunisten, jener orthodoxen Rifondazione Comunista, die sich von der PCI abgespalten hat, als diese ihren Frieden mit dem demokratischen Rechtsstaat zu machen begann. Dieser ungenannte Vertreter also sagte, laut "Junge Welt", schließlich "... könne die europäische Linke von Venezuela lernen, weil dort nicht nur auf mehr Demokratie, sondern auch auf sozialen Fortschritt gesetzt wird."

Was uns einen Eindruck davon vermittelt, wie die europäischen Kommunisten sich Demokratie und sozialen Fortschritt vorstellen.



Wenn es um Internationalismus geht, dann dürfen natürlich auch die deutschen Kommunisten nicht fehlen. Weiter in der "Jungen Welt":
Lucia Schnell von der deutschen Partei Die Linke verwies auf zunehmende Kontakte mit Caracas. (...) Für den kommenden Bundesparteitag sei ein Antrag geplant, der die Solidarität mit Venezuela bekräftigt: "Das ist schließlich nicht nur die Linie Oskar Lafontaines, sondern der gesamten Partei".
Die Linie Oskar Lafontaines? Ja, richtig, wir erinnern uns: Lafontaine ist bei "die Linke" für Außenkontakte mit anderen kommunistischen Parteien zuständig und hat beispielsweise den französischen und den cubanischen Kommunisten freundschaftliche Besuche abgestattet.

Schon kommenden Juni soll das nächste Treffen "linker Parteien" zu Venezuela stattinden. Diesmal in Berlin. Dort also wird der gewählte Vorsitzende der gemeinsamen Partei fast aller europäischer Kommunisten, Lothar Bisky, vermutlich seine Parteifreunde empfangen.



Es ist schon beeindruckend: Während die deutschen Kommunisten auf internationaler Ebene munter die Zusammenarbeit mit anderen Kommunisten, von Cuba über Venezuela bis Frankreich und Italien, pflegen und entwickeln, nehmen sie in Deutschland das Wort "Kommunismus" höchstens einmal in den Mund, um sich von jemandem zu distanzieren, der oder die so ungeschickt war, öffentlich eine kommunistische Gesinnung erkennen zu lassen.

Auch das jetzige Treffen in Paris fand sozusagen unter Ausschluß der deutschen Öffentlichkeit statt. Jedenfalls liefert eine Suche bei Paperball mit den Suchbegriffen "Paris" und "Venezuela" als einzigen Fund zu dem Pariser Treffen den Artikel in der "Jungen Welt". Bei Google News Deutschland dasselbe Ergebnis.

Auch die WebSite von "Die Linke" schweigt sich über das Pariser Treffen aus. Sie hat als Aufmacher - man fühlt sich auf einer Zeitreise in die achtziger Jahre - "Nein zur Raketenabwehr!".

Es scheint den deutschen Kommunisten bestens zu gelingen, Kaderlinie und Massenlinie fein säuberlich getrennt zu halten.

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Was Sie schon immer über Geert Wilders wissen wollten, aber nicht zu fragen wagten

Zwar nur unter der Verantwortung des Kultur- Ressorts, aber immerhin: In "Spiegel Online" darf Henryk M. Broder schreiben, daß Geert Wilders kein Rechtspopulist ist.

Geert Wilders gar kein Rechtspopulist? Aber alle sagen es doch!

Ja, (fast) alle sagen und schreiben es.

Nicht nur in "Spiegel Online" (Ressort Politik) steht es so. Nicht nur Zeitungen wie die FR und die SZ schreiben es - Blätter, aus deren Sicht ja vielleicht jeder Liberalkonservative schon ein Rechtspopulist ist. Sondern auch in Zeitungen, die selbst doch als liberal oder liberalkonservativ gelten, wird Wilders ein Rechtspopulist genannt; in der FAZ zum Beispiel, in der "Welt".



Wer ist dieser Geert Wilders? Werfen wir einen Blick in die Wikipedia.

Geert Wilders gehört dem holländischen Parlament (Twede Kamer) seit 1998 an. Acht Jahre lang, bis 2006, war er Abgeordneter der VVD. Diese Partei für Freiheit und Fortschritt ist ungefähr so rechtspopulistisch, wie die FDP eine linkspopulistische Partei ist.

Die VVD ist eine alte Partei der liberalen Mitte; eine marktliberale Partei, die 1948 als Nachfolgepartei von liberalen Parteien der Vorkriegszeit gegründet wurde und in der auch freiheitlich denkende Sozialdemokraten nach dem Krieg ihre politische Heimat fanden. Zu ihren bekanntesten Vertretern gehört Frits Bolkestein, der unter anderem Präsident der Liberalen Internationalen sowie europäischer Kommissar gewesen ist. Gegenwärtig lehrt er als Professor in Utrecht und Delft.

Der Parlamentarische Assistent von Boikestein war Wilders (nach Studium und Berufstätigkeit als Versicherungs- Kaufmann) seit 1990. Acht Jahre später, bei den Wahlen 1998, schaffte er selbst den Sprung ins Parlament.

Im September 2004 verließ er die VVD und gründete eine eigene Gruppe, aus der dann eine neue Partei hervorging, die Partij voor de Vrijheid, die Freiheitspartei PVV. Der Grund waren unterschiedliche Auffassungen über den EU-Beitritt der Türkei. Die VVD befürwortete ihn, Wilders lehnte ihn ab. Später trat er auch für die Ablehnung der EU- Verfassung in dem Referendum ein, das diese in der Tat zu Fall brachte.

Bei den Wahlen 2006 erhielt die PVV sechs Sitze und ist im Augenblick eine der Oppositionsparteien (die drittstärkste). Hier sind die Programmpunkte der PVV:
  • Steuersenkungen
  • Dezentralisierung
  • Abschaffung des Mindestlohns
  • Senkung von Subventionen
  • Einschränkung des Kindergelds
  • Anerkennung der christlich-jüdischen Tradition als Leitkultur der Niederlande
  • Stopp der Einwanderung aus nichtwestlichen Ländern
  • Skeptische Haltung gegenüber der EU
  • Ablehnung einer Aufnahme der Türkei in die EU
  • Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft



  • Das also ist die Partei, deren Gründer und Vorsitzender Geert Wilders ist.

    Ein Rechtspopulist?

    "Ein 'Rechtspopulist' ist er nicht. Erstens ist er ein radikaler Liberaler, zweitens ist das, was er gerade macht, extrem unpopulär", schreibt Henryk M. Broder.

    So ist es. So ist es offensichtlich. Der Sachverhalt ist so offensichtlich, daß man sich wirklich fragt, was in diejenigen gefahren ist, die diesen Politiker einen Rechtspopulisten nennen.

    Ob er ein guter Politiker ist, ob er glaubhaft ist - ich habe keine Ahnung. Mag sein, daß er eitel ist und seine Person in den Mittelpunkt zu stellen versucht; das kann ich nicht beurteilen. Das soll es ja geben unter Politikern.

    Nur hat er offenbar mit denen, die man "Rechtspopulisten" zu nennen pflegt - mit Leuten wie dem Franzosen Le Pen zum Beispiel und seiner "Nationalen Front", gar mit der deutschen NPD, der deutschen DVU - politisch nichts gemeinsam.

    Seine Partei ist nicht autoritär, sondern radikal freiheitlich. Sie macht sich nicht für den "kleinen Mann" stark, sondern will mehr Markt und weniger Sozialstaat. Sie tritt für kulturelle Freiheit ein und ist weder nationalistisch noch antiamerikanisch. Sie macht weder die Kriminalität noch den Kampf gegen "die politische Klasse" zu ihrem Thema. Kurz, sie vertritt auf nahezu allen Feldern der Politik das Gegenteil von dem, was rechtspopulistische Parteien vertreten.

    Nur ist Wilders offenbar der Meinung, daß die Freiheit durch radikale Islamisten bedroht ist. Das ist der einzige Punkt, wo er sich mit den Rechtspopulisten trifft. Oder, sagen wir, wo es einen Berührungspunkt gibt. Denn Leute wie Le Pen sehen durch den Islamismus ja nicht die Freiheit bedroht, sondern das, was sie als ihr "Volk" betrachten.

    Ob man nicht eher die radikalen, intoleranten Islamisten als "Rechtspopulisten" bezeichnen sollte, statt Geert Wilders und seine Partei?

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    30. März 2008

    Ketzereien zum Irak (30): Zwei Gründe für die Wende im Süden

    Seit heute spricht viel dafür, daß die Offensive im Süden des Irak erfolgreich sein wird. Heute hat Al Sadr wenn auch nicht kapituliert, so doch seine Bewaffneten aufgefordert, die Straßen Basras zu räumen und künftig mit der Regierung zusammenzuarbeiten.

    Nachdem die El Kaida bereits seit Ende letzten Jahres entscheidend geschwächt ist und der Widerstand der Baathisten, unter anderem aufgrund einer Teilamnestie, ebenfalls erheblich zurückging, bleibt noch Al Sadrs Mehdi- Armee als eine Kraft, die besiegt werden muß, bevor die demokratische Entwicklung des Irak endgültig auf einer tragfähigen Grundlage steht.



    Es scheint, daß dem Ministerpräsidenten Maliki in den vergangenen Tagen ein entscheidender Schritt in Richtung auf dieses Ziel gelungen ist. Dabei haben zwei Faktoren eine ausschlaggebende Rolle gespielt.

    Erstens hat sich im Irak das Bild von Sadr und seiner Miliz entscheidend gewandelt. Sadr galt einst als eine Hoffnung der Schiiten, vor allem der armen Schiiten, als so etwas wie ein Robin Hood des Irak.

    Wie heute Sabrina Tavernise und Solomon Moore in der New York Times schreiben, ist davon wenig geblieben: "As their tactics veered into protection rackets, oil smuggling and other scams, Mr. Sadr’s followers too began to resemble mafia toughs more than religious warriors, splintering and forming their own gangs and networks, many beyond Mr. Sadr’s direct control." Die Mitglieder der Sadr- Milizen seien harten Mafia- Leuten immer ähnlicher geworden, und viele hätten sich Al Sadrs Kontrolle entzogen.

    Die Bevölkerung hat sich dadurch immer mehr von diesen Milizen abgewandt; in diese Lücke - schreiben die Autoren der NYT - konnte Maliki stoßen.

    Daß Maliki den Mut hatte, es auch zu tun, ist der zweite Faktor. Maliki galt bisher als zögerlich. Jetzt aber ist der Aufbau der irakischen Armee so weit fortgeschritten, daß er sich offenbar ein Herz gefaßt hat, die Konfrontation mit Al Sadr zu suchen.

