28. November 2008

Terrorismus als angewandte Psychologie: Was soll mit den Anschlägen in Mumbai erreicht werden?

Von militärischen Aktionen unterscheiden sich terroristische Angriffe dadurch, daß sie keine materiellen Ziele verfolgen, sondern psychologische. Der Gegner soll nicht unmittelbar militärisch oder wirtschaftlich geschwächt werden, sondern es soll Schrecken (lat. terror) verbreitet werden. Terrorismus ist angewandte Psychologie.

Die konkreten Absichten können verschieden sein. Es kann zum Beispiel darum gehen, politische, wirtschaftliche und andere Verantwortliche einzuschüchtern und damit gefügig zu machen; das war eines der wesentlichen Ziele des "individuellen Terrors", wie ihn die RAF zu praktizieren versuchte.

Das primäre Ziel kann es auch sein, den Haß zwischen Bevölkerungsgruppen anzustacheln und damit zugleich die Kampfbereitschaft der eigenen Anhänger zu stärken. Das stand oder steht beim Terror der irischen IRA im Vordergrund; bei dem der baskischen ETA, teils auch bei dem der Palästinenser.

Vor allem aber sind die Adressaten des Terrors die Öffentlichkeiten bestimmter Länder oder auch die gesamte Weltöffentlichkeit. Anschläge führen zu Medienberichten, die auf die Themen aufmerksam machen, denen die Terroristen zu mehr Beachtung verhelfen wollen. Über den Hebel der Öffentlichkeit können in demokratischen Ländern Regierungen in ihren Entscheidungen beeinflußt werden.

Beherrschend ist dieses Ziel der Beeinflussung der Öffentlichkeit in asymmetrischen Kriegen wie dem, den die Kaida und andere Dschihadisten gegen den Westen führen. Hier dient der Terror fast ausschließlich dazu, Bilder des Schreckens samt den zugehörigen Kommentaren in die Medien des Feindes zu bringen.

Manchmal haben die Terroristen Glück, und das führt zu sofortigen Demutsgebärden wie dem Abzug der spanischen Truppen aus dem Irak, nachdem im März 2004 in Madrid gebombt worden war; unmittelbar vor Wahlen, die den Sozialisten der PSOE die Macht brachten.

Der Regelfall ist eher ein allmählicher psychologischer Abnutzungskrieg. Das Medien- Zeitalter hat ihn möglich gemacht.

Aus Vietnam waren die USA nicht deshalb abgezogen, weil sie den Krieg verloren gehabt hätten, sondern weil seine Fortsetzung bis zum Sieg angesichts der Opfer und Kosten der Öffentlichkeit nicht mehr zu vermitteln gewesen war. Dies war der erste Krieg, der via TV live in die Wohnzimmer gebracht wurde; das erwies sich als der entscheidende strategische Vorteil der Nordvietnamesen.

Daraus haben die heutigen Dschihadisten ihre Lehre gezogen. Sie haben im Irak Geiseln vor laufender Kamera abgeschlachtet, sie haben ihren Terror vor Wahlen in den USA verstärkt, sie haben immer wieder das Internet und die Medien sehr effizient für ihre "Propaganda der Tat" genutzt.

Sie hatten damit einen großen Teil der amerikanischen Öffentlichkeit, sie hatten die gesamte Führung der Demokratischen Partei, sie hatten auch denjenigen, der demnächst Präsident der USA wird, in der ersten Hälfte des Jahres 2007 so weit, daß diese bereit gewesen waren, den Krieg verloren zu geben und den Irak den Dschihadisten zu überlassen. Nur dank der Standfestigkeit von Präsident Bush scheiterte das.



Was und wer steckt hinter den jetzigen Anschlägen in Mumbai? Das ist heute nicht viel klarer als gestern, als ich die wichtigsten Möglichkeiten zusammengestellt habe. Hinzugekommen ist allerdings eine weitere, etwas überraschende Variante: Daß die Mafia von Bombay eine zentrale Rolle gespielt haben könnte. Wenn das so sein sollte, dann wird man ihr freilich eher eine unterstützende Funktion zuordnen. Daß sich in der Unterwelt massenhaft Selbstmord- Attentäter rekrutieren ließen, ist sehr unwahrscheinlich.

"Belastbare" Erkenntnisse über die Täterschaft fehlen heute wie gestern. Die obigen Überlegungen lassen aber doch eine begründete Vermutung zu. Diese trifft sich mit der Einschätzung eines indischen Experten.

In der Jerusalem Post berichet heute Yaakov Lappin über ein Gespräch mit Oberst Behram A. Sahukar, der unter anderem als Spezialist für Sicherheit und Terrorismus am indischen Institute of Defense Studies and Analyses (IDSA) tätig war und der gegenwärtig an der United Service Institution of India forscht.

Wer ist der Adressat der Anschläge von Mumbai?