    Ob ganz aus eigenen freien Stücken, darüber gehen die Meinungen auseinander. In Bagdad hält man es laut NYT für möglich, daß Maliki eher einen Propaganda- Erfolg hatte erzielen wollen als jetzt schon die Entscheidung suchen.

    Die Situation habe dann aber ihre eigene Dynamik entwickelt, und jetzt habe sich Maliki voll mit dieser Offensive identifiziert. Er habe geschworen, zitiert ihn die Washington Post, "to stand up to these gangs in every inch of Iraq", also ungefähr: Auf jedem Quadratzentimeter irakischen Bodens gegen diese Banden Front zu machen.



    Mitte April wird General Petraeus im US-Kongreß seinen Bericht erstatten und befragt werden. So, wie es im Augenblick aussieht, wird er zwar noch nicht "Mission accomplished" melden können; davon ist der Irak noch weit entfernt. Aber was er berichten wird, müßte diejenigen im US-Kongreß eigentlich die Schamröte ins Gesicht treiben, die vor einem Jahr den Krieg verlorengeben und das irakische Volk den Terroristen überlassen wollten.

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    29. März 2008

    Zitat des Tages: Rushdie 1988, Wilders 2008. Nebst etlichen Fragen

    ... it is perhaps in the nature of modern art to be offensive ... in this century if we are not willing to risk giving offense, we have no claim to the title of artists.

    (... es liegt wohl im Wesen der modernen Kunst, anstößig zu sein ... wenn wir in diesem Jahrhundert nicht zu dem Risiko bereit sind, Anstoß zu erregen, haben wir keinen Anspruch darauf, Künstler genannt zu werden).

    Das schrieb, hier zitiert, John Updike im Wall Street Journal vom 10. August 1989.

    Der Anlaß waren Angriffe und Drohungen von islamistischer Seite gegen Salman Rushdie, weil dieser aus islamischer Sicht Anstößiges publiziert hatte. Seine Freiheit, das tun zu dürfen, wurde vehement verteidigt - von Medien, von Künstlern und Schriftstellern, von Regierungen.

    Warum geschieht dasselbe jetzt nicht in Bezug auf den Film von Geert Wilders? Warum tritt selbst die linksliberale Presse, die doch damals so für Rushdie Partei ergriffen hat, jetzt nicht für die Freiheit von Wilders ein, sondern beschimpft ihn wüst (wie beispielsweise Autoren der "Süddeutschen Zeitung" und der "Frankfurter Rundschau")?

    Liegt es daran, daß es im einen Fall um ein Buch ging, im anderen jetzt um einen Film? Liegt es an der unterschiedlichen künstlerischen Qualität (die freilich für die Frage der Freiheit der Kunst und der Meinungsäußerung irrelevant ist)? Liegt es an der Person des Betroffenen?

    Oder liegt es daran, daß in den knapp zwanzig Jahren seit der Rushdie- Affäre eine andere Einstellung zur Freiheit in Europa Raum gegriffen hat? Daß der Versuch, im Namen des Islam Zensur auszuüben, der damals auf einhellige Empörung stieß, inzwischen auf Verständnis rechnen kann?

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    In Cuba dürfen Privatleute jetzt ein Handy besitzen. Aber interessanter ist, was dem Blog von Yoani Sánchez widerfuhr

    Sie werden es vielleicht in Spiegel Online oder anderswo gelesen haben: In Cuba ist es jetzt Privatpersonen erlaubt, ein Handy zu besitzen.

    Zunächst ist an dieser Meldung interessant, daß der private Besitz von Handys Cubanern also bis jetzt verboten gewesen war. Was ja ein Schlaglicht auf das Wesen des Systems wirft, dessen herrschender Partei die deutsche PDS, momentan "Die Linke", in Freundschaft und Zusammenarbeit verbunden ist.



    Nun habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, Meldungen in "Spiegel Online" grundsätzlich erst dann zu trauen, wenn ich sie verifiziert habe. Also habe ich nachgesehen, was in der Washington Post zu der Sache steht.

    Zunächst einmal: Es stimmt, daß den Cubanern der private Besitz von Handys verboten war und daß er jetzt erlaubt wurde. Nachgerade klammheimlich wurde das bekanntgegeben, nämlich in einer unscheinbaren Meldung auf Seite 2 des kommunistischen Parteiorgans Grama.

    Schon interessanter ist es, aus dem Artikel zu erfahren, was denn sonst Cubanern zu besitzen verboten war und was sie, kraft der Order Raúl Castros, jetzt besitzen dürfen:
    ... computers, video players, all sizes of televisions, pressure cookers, electric rice cookers, electric bicycles and car alarms.

    ... Computer, Videoplayer, TV-Geräte aller Größen, Dampfkocher, elektrische Reiskocher, elektrische Zweiräder und Alarmanlagen in Autos.
    Eine illustre Liste, nicht wahr?

    Die einen ja ins Grübeln bringt. Gut, TV-Geräte - damit kann man in Cuba Sendungen aus den USA empfangen; also ist deren privater Erwerb natürlich verboten. Mit Videogeräten kann man subversives Material kopieren; also darf man solche gefährlichen Geräte natürlich nicht besitzen.

    Aber was in aller Welt mag das Verbot von Dampfkochern und elektrischen Reiskochern motiviert haben? Ob man daraus Bomben basteln kann? Dazu würde passen, daß vermutlich auch die Alarmgeräten von Autos und elekrtische Zweiräder Bauteile enthalten, die in einer Bombe ihre Dienste leisten könnten.

    Naja, nur eine Hypothese.

    Auf sichererem Grund sind wir, wenn es um das Verbot des privaten Besitzes von Computern geht; eines Geräts, das wie kein anderes eine Gefahr für jedes totalitäre Regime darstellt. Da braucht man sich über die Gründe für das Verbot also nicht lange den Kopf zu zerbrechen.



    Soweit einige Erläuterungen zu der Meldung über die Freigabe des Besitzes von Handys. Jetzt kommt das Wichtigere an dem Artikel in der Washington Post.

    Er ist verfaßt von einem Redakteur in Washington, Manuel Roig-Franzia, sowie "a Washington Post special correspondent in Havana", einem Sonderkorrespondenten in Havanna, dessen Identität die Redaktion wohlweislich nicht enthüllt.

    Offenbar von diesem ungenannten Mitarbeiter in Havanna stammt eine Information über eine Cubanerin namens Yoani Sánchez, auf deren Spur mich kürzlich ein Beitrag von Kaa in Zettels kleinem Zimmer gebracht hat. Ich hatte mir vorgenommen, bei Gelegenheit etwas über sie zu schreiben.

    Diese Information besagt, daß "Cuba's best-known blogger, Yoani Sánchez, alleged this week that the government blocked access to her blog, which is written in Havana and posted to a Web site registered outside Cuba". Die bekannteste Bloggerin Cubas, Yoani Sánchez, habe behauptet, daß die Regierung den Zugang zu ihrem Blog gesperrt habe.

    Auf Yoani Sánchez bin ich, wie gesagt, durch den erwähnten Hinweis aufmerksam geworden. Ich habe damals ein wenig recherchiert und Erstaunliches gefunden:

    Yoani Sánchez heißt nicht nur wirklich so. Sie lebt nicht nur wirklich in Havanna. Sondern sie geht sogar so weit, ihren Lebenslauf, komplett mit Faksimile ihres Personalausweises, ins Netz zu stellen.

    Ihr Blog trägt den ironischen Titel Generación Y, was zum einen natürlich eine Anspielung auf die "Generation X" ist, zum anderen aber auf den Vornamen der Autorin verweist. Sie rechnet sich zu
    ... gente como yo, con nombres que comienzan o contienen una "y griega". Nacidos en la Cuba de los años 70s y los 80s, marcados por las escuelas al campo, los muñequitos rusos, las salidas ilegales y la frustración

    ... Menschen wie ich, mit Vornamen, die mit einem Ypsilon anfangen oder es enthalten. Geboren im Cuba der 70er und 80er Jahre, geprägt von den Schulen im Freien, den russischen Männeken, den illegalen Ausreisen und der Frustration
    Der Blog wird offensichtlich mit Unterstützung aus Deutschland publiziert. Der Server befindet sich, so steht es in einem Bericht der New York Times vom 6. März dieses Jahres, in Deutschland. Und ein Teil der Beiträge ist auch auf deutsch zu lesen.

    Erstaunliche Beiträge. Erstaunlich offene, mutige Beiträge. Und Beiträge, hinter denen - wie könnte es anders sein - ein Netzwerk steht. Überwiegend sind es Studierende der Informatik, die durch dieses Studium das Privileg eines Zugang zum Internet haben.

    Ihr Internet- Publikationsorgan heißt Consenso (Konsens); dort findet man die einzelnen Blogs verlinkt. Besonders hinweisen möchte ich auf den Blog Desde aquí ("Von hier") von Reinaldo Escobar, dem Ehemann von Yoani Sánchez.



    Was hat es nun mit der Sperrung von Generación Y auf sich? Am 26. März, also am vergangenen Mittwoch, schrieb Sánchez dazu einen erläuternden Artikel. Danach wurde sie am Donnerstag vergangener Woche von einer Freundin darauf aufmerksam gemacht, daß ihr Blog nicht mehr aufgerufen werden konnte. Sie hat das dann nachgeprüft und festgestellt, daß etliche andere "gefährliche" WebSites betroffen waren. Der Filter scheint nicht ganz perfekt zu funktionieren. Manchmal ist die Startseite kurzzeitig noch zu erreichen, die weiteren Seiten aber nicht.

    Yoani Sánchez schließt den Artikel mit einem ironischen Gruß an die mitlesenden Geheimdienst-Leute. Sie würde es begrüßen, wenn diese sich zur Ruhe begäben und aufhörten, den Surfern auf den Leib zu rücken. "No es que vayamos a tocar una sinfonía para ellos, pero quién sabe si llegamos a hilvanar algunos acordes." Nicht, daß wir ihnen dann eine Sinfonie spielten, aber wer weiß, vielleicht käme es dazu, daß wir ein paar Akkorde aneinanderreihen würden.

    Mit Dank an Frankfurter. Für Kommentare und Diskussionen zu diesem Beitrag ist in "Zettels kleinem Zimmer" ein Thread eingerichtet. Wie man sich dort registriert, ist hier zu lesen. Registrierte Teilnehmer können Beiträge schreiben, die sofort automatisch freigeschaltet werden.

    28. März 2008

    Zitat des Tages: "Ein trauriger Tag für die Freiheit der Meinungsäußerung"

    Following threats to our staff of a very serious nature, and some ill informed reports from certain corners of the British media that could directly lead to the harm of some of our staff, Liveleak.com has been left with no other choice but to remove Fitna from our servers.

    This is a sad day for freedom of speech on the net but we have to place the safety and well being of our staff above all else. We would like to thank the thousands of people, from all backgrounds and religions, who gave us their support. They realised LiveLeak.com is a vehicle for many opinions and not just for the support of one.

    Perhaps there is still hope that this situation may produce a discussion that could benefit and educate all of us as to how we can accept one anothers culture.

    We stood for what we believe in, the ability to be heard, but in the end the price was too high.


    (Nach Drohungen gegen unsere Mitarbeiter, die sehr ernsthafter Natur sind, und nach verschiedenen irregehenden Berichten aus bestimmten Ecken der britischen Medien, die einige unserer Mitarbeiter unmittelbar gefährden könnten, blieb Liveleak.com keine andere Wahl, als Fitna von unseren Servern zu entfernen.

    Dies ist ein trauriger Tag für die Freiheit der Meinungsäußerung im Internet, aber wir müssen die Sicherheit und Gesundheit unserer Mitarbeiter über alles andere stellen. Wir möchten den Tausenden von Menschen aus allen Richtungen und Religionen danken, die uns ihre Unterstützung gegeben haben. Sie haben erkannt, daß Liveleak.com eine Plattform für viele Meinungen ist, und nicht nur zur Unterstützung einer einzigen.

    Vielleicht besteht immer noch die Hoffnung, daß diese Situation möglicherweise eine Diskussion hervorbringt, die uns allen nützen und uns allen vermitteln könnte, wie wir unsere Kultur gegenseitig akzeptieren können.

    Wir standen für das, woran wir glauben, nämlich die Fähigkeit, gehört zu werden. Aber am Ende war der Preis zu hoch.)

    Der Medienanbieter liveleak.com zur Begründung dafür, daß er das Video von Geert Wilders vom Server genommen hat.

    Mit Dank an Wullenwever. Für Kommentare und Diskussionen zu diesem Beitrag ist in "Zettels kleinem Zimmer" ein Thread eingerichtet. Wie man sich dort registriert, ist hier zu lesen. Registrierte Teilnehmer können Beiträge schreiben, die sofort automatisch freigeschaltet werden.

    Zettels Meckerecke: Geert Wilders und die "besonnenen Reaktionen"

    Ein Film wird ins Internet gestellt. Darauf passiert das, was Dirk Schümer in der FAZ so beschreibt:
    Alarmstufe Rot in den Niederlanden. Ein Fax geht vom Innenministerium in Den Haag an alle Gemeinden im Land: Wilders' Film steht im Internet. Die holländischen Polizeicorps werden in Alarmbereitschaft versetzt, bei den Botschaften in muslimischen Ländern tritt ein lange ausgearbeiteter Stufenplan in Kraft, der Notrufrichtlinien, Reisewarnungen und für den äußersten Fall sogar Evakuierungen umfasst.
    Was ist da los?

    Ein Filmemacher, der auch Politiker ist, hat eine bestimmte Meinung zum Islam und drückt sie in diesem Film aus. So, wie andere eine vielleicht ebenso negative Meinung zum Christentum, zum Kapitalismus, zum Kommunismus, zu sonst einer Religion, einem Gesellschaftssystem oder was immer haben und das künstlerisch, agitatorisch oder - wie anscheinend hier - künstlerisch- agitatorisch umsetzen. (Das NRC Handelblad hat laut Schümers den Film in dieselbe Kategorie gestellt wie die Filme Michael Moores oder Gores "Eine umbequeme Wahrheit").

    Also ein normaler, ja ein banaler Vorgang: Ist das ein Grund, die Polizei in Alarmbereitschaft zu versetzen?

    Es scheint so.

    Denn spätestens seit dem Streit um die "Mohammed- Karikaturen" wird eine intolerante, aufgeregte, ja gewaltsame Reaktion von Moslems auf derartige Kritik an ihrem Glauben offenbar nicht nur befürchtet, sondern nachgerade in Rechnung gestellt.

    So daß es nun schon einen Aufmacher wert ist, wenn das Selbstverständliche zu berichten ist: Daß jemand seine Meinung in dieser filmischen Form ausgedrückt hat, ohne daß es sofort zu Demonstrationen und Aufruhr gekommen ist. Im Augenblick macht Welt Online mit der Schlagzeile auf: "Muslime reagieren besonnen auf Anti-Koran-Film".

    Na toll. Da dürfen wir uns aber freuen.

    So, nicht wahr, wie wir uns darüber gefreut haben, daß die amerikanischen Konservativen besonnen auf die Anti- Bush- Filme Michael Moores reagiert haben.

    Und sogar die Umweltskeptiker haben besonnen auf das "Machwerk", auf "ein plumpes und pauschales Propaganda- Video" (so in der "Frankfurter Rundschau" Stephan Hebel über den Film von Wilders) von Al Gore reagiert.

    Allerdings brachten diese besonnenen Reaktionen keine Schlagzeilen.



    Alter Witz: "Heute habe ich meinem Hund eine Freude gemacht. Ich habe ihn erst geschlagen. Dann habe ich aufgehört. Da hat er sich gefreut".

    Mit ihrer Intoleranz, mit ihren Reaktionen auf Rushdie, auf die Mohammed- Karikaturen haben es radikale Moslems fertiggebracht, daß wir uns wie der Hund im dem Witz schon freuen, wenn sie einmal nichts tun.

    Zumindest nichts in Form von Demonstrationen und Aufruhr, zumindest bisher. Hinter den Kulissen allerdings scheinen Islamisten nicht untätig zu sein.

    In Zettels kleinem Zimmer hat C. heute Abend um 19.53 Uhr zwei Sites verlinkt, die den Film zur Verfügung stellten. Eine davon tut es nicht mehr.

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    Zitat des Tages: "Ich bin ein Mensch, dem jedes Fühlen fehlt"

    [Je suis] un être mauvais et dénué de tout sentiment humain.

    ([Ich bin] jemand, der böse ist und dem jedes menschliche Fühlen fehlt).

    Der geständige Massenmörder Michel Fourniret in einem Schriftstück, das er zu Beginn seines Prozesses dem Gericht überreichen ließ.

    Kommentar: Von anderen geäußert - etwa von einem Ankläger - wäre das ein vernichtendes Urteil über einen Menschen. Als Selbstbeschreibung des Mörders kann man es auch als so etwas wie ein Entschuldigen seiner Taten verstehen.

    Und auch als eine leidenschaftslose Selbstwahrnehmung. In diesem emotionslosen, sozusagen achselzuckenden Blick auf sich selbst, in der Art, wie Fourniret das formuliert, könnte sich eben jener Mangel an menschlichem Fühlen ausdrücken, den er formuliert.

    Anläßlich eines Interviews mit dem Philosophen John Searle in der FAZ habe ich mich hier kürzlich mit dem Problem der Willensfreiheit befaßt. Bei der Diskussion dieses Problems geht es aus meiner Sicht zentral um die Frage der Verantwortlichkeit.

    In einem Fall wie dem von Fourniret darum, welche Konsequenzen zu ziehen sind, wenn man der Auffassung ist, daß die Handlungen eines Menschen vollständig durch die ihnen vorausgehenden Prozesse im Gehirn determiniert sind.

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    Marginalie: Wie verbrachte Saddam Hussein die Tage vor seiner Hinrichtung?

    Mich interessiert das. Man kann einwenden, daß es doch unerheblich sei, wie Saddam Hussein seine letzten Tage verbrachte; daß das Interesse daran nicht nur eine unziemliche Neugier erkennen lasse, sondern auch eine bedauerliche, wenn nicht gar gefährliche Neigung, Politisches zu vermenscheln.

    Sei's drum. Also, wenn es Sie auch interessiert, wie Saddam Hussein vor seiner Hinrichtung lebte und was er tat: CNN hat gestern darüber berichtet. Die CNN-Reporterin Kyra Phillips durfte seine Zelle besuchen, dort Aufnahmen machen, mit Generalmajor Doug Stone sprechen, der für Saddam während seiner Gefangenschaft verantwortlich war.

    Man sah die Zelle, in der Saddam lebte und arbeitete. Ja, arbeitete, denn er schrieb fast unaufhörlich. Was schrieb er? Er schrieb Geschichte, jedenfalls wollte er das, versuchte er das.

    Er schrieb, wie es alles gewesen war, aus seiner Sicht. Um sich zu rechtfertigen, offensichtlich. Und er schrieb es in einem manchmal nachgerade poetischen Stil. Zum Beispiel über die Bombardierung Bagdads:
    The nights are darker after the sunset, but the smoke and the burning overwhelms the city. You will feel suffocated under its skies. The days are now nights. No stars. No moon, but lots of screams.

    Die Nächte sind dunkler nach Sonnenuntergang, aber der Rauch und das Lodern begraben die Stadt. Man fühlt sich am Ersticken unter ihren Himmeln. Die Tage sind jetzt Nächte. Keine Sterne. Kein Mond, aber viel Schreien.
    In einem anderen Text wendet Saddam sich an seine Landsleute:
    Dear nation: Get rid of the hatred, take the clothes of hate and throw it into the ocean of hatred. God will save you and you will start a clean life, with a clean heart.

    Liebe Nation, mache dich frei von diesem Haß. Nimm die Kleider des Hasses und wirf sie in den Ozean des Hasses. Gott wird euch erretten, und ihr werdet ein reines Leben beginnen, mit einem reinen Herzen.


    Nicht nur in seiner Zelle schrieb Saddam solche Sätze, die der Reporterin Phillips als "poetry" erscheinen, als Lyrik. Sondern auch in seinem Garten.

    Ja, in seinem Garten. Denn man hatte ihm einen kleinen Garten eingerichtet, den er von seiner Zelle aus direkt betreten konnte. Dort hatte er mehrere Beete angelegt; allerdings wollte nicht so recht gedeihen, was er dort gepflanzt hatte.

    Im Gärtchen hatte man ihm ebenfalls einen Arbeitsplatz hergerichtet. Da er den Stuhl unbequem fand, hatte man ihm die Armlehnen nachträglich gepolstert. In den Garten ging er auch, wenn er eine Zigarre rauchen wollte.

    Angeredet wurde Saddam mit "Vic". Keine Abkürzung von "Victor". Sondern das Wachpersonal war sich zunächst unschlüssig gewesen, wie man ihn nennen solle; "Mr. President" fand man irgendwie unpassend. Saddam nun hatte gesehen, daß hinter seinem Namen in einem Document "VIC" stand und fragte, was das bedeute. "Very Important Criminal" sagte man ihm, "sehr wichtiger Verbrecher". So solle man ihn denn anreden, war Saddams Antwort. Fortan hieß er beim Wachpersonal "Vic".