Diese Stadt ist das New York Indiens. Das Geschäfts- und Hotelviertel, in dem die Anschläge verübt wurden, hat für Inder einen ähnlichen Symbolwert, wie ihn das World Trade Center für die USA hatte.

Daß man sich dieses Ziel ausgesucht hat, läßt vermuten, daß es primär die indische Öffentlichkeit ist, die beeinflußt werden soll, nicht diejenige der USA oder Europas. Den meisten im Westen ist Bombay allenfalls als der Sitz von Bollywood ein Begriff. Für Inder aber symbolisiert diese Stadt ihren Aufstieg zur modernen Industrienation. Anschläge dort treffen das Land ins Mark.

Wenn der Adressat die indische Öffentlichkeit ist - warum dann aber die gezielte Geiselnahme von Amerikanern, Briten und Israelis? Das Interview mit Oberst Sahukar liefert eine mögliche Erklärung:
"There have been growing strategic ties between India and the US ... and growing ties between India and Israel," Sahukar said. Indian- Israeli relations have "been getting stronger by the day," Sahukar noted (...)

Americans, British nationals and Israelis had been singled out in Mumbai as a result "of the closeness of their governments to us," Sahukar explained. The attackers perceive India's close ties with these countries and its partnership in the global war on terror "as a war against true Islam," he added.

"Es bilden sich immer engere strategische Verbindungen zwischen Indien und den USA ... und engere Beziehungen zwischen Indien und Israel", sagte Sahukar. Die Beziehungen zwischen Indien und Israel werden "jeden Tag stärker", bemerkte Sahukar (...).

Amerikaner, Briten und Israelis wurden in Mumbai "wegen der Enge der Beziehungen ihrer Regierungen zu uns" herausgegriffen, erläuterte Sahukar. Die Angreifer würden die engen Bindungen Indiens an diese Länder und dessen Beteiligung als Partner im globalen Krieg gegen den Terror "als Krieg gegen den wahren Islam" sehen, fügte er hinzu.
Wenn Sahukar recht hat, dann würden sich diese Anschläge exakt in das beschriebene Muster psychologischer Kriegsführung durch die Terrroristen fügen: Sie wollen über die indische Öffentlichkeit auf die indische Regierung Druck ausüben mit dem Ziel, daß diese ihren prowestlichen Kurs ändert. So, wie es 2004 in Madrid gelungen ist, freilich mit Hilfe eines Regierungswechsels.

Zugleich sollen - das nannte Sahukar als weiteres Ziel - innerhalb von Indien die Gegensätze zwischen den Hindus und den überwiegend der Unterschicht angehörenden Moslems verstärkt werden; das wäre eine weitere der oben genannten klassischen psychologischen Zielrichtungen eines Terror- Angriffs. Je größer diese Gegensätze werden, desto mehr können die Dschihadisten in Indien auf weitere Anhänger und Sympathisanten, auf neue Mitglieder rechnen.



Wer hat die Anschläge geplant und ausgeführt? Es muß nicht unbedingt eine einzige Organisation sein. Von der Waffenbeschaffung und der taktischen Planung über das Training der Terroristen bis zur genauen Ortskenntnis verlangen solche Anschläge das Wissen und die Fähigkeiten zahlreicher "Spezialisten" auf lokaler wie auf überregionaler Ebene. Aus diesem Grund waren zum Beispiel schon in den siebziger Jahren internationale Terroristen an der Zusammenarbeit mit der RAF interessiert.

In dem Interview spricht Sahukar von einer möglichen "coalition of home- grown Indian jihadi sleeper cells and Pakistan- based radical elements", einer Koalition zwischen einheimischen Zellen von "Schläfern" und Extremisten, die ihre Basen in Pakistan haben.

Als Indiz für die Beteiligung der Letzteren sieht er es, an daß die Terroristen mit Landungsbooten (die vermutlich von einem Mutterschiff abgesetzt worden waren) in Mumbai an Land gegangen waren. Auch sei die Koordination einer so umfangreichen Aktion nur einer großen Organisation zuzutrauen.

Als eine möglicherweise ebenfalls beteiligte Gruppe nennt Sahukar die "Jaish e Muhammad"- Gruppe von Omar Sheikh und Maulana Mazood Azhar. Das würde - wenn es zutrifft - die Verbindung zwischen den jetzigen Anschlägen und dem Krieg im Irak herstellen und auch auf die übereinstimmende psychologische Strategie verweisen.

Omar Sheik nämlich war der Mann, der im Jahr 2002 im Irak den jüdischen amerikanischen Journalisten Daniel Pearl vor laufender Kamera bestialisch abschlachtete; ein besonders brutaler Versuch der psychologischen Beeinflussung der amerikanischen Öffentlichkeit.



Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: NSF. Als Werk der US-Regierung in der Public Domain.