    Ja, nicht wahr, das sind so Anekdötchen, die einen fast vergessen lassen, daß es sich um einen Massenmörder handelt, dessen verehrtes Vorbild Stalin war und dessen eigene Gefangene einer etwas anderen Behandlung unterworfen worden waren als jetzt Saddam selbst in der Obhut der US Army. (Wer es ertragen kann und will, kann sich hier ansehen, wie Saddams Leute mit Gefangenen umgingen).

    Das letzte Bild, das die US-Wachmannschaft aufnahm, bevor Saddam zur Exekution and die Irakis übergeben wurde, zeigt ihn mit einem verärgerten Blick. Der Grund sei gewesen, sagte Generalmajor Stone, daß er eine Beschriftung entdeckt hatte, auf der sein Name falsch geschrieben war.

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    27. März 2008

    Zitat des Tages: "Es wäre ein skrupelloser Akt des Verrats ... "

    We have incurred a moral responsibility in Iraq. It would be an unconscionable act of betrayal, a stain on our character as a great nation, if we were to walk away from the Iraqi people and consign them to the horrendous violence, ethnic cleaning and possibly genocide that would follow a reckless, irresponsible and premature withdrawal.

    (Wir sind im Irak eine moralische Verantwortung eingegangen. Es wäre ein skrupelloser Akt des Verrats, ein Fleck auf unserem Charakter als eine große Nation, wenn wir das irakische Volk im Stich ließen und es der entsetzlichen Gewalt, ethnischer Säuberung und möglicherweis einem Völkermord auslieferten, die auf einen rücksichtslosen, unverantwortlichen und voreiligen Rückzug folgen würden).

    John McCain gestern in einer Rede über seine Außenpolitik im Fall seiner Wahl zum Präsidenten vor dem World Affairs Council in Los Angeles.

    Kommentar: Man vergleiche das mit dem, was Barack Obama und vor allem Hillary Clinton für den Fall ihrer Präsidentschaft den Irakern in Aussicht gestellt haben. Dann hat man den Unterschied zwischen einer verantwortlichen Außenpolitik und einer, die das nicht ist.

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    Marginalie: Die Bedeutung der jetzigen Offensive im Südirak

    Im ersten Beitrag zu der Serie "Ketzereien zum Irak" habe ich im Dezember 2006 über eine Analyse des irakischen Bloggers Omar berichtet ("Iraq the Model"; ein damals ausgezeichneter Blog. Inzwischen sind die beiden Autoren nicht mehr im Irak und schreiben nur noch selten).

    Omar sah es damals als kritisch für die künftige Entwicklung im Irak an, daß die demokratisch gesonnenen Schiiten um Ministerpräsident Maliki sich aus der Nähe zu den schiitischen Extremisten Sadrs befreien. Das war schwierig, vielleicht unmöglich, solange die Gemäßigten nicht über hinreichend schlagkräftige Sicherheitskräfte verfügten, um mit den Milizen Sadrs fertigzuwerden.

    Jetzt hat sich das offenbar geändert. Die jetzige Offensive im Süden des Irak, in der Region Basra nahe der iranischen Grenze, ist die erste große selbständige Aktion der Regierungstruppen gegen die vom Iran unterstützten Sadr- Milizen.

    Diese Entwicklung, in der die Front "Sunniten gegen Schiiten" zunehmend von der Frontstellung "Gemäßigte gegen Extremisten" abgelöst wird, vollzieht sich parallel bei den Schiiten und den Sunniten. Während die jetzige Offensive Malikis gegen die Sadr- Milizen eine neue Entwicklung signalisiert, ist der Kampf der gemäßigten Sunniten (des "Awakening Movement" und der Freiwilligen- Truppe "Sons of Iraq") gegen die ebenfalls sunnitische El Kaida schon seit letztem Jahr erfolgreich.

    Die jetzige Offensive im Südirak ist umso bemerkenswerter, als die Engländer sich ja dort inzwischen militärisch zurückgezogen haben. Sie zeigt, welche Fortschritte der Aufbau der irakischen Sicherheitskräfte inzwischen gemacht hat.

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    26. März 2008

    Marginalie: Soll man boykottieren? - Peking 2008, Berlin 1936

    Die Parallele liegt auf der Hand: Wie Nazi- Deutschland 1936 will jetzt das kommunistische China perfekte Olympische Spiele inszenieren, mit zwei Zielen: Erstens der Welt zeigen, was für ein tolles, effizientes politisches und gesellschaftliches System da am Werk ist. Zweitens der Welt das Bild eines freundlichen, liberalen Regimes vermitteln.

    1936 hat Hitler sogar Zusagen gemacht, daß auch jüdische Sportler in der deutschen Mannschaft sein würden und daß das Reich die Spiele nicht zur Propaganda mißbrauchen werde. Auch Peking will anläßlich der Spiele China als ein weltoffenes, modernes Land präsentieren.

    Was von Hitlers Zusagen zu halten war, weiß man. Die damals weitverbreiteten Hoffnungen, nach den Spielen werde das Regime sich liberalisieren, erwiesen sich als ganz unbegründet.

    Jetzt werden solche Hoffnungen in Bezug auf das kommunistische Regime in China geäußert. Sind sie besser begründet als die, die man in den westlichen Demokratien in Bezug auf die Reformierbarkeit des Nazi- Regimes hatte?

    Ich habe da erhebliche Zweifel.

    Gewiß hat der Grünen- Politiker und jetzige Olympia- Funktionär Vesper Recht, wenn er daran erinnert, daß nach dem Boykott der Olymischen Spiele "Moskau seine Truppen bekanntlich nicht stante pede abgezogen" habe, nämlich aus Afghanistan. Nur - hätte es sie denn ohne diesen damaligen Boykott abgezogen?

    Hätte der Sowjetkommunismus sich liberalisiert, wenn er sich der Welt so unbehelligt propagandistisch hätte darstellen können wie Hitler 1936 den NS-Staat? Nein. Er wäre 1980 ebenso gestärkt aus diesen Spielen hervorgegangen wie das Nazi- Regime 1936. Und daß nach dem Fiasko dieser Olympischen Spiele das Sowjetreich zu bröckeln begann, wird man zwar nicht vor allem dem Boykott zurechnen können; aber geschadet hat er sicherlich nicht.

    So wird es auch jetzt sein. Diese Olympischen Spiele werden, wenn sie wie geplant ablaufen, den chinesischen Kommunismus stärken.



    Also boykottieren? Ich weiß nicht. Der Fehler, die Ursünde war, die Spiele überhaupt nach Peking zu vergeben. Man kannte ja China, als man das getan hat. Tibet wurde damals ebenso unterdrückt wie heute, nur war das nicht in den Schlagzeilen.

    Die Chinesen können auf einen Boykott zu Recht erwidern, daß die Geschäftsbedingungen bekannt gewesen seien, als sie den den Zuschlag erhielten. Jetzt heißt es: "Pacta sunt servanda".

    Nur - mehr als das Vereinbarte muß niemand tun. Wenn die Chinesen so weltoffen sind, wie sie sich darstellen, dann sollten die Sportler, sollten vor allem die Offiziellen, von dieser Freiheit schon Gebrauch machen, wenn sie in Peking sind. Indem sie zum Beispiel offen ihre Meinung zu den Vorgängen in Tibet sagen.

    So offen, daß auch die Presse es hört. Daß die Reporter es mitschreiben, daß die TV-Kameras es übertragen. Mitten aus Peking.

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    Zitat des Tages: "... bis ins Parlament und wieder zurück"

    Angelika Beer (MdEP, Bündnis/90 Die Grünen, ehemals Mitglied im Kommunistischen Bund) spricht auf dem Podium "Protest und Parlament. Von der APO bis ins Parlament und wieder zurück."

    Aus der Ankündigung für den Kongreß "40 Jahre 1968", der vom 2. bis 4. Mai in an der Humboldt- Universität Berlin stattfindet.

    Kommentar: Dieser Kongreß ist ein schönes Beispiel dafür, wie das Netzwerk zwischen linken Sozialdemokraten, linken Grünen und Kommunisten funktioniert. Organisiert wird der Kongreß von dem kommunistischen Studentenverband Die Linke. SDS. Das hindert aber weder die Grüne Angelika Beer, dort als Rednerin aufzutreten, noch die Juso- Bundesvorsitzende Franziska Drohsel (Vortragsthema: "Die Organisationsfrage damals und heute").



    In ihrem ansonsten sehr detaillierten Lebenslauf auf ihrer WebSite als Abgeordnete des Europäischen Parlaments verschweigt Beer übrigens ihre kommunistische Vergangenheit.

    Was in diesem Lebenslauf sehr ausführlich dargestellt wird, ist hingegen das militärpolitische Engagement von Beer: "Mitglied in der parlamentarischen Versammlung der NATO-und des Europarates. (...); verteidigungspolitische Sprecherin und Obfrau von Bündnis 90/Die Grünen im Verteidigungsausschuss (...); Mitglied in der Nordatlantischen Versammlung; (...) Mitglied im Berliner Informationszentrum für transatlantische Sicherheit."

    Interessant, nicht war, wie Frau Beer ihr Engagement für die NATO in Einklang bringt mit der Teilnahme an diesem Kongreß, auf dem beispielsweise Katja Kipping, stellvertretende Vorsitzende der Partei "Die Linke" für eine Podiumsdiskussion angekündigt wird mit dem Thema "Schafft zwei, drei viele Vietnams? Möglichkeiten und Grenzen nationaler Befreiungsbewegungen".

    Ob Frau Beer diesen Kongreß vielleicht nur sozusagen zwecks Feindbeobachtung besucht?

    Mit Dank an Zuppi. Für Kommentare und Diskussionen zu diesem Beitrag ist in "Zettels kleinem Zimmer" ein Thread eingerichtet. Wie man sich dort registriert, ist hier zu lesen. Registrierte Teilnehmer können Beiträge schreiben, die sofort automatisch freigeschaltet werden.

    25. März 2008

    Gibt es einen freien Willen, ja oder nein? Bitte entscheiden Sie sich für eine Antwort, bevor Sie diesen Artikel lesen!

    Sie haben sich entschieden? Sie haben sich dafür entschieden, daß es einen freien Willen gibt? Oder haben Sie sich dafür entschieden, daß es keinen freien Willen gibt; daß wir vollständig determiniert sind? Oder haben Sie vielleicht mein Ansinnen, sich zu entscheiden, als eine Zumutung empfunden, sind in Reaktanz gegangen und haben sich entschlossen, die Antwort zu verweigern?

    Wie auch immer Ihre Entscheidung ausgefallen ist - offensichtlich haben Sie sie frei getroffen.

    Oder hatten Sie den Eindruck, sie unter Zwang zu treffen? Ich hoffe nicht. Wenn doch, dann würde ich Ihnen empfehlen, einen Psychiater aufzusuchen. Aus freien Stücken. Bevor es zu spät ist und etwa jemand auf den Gedanken kommt, Sie wegen einer schweren anankastischen Störung einem Psychiater vorzustellen. Ohne Ihren Willen, vielleicht gegen Ihren Willen.



    Nehmen Sie mir diese harten Worte nicht übel, liebe Leser. Ich möchte Sie ja nur auf etwas aufmerksam machen, Sie sozusagen mit der Nase darauf stoßen, was wir alle wissen, außer einigen Philosophen und Neuro- Wissenschaftlern: Wir können, solange wir gesund sind, gar nicht existieren, ohne ständig von unserem freien Willen Gebrauch zu machen.

    An seiner Existenz zu zweifeln ist ungefähr so begründet, als würden wir daran zweifeln, daß es Wasser gibt, von dem doch unsere körperliche Existenz abhängt. Just so ist unsere psychische Existenz als menschliche Individuen ohne einen freien Wille nicht möglich.

    Schön und gut, werden Sie vielleicht sagen. Na und? Natürlich sind wir frei. Wo ist das Problem?

    Das Problem ist, daß der freie Wille nicht in das wissenschftliche Weltbild paßt. Er paßt nicht in ein Weltbild, das sich dermaßen bewährt hat und sich sozusagen minütlich weiter bewährt, daß es nachgerade ein Akt des Mutwillens wäre, es an dieser entscheidenden Stelle zu durchbrechen.

    Der freie Wille paßt nicht in das wissenschaftliche Weltbild. Denn dieses Weltbild basiert auf der Überzeugung von der kausalen Geschlossenheit der Welt. Kausale Geschlossenheit, das heißt: Was in der Welt passiert, das hat seine Ursachen auch in dieser Welt, und in ihr allein. Niemand greift da von außen ein.

    Kein Gott greift ein in diese Welt, die nach ihren Gesetzen, den Naturgesetzen, funktioniert. Und ebensowenig ein Mensch, wenn er sich entscheidet, etwas zu tun oder zu lassen. Wo kämen wir da hin?

    In Teufels Küche kämen wir. Oder wir würden bei Heinz Erhard landen, der - er spielt in dem betreffenden Film einen Ehemann, der scheinbar in flagranti ertappt wird - den schönen Satz findet: "Im Leben geht alles natürlich zu. Nur die Hose geht natürlich nicht zu".



    Also, wir haben da ein Problem. Die tägliche Erfahrung sagt uns, daß wir uns frei entscheiden können. Die Wissenschaft sagt uns, daß die Welt kausal geschlossen ist. Kein Platz für den Willen, der ja immer auch ein Moment der Willkür hat. Des Willkürlichen also, des nicht Gesetzmäßigen. In der Natur aber herrschen Gesetze.

    Es gibt ein Dilemma der Willensfreiheit, da beißt die Maus keinen Faden ab.

    Moment, Moment, höre ich Sie da murmeln. Wovon Sie hier schreiben, lieber Zettel, das ist die klassische Mechanik; das ist so verstaubt wie Ihre Metapher mit der Maus und dem Faden. Den Laplace'schen Dämon haben Sie vor Augen, der immerhin zweihundert Jahre auf dem Buckel hat. Das ist doch Schnee von gestern, billigster Determinismus.

    "Quantenmechanik!" möchten Sie mir vielleicht zurufen.

    Tja, die Quantenmechanik. Ich glaube, es war der deutsche Physiker Pascual Jordan, der als erster den Gedanken hatte, die Willensfreiheit mit Hilfe der Quantenmechanik zu retten. Heute gibt es ein sehr rühriges und sehr gut mit Forschungsmitteln ausgerüstetes Grüppchen um den Physiker Roger Penrose und den Anästhesie- Arzt Stuart Hameroff, das sich auf den Spuren des Quantum Mind wähnt, der Quantenseele.

    Vielleicht ist es die richtige Spur. Vorläufig weiß das niemand, weil die Belege für die Richtigkeit der Theorie von Penrose und Hameroff gegen Null tendieren. Aber nehmen wir einmal an, sie hätten Recht - würde uns das aus dem Dilemma der Willensfreiheit befreien?

    Leider überhaupt nicht. Denn innerhalb der Quantenmechanik ist das Gegenteil von Determinismus Zufall. Der "Ort" eines Teilchens ist, bis es beobachtet wird, eine Wahrscheinlichkeitsfunktion. Also eigentlich gar kein Ort. Erst im Augenblick der Beobachtung - vielleicht auch in anderen Fällen ("objective reduction" oder "self-collapse", meinen Penrose und Hameroff) - "bricht sie zusammen", diese Wellenfunktion. Und aus ihrem Kollaps geht der Ort eines Teilchens hervor, den wir messen können.

    Für die Willensfreiheit bringt uns das exakt nichts.

    Sie besteht ja nicht darin, daß wir uns zufällig verhalten, sondern daß wir uns frei und verantwortlich entscheiden können. Würde - was die meisten Physiker wohl nicht glauben - die Quantenmechanik sich irgendwie auch auf der Makro- Ebene unseres Denkens, Entscheidens, Verhaltens auswirken, dann bliebe die kausale Geschlossenheit der Welt dennoch erhalten. Kausal geschlossen ist auch eine Welt, in der es auf einer bestimmten Ebene probabilistisch zugeht.



    In Frage gestellt wird diese kausale Geschlossenheit der Welt durch Willensfreiheit. Dadurch, daß - sagen wir - mein Finger eine Taste drückt, wenn ich es will. Etwas Mentales soll, so suggeriert es uns unser Konzept von Willensfreiheit, etwas Physisches bewirken. Mentale Verursachung also; der verlinkte Wikipedia- Artikel ist kompetent geschrieben und detailliert.

    Dieser mentale Akt liegt nicht nur außerhalb dessen, was wir naturwissenschaftlich erfassen können, sondern - schlimmer - er ist völlig überflüssig. Denn daß ich den Buchstaben tippe, das kann der äußere Beobachter vollständig und befriedigend als Resultat der vorausgehenden Prozesse in meinem Gehirn erklären; vor allem derjenigen im motorischen Kortex, die im EEG mit dem sogenannten Bereitschafts- Potential einhergehen.

    Diese Prozesse aber spielen sich natürlich - ganz natürlich! - innerhalb der kausal geschlossenen Welt ab. Sie sind die Folge von Ereignissen, sie sind die Ursache von Ereignissen. Freiheit gibt es da nicht.

    Es sind die vorausgehenden Vorgänge im Gehirn, die dazu führen, daß zum Zeitpunkt x mein Finger die Taste drückt; diese allein. So sagt es uns die naturwissenschaftliche Sicht, so paßt es in deren millionenfach bewährtes Weltbild. Wenn es bei diesem Vorgang (wenn ich ihn denn "willentlich" auslöse; etwa so, wie wenn Sie jetzt das Lesen unterbrechen und sich entschließen, den Buchstaben Q zu tippen) einen Vorausgehenden "freien Entschluß" gibt, so ist dieser allenfalls ein Epiphänomen.

    Es gibt das halt. Es begleitet die Prozesse, die dem Vorgang vorausgehen. Eine Laune der Natur. "Kausale Kraft" (causal power) hat es nicht. So wenig, wie der König, der im "Kleinen Prinzen" einen Asteroiden bewohnt, die Sonne wirklich nach Belieben aufgehen lassen kann; auch wenn er das dem Kleinen Prinzen versichert. Sicherheitshalber wartet er bis jeweils zur Morgendämmerung, bevor er diesen Befehl erteilt.



    Also ist das Bewußtsein der Willensfreiheit nur eine Täuschung? Wissen wir am Ende selbst nicht, warum wir etwas tun? Sind wir Marionetten, die in der Illusion leben, sie selbst und nicht der Puppenspieler bewegten ihre Glieder?

    Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Denn die Sache mit dem Epiphänomen ist aus zwei Gründen unbefriedigend.

    Erstens ist damit nicht erklärt, warum wir denn dieses Bewußtsein der Willensfreiheit haben, wenn es diese gar nicht gibt: Wirklich eine Laune der Natur als Ergebnis einer Evolution, die doch stets nur das funktionell Zweckmäßige weiterbestehen läßt?

    Und zweitens wäre dies eine seltsame Illusion - eine nämlich, die überhaupt nicht durch Aufklärung zu beseitigen wäre. Versuchen Sie einmal, es Theoretikern wie dem deutschen Neurobiologen Wolf Singer abzunehmen, daß Ihr freier Wille eine Illusion ist. Es geht nicht. Wenn Sie jetzt den Entschluß fassen, diesen Text nicht weiterzulesen - oder ihn weiterzulesen, was mich ja freuen würde -, dann ist es aus mit der Illusion von der Illusion. Sie haben sich frei entschieden.

    Die Willensfreiheit ist also ein Dilemma. Aber das heißt ja nicht, daß man nicht herauskommen könnte aus dem Dilemma.

    Die Wissenschaft leistet so etwas immer wieder. Das Zenon'sche Paradox von Achilles und der Schildkröte verschwand mit der Erfindung der Infinitesimalrechnung. Licht - das sind zugleich Wellen und Partikel; für die Quantenmechanik kein Dilemma. Warum soll die Wissenschaft nicht auch eine Lösung für das Dilemma des Bewußtseins der Willensfreiheit finden?

    Daß wir überhaupt in der Lage sind, die mit Bewußtsein einhergehenden Vorgänge im Gehirn auch nur ansatzweise zu messen, ist ja kaum ein paar Jahrzehnte her. Die Forschung, aus der vielleicht einmal ein naturwissenschaftliches Verständnis der Willensfreiheit hervorgehen wird, ist jetzt nicht älter als die Physik zur Zeit Newtons.

    Vielleicht wird es einmal gelingen, die Willensfreiheit und die kausale Geschlossenheit der Welt miteinander in Einklang zu bringen. Vielleicht aber auch nicht. Velleicht müssen wir uns - das war die Meinung Kants - damit zufriedengeben, daß im einen Kontext (dem der Erkenntnis, der "reinen Vernunft") das eine und im anderen Kontext (dem der Ethik, der "praktischen Vernunft") das andere gilt. Das ist alles beim heutigen Stand unseres Unwissens noch offen.

    Erstaunlich viele Menschen - darunter auch viele Philosophen, viele Neurobiologen und Kognitionsforscher - glauben allerdings, sie wüßten, wie es denn mit der Willensfreiheit bestellt ist.

    Die einen sind so felsenfest von der "Existenz der Willensfreiheit" überzeugt, wie die anderen diese bestreiten. Vor ein paar Jahren wurde diese Kontroverse in Deutschland gar in Form von regelrechten Manifesten (PDF) ausgetragen; siehe auch hier.



    Bei so viel Gewißheit auf der einen wie der anderen Seite tut es gut, einen Wissenschaftler zu vernehmen, der sich zu der Unwissenheit bekennt, in der wir uns nun einmal in Bezug auf das Dilemma der Willensfreiheit befinden.

    John Searle ist einer der angesehendsten amerikanischen Philosophen. Das Interview, das Christine Brinck für die heutige FAZ mit ihm führte, hat mich zu diesem Beitrag veranlaßt.

    Man darf sich John Searle nicht wie einen deutschen Philosophie- Professor vorstellen. Er wirkt, wenn er einen Vortrag hält oder auf einer Konferenz diskutiert, eher wie eine Mischung aus Wanderprediger und Conferencier. Ein lebhafter, ja leidenschaftlich kritischer Denker; ein Mann mit der Neigung, wie der Junge in "Des Kaises neue Kleider" zu sagen, daß der Kaiser nackt ist.

    Und er sagt das deutlich, dröhnend und fröhlich.

    Mit diesr Art wurde er berühmt, als er 1980, mitten in der Begeisterung über die Künstliche Intelligenz, von der sich viele damals eine Lösung des Bewußtseins- Problems versprachen, mit seinem Artikel über das "Zimmer des Chinesischen" dieser Euphorie einen kräftigen Dämpfer verpaßte.

    In dem Interview mit Christine Brinck ist Searle munter und angriffslustig wie eh und je. Ich empfehle sehr die Lektüre.

    Und wenn Sie Zeit haben, lesen Sie bitte auch die Kommentare von Lesern. Sie zeigen, wie schlau offenbar Laien auf einem Gebiet sind, auf dem die Wissenschaft - wenn sie ehrlich ist, wie John Searle - noch so ratlos ist.

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    24. März 2008

    Zettels OsterfragerEi (3): Erinnern Sie sich an 1968?

    Dumme Frage, wenn man sie wörtlich nimmt. Wer vor, sagen wir, 1965 oder 1964 geboren ist, der erinnert sich an 1968. Später Geborene nicht.

    Vielleicht haben die um die Jahre 1964, 1965 Geborenen keine Erinnerungen, die sozusagen mit dem Datumsstempel "1968" versehen wären. Das mag erst für diejenigen zutreffen, die noch ein wenig früher geboren sind. Denn unsere frühesten Kindheits- Erinnerungen habe ja sozusagen punktuellen Charakter. Sie sind wie Schnappschüsse, noch ohne den chronologischen Kontext, in den spätere Erinnerungen eingebettet sind wie in eine Filmhandlung.

    Aber so meine ich die Frage natürlich nicht. Ich meine sie im doppelten Sinn nicht so.

    Zum einen möchte ich - wie auch anders - auf die politischen, die gesellschaftlichen Ereignisse hinaus, die sich mit dem Jahr 1968 verknüpfen, auch wenn sie weder in diesem Jahr begannen noch natürlich damals zum Abschluß kamen.

    Zum anderen möchte ich aber auch nicht nur nach autobiographischer Erinnerung fragen. Erinnern tut man sich ja nicht nur an selbst Erlebtes. Erinnerungen in einem anderen Sinn (die Psychologen nennen es semantisches im Unterschied zum episodischen Gedächtnis) haben wir auch an das, was vor "unserer Zeit" gewesen ist.

    Wir wissen es aus Quellen oder vermeinen es aus ihnen zu wissen. Für die ersten Jahre der Kindheit vermischen sich häufig episodisches und semantisches Gedächtnis. Unser Bild davon speist sich teils aus eigenem Erleben, teils aus dem, was Eltern und Verwandte uns über unsere ersten Lebensjahre erzählt haben. Auch mit dem, was wir in Fotoalben aus dieser Zeit gefunden haben; die Jüngeren vielleicht auch in Videos, die ihre Eltern gedreht haben.



    Im Grunde gilt es für jede autobiographische, "episodische" Erinnerung, daß sie mit solchen "semantischen" Elementen durchsetzt ist.

    So ist es auch, wenn ich es recht bedenke, bei meinen eigenen Erinnerungen an die Zeit, die man heute mit der Jahreszahl 1968 assoziiert. Dem damals Erlebten überlagt sich das, was man später über diese Jahre gelesen, gesehen, gehört hat.

    Das ist eben nicht nur bei Erinnerungen aus der frühen Kindheit so. Es gilt auch für eine Zeit, in der man - wie ich 1968 - schon recht erwachsen geworden ist. Die Erinnerung auch an diese späteren Lebenszeiten ist nicht wie ein gespeicherter Film; sie ist wie eine Datei, die ständig editiert, die in Teilen überschrieben wird.

    Also, lieber Leser und liebe Leserin: Nach Ihren Erinnerungen - in diesem jetzt erläuterten Sinn - an dieses 1968, an die es umgebenden Jahre möchte ich mich gern in dieser dritten OsterfragerEi erkundigen.

    Und danach, wie die später Geborenen diese Zeit in ihrem semantischen Gedächtnis, wie sie sie als Teil ihres "Weltwissens" gespeichert haben. Auch vielleicht danach, wie sie die betreffenden Quellen - etwa die Erzählungen ihrer Eltern, das in der Schule Gebotene - beurteilen.

    Die erste und die zweite OsterfragerEi haben viele interessante, sehr lesenswerte Beiträge erbracht; ich werde sie später, irgendwann nach Ostern, hier in ZR noch in eigenen Artikeln kommentieren. So bin ich auch diesmal auf die Reaktionen sehr gespannt.

    Ja, gewiß doch, ich will gern mit meinen eigenen Erinnerungen den Anfang machen. Hier finden Sie Links zu drei Artikeln, in denen ich aufgeschrieben habe, wie ich diese Zeit erlebt habe. Und hier können Sie eine kleine Skizze dessen lesen, was nach meinem Verständnis aus der Bewegung von 1968 geworden ist; dazu hier den Versuch, einen Bezug zur unmittelbaren Gegenwart herzustellen.



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    Wer sich nicht registrieren, mir aber dennoch seine / ihre Meinung mitteilen möchte, kann das gern auch per Mail tun (Oben rechts: View my complete profile --> Email). Dann bitte mit dem Hinweis, ob ich diese Meinung (anonym oder ggf unter welchem Namen oder Nick) zitieren darf, oder ob ich sie für mich behalten soll.

    23. März 2008

    Zitat des Tages: "Die Hoffnungen für die Zukunft des Irak haben sich sich drastisch verbessert"

    Improved security and economic conditions have reversed Iraqis' spiral of despair, sharply improving hopes for the country's future. Yet deep problems remain, in terms of security, living conditions, reconciliation and political progress alike.

    Fifty-five percent of Iraqis say things in their own lives are going well, well up from 39 percent as recently as August. More, 62 percent, rate local security positively, up 19 points. And the number who expect conditions nationally to improve in the year ahead has doubled, to 46 percent.


    (Verbesserungen der Sicherheit und der wirtschaftlichen Verhältnisse haben die Spirale der Verzweiflung bei den Irakern umgekehrt. Die Hoffnungen für die Zukunft des Landes haben sich drastisch verbessert. Allerdings gibt es noch gleichermaßen große Probleme in den Bereichen Sicherheit, Lebensverhältnisse, Versöhnung und politischer Fortschritt.

    Fünfundfünfzig Prozent der Iraker geben an, daß es in ihrem eigenen Leben gut vorangeht, erheblich mehr als die 39 Prozent, die das noch im vergangenen August sagten. Mehr noch, 62 Prozent beurteilen die Sicherheit bei sich zu Hause positiv, eine Verbesserung um 19 Prozentpunkte. Und die Zahl derer, die erwarten, daß die Bedingungen im Land im kommenden Jahr besser werden, hat sich auf 46 Prozent verdoppelt).

    Aus der ausführlichen Dokumentation (PDF) über eine Umfrage, die im Auftrag von ABC News, der BBC, der ARD und dem japanischen Sender NHK vom 12. bis 20. Februar 2008 im Irak durchgeführt wurde. Befragt wurde eine Zufallsstichprobe von 2.228 erwachsenen Irakern. Stichprobenfehler +/- 2,5 Prozent.

    Kommentar: Diese Umfragedaten, die ich sehr zur genauen Lektüre empfehle, bestätigen eindrucksvoll die positive Einschätzung, die Präsident Bush in seiner Rede zum Jahrestag der Invasion gegeben hat.

    Daß Bush dem immensen Druck in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres standgehalten hat, den Krieg verloren zu geben und den Irak seinem Schicksal zu überlassen; daß er den Mut hatte, sogar gegen fast alle Ratschläge die Truppenzahl zu erhöhen, macht ihn aus meiner Sicht zum Mann des Jahres 2007.

    Mit Dank an Werner Senzig. - Für Kommentare und Diskussionen zu diesem Beitrag ist in "Zettels kleinem Zimmer" ein Thread eingerichtet. Wie man sich dort registriert, ist hier zu lesen. Registrierte Teilnehmer können Beiträge schreiben, die sofort automatisch freigeschaltet werden.

    22. März 2008

    Zettels Ostereier: Bunte Sprüche der Achtundsechziger

    Dem Nouvel Observateur aus dem Nest geklaut:
    Il est interdit d'interdire - Das Verbieten ist verboten

    L'imagination au pouvoir - Die Phantasie an die Macht

    Sous les pavés, la plage - Unter dem Pflaster der Strand

    Tout, tout de suite et pour toujours - Alles, ganz schnell und für immer

    Elections pièges à cons - Wahlen, Fallen für die Doofen

    Le respect se perd, n'allez pas le chercher - Der Respekt verliert sich, sucht nicht nach ihm

    Chassez le flic de votre tête - Vertreibt den Bullen aus eurem Kopf

    Consommez plus, vous vivrez moins - Konsumiert mehr, und ihr werdet weniger leben

    Je suis marxiste, tendance Groucho - Ich bin Marxist, Richtung Groucho

    On achète ton bonheur, vole-le - Sie kaufen dein Glück, stiehl es

    Soyez réalistes, demandez l'impossible - Seid Realisten, verlangt das Unmögliche



    Nach so viel Farbe: Ganz schmucklos allen Leserinnen und Lesern Frohe Weißes Ostern 2008!

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    21. März 2008

    Zettels Meckerecke: Welch ein Disaster!

    Anfang dieser Woche berichtete eine Nachrichten- Sprecherin über den Auftakt der diesjährigen Formel-1- Saison. Ferrari sei nicht gut gestartet. Ja, so sagte sie, es habe ein Desaster für Ferrari gegeben.

    Und wie sprach sie das aus? "Disaster" sagte sie. Sie sprach es aus wie "Diskussion". Nicht wie "Debatte".

    Ein Versprecher halt? Nein, ich habe das jetzt schon des öfteren gehört. Es ist eine neue Art von Anglizismus. Oder sagen wir: Eine, die mir bis vor kurzem unbekannt war. Vielleicht treibt sie ja schon des längeren ihr Wesen.

    Englisch heißt das Desaster bekanntlich "Disaster"; ausgesprochen mit einem "i" und nicht etwa "Deisaster". Die deutsche Aussprache beginnt sich offenbar zu dieser englischen hin zu verschieben, sie zu imitieren.

    Eine Variante des Denglischen also. Ein Thema somit eigentlich für die Serie "Anmerkungen zur Sprache".

    Aber diesmal reicht's nur zu einer Meckerecke. Denn mehr ist eigentlich nicht zu sagen als: Leute, muß das denn sein?

    Muß es sein, daß ihr neuerdings das zwar nicht gerade urdeutsche, aber doch schon lange im Deutschen heimische Wort "Ressourcen", ins Denglische abdriftend, "Risoorsen" aussprecht statt "Resursen"? Oder ein Appartement ein "Äpatmänt" nennt?

    Denkt ihr denn wirklich, ihr, die ihr euch dieses phonetischen Denglisch bedient, das klinge moderner, interessanter, irgendwie besser als die überkommene Aussprache im Deutschen (auch wenn diese sich in den beiden Beispielen dem Französischen verdankt)?

    Ich glaub's nicht mal, daß ihr das denkt. Ich glaube, ihr denkt gar nichts. Ihr imitiert einfach nur.

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    20. März 2008

    Zitat des Tages: Aus der Rede von Präsident Bush. Und vom Wegsehen deutscher Medien

    The surge has done more than turn the situation in Iraq around -- it has opened the door to a major strategic victory in the broader war on terror.

    For the terrorists, Iraq was supposed to be the place where al Qaeda rallied Arab masses to drive America out. Instead, Iraq has become the place where Arabs joined with Americans to drive al Qaeda out.

    In Iraq, we are witnessing the first large-scale Arab uprising against Osama bin Laden, his grim ideology, and his murderous network. And the significance of this development cannot be overstated.


    (Der surge [der "Vorstoß", also die Truppenverstärkung und anschließende Offensive; Zettel] hat nicht nur die Lage im Irak gewendet - er hat die Tür für einen wichtigen strategischen Sieg in dem umfassenderen Krieg gegen den Terror geöffnet.

    Für die Terroristen sollte der Irak der Ort werden, an dem die El Kaida die arabischen Massen um sich scharen wollte, um Amerika zu vertreiben. Stattdessen ist der Irak der Ort geworden, an dem sich Araber mit den Amerikanern zusammentaten, um die El Kaida zu vertreiben.

    Im Irak sind wir Zeugen des ersten großen arabischen Aufstands gegen Osama bin Laden, seine unerbittliche Ideologie und sein Netzwerk des Mordens. Und die Bedeutung dieser Entwicklung kann gar nicht genug betont werden.)

    Aus der gestrigen Rede von Präsident Bush zum fünften Jahrestag des Beginns des Irak- Kriegs.

    Kommentar: Wenn man sich die deutsche Berichterstattung zu diesem Jahrestag allgemein und speziell zur Rede des Präsidenten ansieht - der offen agitatorische Bericht von Marc Pitzke in "Spiegel Online" ist wieder einmal nur die zur Kenntlichkeit entstellte Variante des allgemeinen Tenors der deutschen Leitmedien - , dann hat man den Eindruck, diese Medien seien Opfer einer Nachrichtensperre geworden, die sie von der Entwicklung des letzten halben Jahres im Irak abgeschnitten hat.

    Zu dieser Haltung des Wegsehens gehört, daß die dramatische Änderung der Allianzen, die sich bereits im Januar 2007 andeutete, die im März 2007 deutlich erkennbar war und die schon im Juni 2007 ihre militärischen Früchte trug, noch immer von den meisten unserer Medien nicht zur Kenntnis genommen wird. (Einen Überblick über die weiteren Beiträge der Serie "Ketzereien zum Irak", in der diese Entwicklung dokumentiert ist, findet man hier).

    Eine Zeitlang konnte die El Kaida hoffen, zu so etwas wie der Kerntruppe eines allgemeinen Aufstands der Sunniten zu werden. Aber das ist lange vorbei.

    Die sunnitischen Stämme in den Provinzen, in denen die El Kaida das versucht hatte - vor allem Anbar, Salahadin und Dilaya nördlich von Bagdad - erkannten sehr bald, welche mörderische und fanatische Besatzungstruppe da agierte und wo ihre, der Beduinen, wahre Interessen lagen.

    Allerdings hatten die Beduinen zunächst auf eigene Faust die El Kaida bekämpft und gezögert, sich offen auf die Seite der USA zu stellen, solange diese am Verlieren zu sein schienen.

    Das hat sich mit dem surge geändert. Inzwischen rekrutiert sich aus diesen Stämmen eine Anti- El-Kaida- Truppe (die "Sons of Iraq"), die bereits 91.000 Freiwillige umfaßt.

    In unseren Leitmedien ist davon wenig zu erfahren. Kein Wunder, daß viele Leser es "Spiegel Online" abnehmen dürften, daß die Rede Präsident Bushs "Schönfärberei" sei.

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    Zettels OsterfragerEi (2): Warum gilt die Mathematik als grau und langweilig?

    In der Schule habe ich mich immer für Mathematik interessiert und bin darin auch gut gewesen. Meist hatte ich eine Eins; nur nicht in dem Jahr, in dem wir die Logarithmen- Rechnung hatten. Die fand ich langweilig, und außerdem habe ich mich beim Nachschlagen und Rechnen ständig vertan. Aber das übrige - von der Euklidischen Geometrie bis zur Analysis und Analytischen Geometrie -, das fand ich immer sehr spannend.

    Wie, lieber Leser, reagieren Sie auf dieses Bekenntnis? Ich vermute, ich bin Ihnen dadurch nicht sympathischer geworden. Ja, wenn ich geschrieben hätte: "In der Schule habe ich mich immer für Literatur interessiert und habe viel gelesen", dann hätte ich damit vermutlich in Ihren Augen gewonnen.

    Aber Mathematik? Geben Sie's zu: Vor Ihrem geistigen Auge steht jetzt Zettel, ein vielleicht intelligenter, aber etwas verschrobener, weltfremder Mensch. Einer, dem es vermutlich an Phantasie fehlt und an Wärme; sonst hätte er sich als Schüler ja nicht in die abstrakte, blutleere Welt der Zahlen geflüchtet.

    Nur ist sie ja nicht abstrakt und blutleer, die Mathematik. Sie kann sinnlich sein wie ein erotischer Roman, spannend wie ein Krimi. Sie hat einen ästhetischen Reiz, der von wenigen Kunstgattungen überboten wird. Die Mathematik ist bunt und aufregend.



    Kennen Sie nicht diese Spannung, wenn man für einen mathematischen Satz einen Beweis sucht, dies und jenes probiert, und plötzlich fällt es einem wie Schuppen von den Augen: Ja, so, genau so, muß es gehen! Haben Sie das nie gehabt, diesen Musterfall eines Aha- Erlebnisses?

    Nicht immer geht es so, genau so. Manchmal erweist sich der Geistesblitz als ein fahles Flämmchen, das schnell wieder verlischt. Aber wenn man es dann gefunden hat und jenes magische Q.E.D. unter die letzte Gleichung schreibt - was ist dagegen der Augenblick, wenn der Kommissar im Krimi die Verdächtigen um sich versammelt und den Fall aufklärt!

    Er ist ein kleiner Triumph, dieser erfolgreiche Beweis. Aus einer Vermutung ist Gewißheit geworden. Und besonders schön ist es, wenn man einen "eleganten" Beweis gefunden hat. Denn Eleganz ist eine Grundkategorie der Mathematik. Wer spricht da von grau und langweilig?



    Haben Sie nie den ästhetischen Reiz der Euklidischen Geometrie erlebt? Dieses perfekten Gebäudes, schöner als die meisten Werke der Architektur?

    Es beginnt mit dem Punkt, dann kommt die Linie (die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten), die Gerade (die ins Unendliche erweiterte Linie). Es wird definiert, was ein Kreis ist, welche Dreiecke es gibt. Es werden Axiome eingeführt, allen voran das Parallelen- Axiom. Es beginnt mit dem Fundament, dem grundsoliden; wie auch sonst.

    Und nachdem - um die Metapher zu wechseln - dieses kleine Schatzkästlein gefüllt ist wie ein Lego- Baukasten, Anfängerstufe, baut Euklid (und bauen seine Nachfolger; im Mathematik- Unterricht wird das ja selten Personen zugeordnet) daraus dieses gewaltige, perfekte Gebäude der Geometrie - erst in der Ebene, dann für Körper.

    Es wird immer komplexer, aber es entsteht nie etwas, das nicht solide auf dem Vorausgehenden ruhen würde. Es hat alles eine wunderbare Logik. Nichts bleibt im Ungewissen. Etwas gilt entweder, oder es gilt nicht nicht. Und wenn es gilt, dann gilt es mit - ja, eben, mit mathematischer Gewißheit.



    Und das alles kann man sowohl sehen als auch berechnen! Das war für mich, durch die ganze Schulzeit, das vielleicht größte Wunder der Mathematik, weit über die euklidische Geometrie hinaus: Diese Übereinstimmung des Gesehenen mit dem Gedachten.

    Man kann einen Winkel in einem Dreieck berechnen, und man kann ihn mit dem Winkelmesser messen. Wenn man keinen Fehler gemacht hat, dann deckt sich das eine mit dem anderen. Man kann eine Parabel berechnen - die "Kurvendiskussionen", auch so ein Lieblingsthema meiner Schulzeit! - und sie dann säuberlich in die cartesianischen Koordinaten eintragen: Und siehe, sie verläuft genauso wie berechnet.

    Anschauliche Geometrie und Algebra, analytische Geometrie: Da werden Geist und Materie miteinander verknüpft, die Idéa mit dem Sinnlichen, von dem Platon meinte, es liefere uns für sich genommen nie Wahrheit, sondern immer nur Doxa, nur Meinung.



    Sie ist also nicht nur spannnend, die Mathematik, und sie ist nicht nur schön, sondern sie hat auch eine erhebliche philosophische Dimension. Viele große Philosophen waren der Mathematik verfallen, von den Pythagoräern und Platon über Descartes und Leibniz bis zu Wittgenstein und Bertrand Russell. Viele andere haben sie, wie Kant und Schopenhauer, geschätzt und betrieben, auch wenn sie in ihr nichts Eigenständiges geleistet haben.

    Auf einen schönen Satz von Leibniz zur Mathematik bin ich vor ein paar Tagen gestoßen; und zwar in englischer Übersetzung. Deutsch heißt der Satz: "Indem Gott rechnet und die Dinge denkt, entsteht die Welt", und Leibniz schrieb ihn (auf Latein) an den Rand eines Manuskripts, des Dialogus.

    Gefunden habe ich diesen Satz in einer aktuellen Meldung der vergangenen Woche. Sie berichtet über den diesjährigen Preisträger des Templeton Prize, des höchstdotierten aller Wissenschafts- Preise, der für Arbeiten an der Grenze zwischen Naturwissenschaften, Philosophie und Theologie verliehen wird.

    Dieser diesjährige Preisträger ist der polnische Theologe, Philosoph, Kosmologe und Mathematiker Michael Heller; und in einem Interview mit dem New Scientist zitierte er diesen Satz von Leibniz.

    Er hatte ihn auch in einer Erklärung anläßlich der Zuerkennung des Preises zitiert, und dazu gesagt:
    Things thought through by God should be identified with mathematical structures interpreted as structures of the world. Since for God to plan is the same as to implement the plan, when "God calculates and thinks things through," the world is created.

    Dinge, die Gott denkt, lassen sich mit mathematischen Strukturen identifizieren, interpretiert als Strukturen der Welt. Da es für Gott dasselbe ist, zu planen und den Plan zu verwirklichen, wird, wenn "Gott rechnet und die Dinge denkt", die Welt erschaffen.


    Das ist, natürlich, der pure Platonismus, gewürzt mit einem kräftigen Schuß George Berkeley. Nein, lieber Leser, nicht jeder, der sich an der Mathematik erfreut, muß so weit gehen wie der Theologe Heller.

    Aber auch wenn man nur das Spannende an der Mathematik sieht, das Ästhetische - wäre das nicht eigentlich Grund genug, sie bunt und attraktiv zu finden, statt grau und langweilig?

    Warum also finden sie so viele Leute grau und langweilig, die Mathematik?



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    19. März 2008

    Zitat des Tages: "Freiheit, Demokratie und Achtung der Menschenwürde"

    Heute ist es an uns, an meiner Generation, zusammen mit der jungen Generation das Bewusstsein für eine Erinnerungskultur zu wecken, eine Erinnerungskultur, die auch dann trägt, wenn die Überlebenden der Shoah nicht mehr unter uns sein werden. (...)

    Helfen kann uns dabei eine Kraft, die uns auch in den vergangenen Jahrzehnten geholfen hat: Es ist die Kraft zu vertrauen. Diese Kraft zu vertrauen hat ihren Ursprung in den Werten, die wir, Deutschland und Israel, gemeinsam teilen: den Werten von Freiheit, Demokratie und der Achtung der Menschenwürde. Sie ist das kostbarste Gut, das wir haben: die unveräußerliche und unteilbare Würde jedes einzelnen Menschen ‑ ungeachtet seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Sprache, seines Glaubens, seiner Heimat und Herkunft.

    Meine Damen und Herren, das Bewusstsein für die historische Verantwortung und das Eintreten für unsere gemeinsamen Werte ‑ das bildet das Fundament der deutsch- israelischen Beziehungen von ihren Anfängen bis heute.


    Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern in ihrer Rede vor der Knesset.

    Kommentar: Wieder einmal hat die Bundeskanzlerin nicht nur "den richtigen Ton gefunden", sondern auch das Richtige gesagt.

    Sie spricht nicht nur von der Erinnerung an den in deutschem Namen begangenen Massenmord, sondern auch von den gemeinsamen westlichen Werten; und sie verknüpft beides durch den Begriff des Vertrauens. Wenn die Kanzlerin so etwas sagt, dann weiß man, daß sie eine Überzugung ausspricht und sich nicht von einem Redenschreiber Phrasen hat aufschreiben lassen.

    Das Erinnern an die Shoah kann leicht zur Phrase werden (das ist es, was Martin Walser in seiner Paulskirchen- Rede kritisiert hat, die sehr mißverstanden wurde).

    Daß wir mit Israel die von Merkel genannten Werte der Aufklärung gemeinsam haben - fast möchte man wünschen, daß es wenigstens in Form von Phrasen öfter erwähnt werden würde.

    Denn wenn man sich zum Beispiel das vergegenwärtigt, was die Kanzlerin dazu offen gesagt hat (daß "in Umfragen eine deutliche Mehrheit der Befragten in Europa sagt, die größere Bedrohung für die Welt gehe von Israel aus und nicht etwa vom Iran"), dann fragt man sich, wieviele unserer Mitbürger schon wieder nicht verstehen, wer die potentiellen Täter sind und wer die potentiellen Opfer.

    Und man fragt sich, wieviele nicht verstehen, daß wir über eine Auseinandersetzung zwischen einem demokratischen Rechtsstaat und totalitären Diktaturen (samt von ihnen bezahlten terroristischen Banden) nicht mit der Attitüde eines fernen Schiedsrichters urteilen können.

    Wir - das heißt die Demokraten in Deutschland - sind selbstverständlich Partei. Wir stehen auf der Seite Israels. Nicht nur wegen der historischen Schuld, sondern auch aufgrund der heute für uns geltenden Werte.

    Eine Trivialität, sollte man meinen. Ja, das wäre schön, wenn es in Deutschland eine Trivialität wäre.

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    18. März 2008

    Der Niedergang der französischen Rechtsextremisten

    Erinnern Sie sich noch? Nach früheren französischen Kommunalwahlen setzten sich Scharen von Reportern in Bewegung, um aus den Städten und Gemeinden zu berichten, in denen die rechtsextreme Partei Front National von Jean- Marie Le Pen gewonnen hatte.

    Darunter waren einmal - vor rund einem Jahrzehnt - Städte wie Orange, Toulon, Marignane und Vitrolles. Die Rechtsextremen begannen bald nach ihren Siegen mit Säuberungen in den eroberten Gemeinden. Aus öffentlichen Bibliotheken verschwanden linke Tageszeitungen wie die Libération (das französische Gegenstück zur "Taz"). In Marignane und Orange wurden die Leiter der Stadtbibliothek entlassen und durch linientreue Nicht- Fachleute ersetzt.

    Es sah damals so aus, als könnten die Rechtsextremen wirklich zu einer Gefahr für Frankreich werden. Zumal sie nicht nur auf der kommunalen Ebene erfolgreich waren. Ihren Höhepunkt erreichte die rechtsextreme Welle, als bei den Präsidentschaftswahlen 2002 Le Pen im ersten Wahlgang mit 16,9 Prozent den Kandidaten der Linken, Lionel Jospin (16,2 Prozent) knapp schlug und damit in den zweiten Wahlgang einzog.

    Schlimmer noch: Le Pen hatte fast im gesamten Osten Frankreichs, von der belgischen Grenze bis an die Côte d'Azur, die (relative) Mehrheit gewonnen (dunkelblau in der Karte oben).

    Im zweiten Wahlgang allerdings zeigte sich, daß Le Pen über das Potential, das er im ersten Wahlgang erreicht hatte, kaum hinauskam. Jacques Chirac siegte über ihn mit dem besten Ergebnis, das jemals ein französischer Präsident erreicht hatte - 82,2 Prozent.



    Von da an ging's bergab mit den französischen Rechtsextremen. Schon die Wahlen des vergangenen Jahres und jetzt noch mehr die Kommunalwahlen haben das gezeigt; diesmal drastisch.

    In vielen seiner früheren Hochburgen trat der FN erst gar nicht mehr an. Nur in 85 Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern stellten die Rechtsextremen überhaupt noch Listen auf, halb so viel wie die trotzkistische Ligue Communiste auf der extremen Linken und 63 Prozent weniger als noch bei den letzten Wahlen.

    Viele ihrer Kandidaten haben die Partei verlassen und sich demokratischen rechten Parteien angeschlossen; entweder der UMP (der Partei Präsident Sarkozys) oder dem konservativen MPF von Philippe de Villiers. Der frühere FN-Bürgermeister von Orange, Jacques Bompard, ist beispielsweise zum MPF gewechselt; in Vitrolles sind die beiden FN-Politiker Alain Césari und Norbert Rodriguez erst zum MPF und jetzt zur UMP übergetreten. Anderswo hatten ehemalige Rechtsextreme zu den jetzigen Wahlen eine eigene Liste (CNI) aufgestellt, verbündet mit der UMP.

    Die Folge ist, daß nach den Wahlen vom Sonntag der FN in keiner einzigen Stadt Frankreichs mehr regiert. Die letzte Chance der Rechtsextremen war Hénin-Beaumont, eine Gemeinde im Nordosten Frankreichs, in der überwiegend Arbeiter wohnen. Dort kandidierte Le Pens Tochter Marine, eine attraktive und eloquente Dame. Auch sie verlor; gegen den Linken Gérard Dalongeville.



    Dagegen hat sich die Kommunistische Partei Frankreichs (die Schwesterpartei unserer deutscher "Die Linke"; nicht zu verwechseln mit der trotzkistische Ligue Communiste Révolutionnaire) gut behauptet. Sie erhielt im ersten Wahlgang immerhin 421.800 Stimmen gegenüber nur noch 150.242 Stimmen (in ganz Frankreich! - das sind 0,93 Prozent) für den FN. Nach dem zweiten Wahlgang haben die Kommunisten jetzt insgesamt 1.857 Sitze in Gemeindeparlamenten; die Rechtsextremen gerade einmal 63.

    Es sieht demnach so aus, als liefen dem FN auf zwei Seiten die Wähler (und die Mandatsträger) davon: Die Rechtskonservativen hin zu den demokratischen rechten Parteien; die Protestwähler aus der Arbeiterschaft zurück zu den Kommunisten.

    Übrigbleiben dürfte der harte Kern derer, die wirklich einer rechtsextremen Ideologie anhängen. Aber wie auch in Deutschland hat eine solche auf ihren Kern reduzierte extremistische Partei keine Chance.

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