14. Januar 2009

Der Privatgelehrte und sein Riesenwerk

Betrachtungen zum Werk "Die Rettung des Abendlandes durch den Geist der Goethezeit" in 2 Bänden von Dr. Friedrich Muckle aus Binau am Neckar aus dem Jahre 1932, sowie der 600seitigen Kurzfassung desselben, von welchem Nola die Leser von "Zettels Kleinem Zimmer" in Kenntnis gesetzt hat, zugleich mit Dank an sie
Ein Gastbeitrag von Kallias

In Antiquariaten, Abt. Philosophie stöbernd, kann man schon ein wenig trübsinnig werden bei all diesen großen Abhandlungen ("Sprachphilosophie im Anschluß an Plotin" u.dgl.), die von hochbegabten gebildeten Menschen erdacht und geschrieben wurden, dann gedruckt, verkauft und ungelesen in der Buchkloake enden, dem Wühltisch oder der zweiten Reihe im antiquarischen Regal.

Manche schaffen es in einer Nische zum Standardwerk, wie zum Beispiel "der Cheron" über das Endspiel im Schach in vier Bänden. Ich erinnere mich auch, eine gigantische "Theorie der Landkarte" gesehen zu haben, veröffentlicht 1918 in der "Hoffnung, neben den Leistungen unseres Heeres nicht ganz unwürdig dazustehen" oder so ähnlich. Das tat sie bestimmt nicht, ebensowenig wie das große Werk über die Schrottbewirtschaftung in Österreich- Ungarn während des Ersten Weltkrieges. Solche Werke werden normalerweise niemals mehr übertroffen.

Manche haben auch das Glück, in einem populären Werk erwähnt zu werden. Claudio Magris' Buch "Donau", Pflichtlektüre für alle, die wie ich ein paar hundert Meter von dem Fluß entfernt aufgewachsen sind, und ein großartiges Buch für alle Literaturinteressierten, jedenfalls solange bis die Donau in Buchmitte aus dem deutschen Sprachraum herausfließt und der Germanist Magris ins Schwimmen gerät, bis er in Rumämien mit Canetti und Istrati wieder festeren Boden unter den Füßen hat, also dieses schöne Buch schildert das Hauptwerk eines Ingenieurs, der die Geschichte der Schifffahrt auf der oberen Donau in 2750 (oder so) Seiten in sämtlichen ermittelbaren technischen Einzelheiten beschrieben hat. Ein strenges Lebenswerk, verewigt in einer komischen Passage von einem unterhaltsamen Dampfplauderer! Das ist doch ein weit besseres Schicksal als der übliche Gang des Hauptwerks zum Orkus.



Wieviele solcher Werke heute noch geschrieben werden? Das ist die Frage nach dem inspirierenden Original. Spengler, Muckle, Friedell: vermutlich sind das Abkömmlinge von Diltheys Idee der Geistesgeschichte. Die zahllosen philosophischen "Systeme", zu deren Erdenkung sich Generationen von Philosophen verpflichtet fühlten, waren Folgen wohl der spektakulären Systeme des Idealismus; die ihrerseits vom Originalsystematiker Spinoza abstammen. Einige Jahrzehnte lang musste ja auch jeder Komponist seine neun Symphonien schreiben; als der erste wagen konnte, eine zehnte vorzulegen, ging es wohl schon abwärts mit den Symphonien.

Welchem lebensfüllenden Werk könnte man sich heute widmen? Vielleicht würde Dr. Friedrich Muckle eine Goethepedia ins Netz stellen, mit zehntausenden von Wiki-Stummelseiten, die nach und nach mit Inhalt ausgefüllt werden; der technische Fortschritt gestattet es ja, den Zettelkasten direkt in die Publikationsform zu überführen. Spengler mit seinem Gestaltdenken hätte es da schwerer, er würde sich vielleicht mit einem "Zoom User Interface" behelfen, um die analogen Phasen der auf- und abblühenden Zivilisationen in einem zweidimensionalen Schema einander zuzuordnen.

Nur wäre das alles noch in der Tradition der gelehrten Abhandlung, einem arg veraltetem Genre, wenn Sie meine Ansicht darüber wissen wollen. Heute könnte man vielleicht Programmiersprachen entwickeln. Davon gibt es schon einen Haufen, und es sind auch bereits zahlreiche Einzelkämpfer tätig, die in jahrzehntelanger Arbeit Entwicklungssysteme basteln, die großartig sind, wenn sie auch von niemandem zum Programmeschreiben verwendet werden. Auf breiter Front hat sich das aber noch nicht durchgesetzt, man muss noch nirgends befürchten, beim Smalltalk gefragt zu werden, welches System man denn entwickele und für welche Architektur ("Cross-platform?" - "Nein, für MIPS." - "Interessant.").



Systematisch gesprochen, gibt es Hühner-, Eichhörnchen- und Biberhobbies. Die meisten pflegen Hühnerhobbies, d.h. gackern, legen ein Ei, gackern wieder und legen ein weiteres Ei. (Ok, das war jetzt bei Nietzsche geklaut.) So tun es jedenfalls die Hobbymaler, -fotografen usw. Die Eichhörnchen sammeln, sie kümmern sich um Einzelstücke, sehen aber auch auf das Ganze ihrer Sammlung. Damit stehen sie grundsätzlich über den Hühnern; diese können dem Rang der Eichhörnchen allerdings ein wenig näherkommen, indem sie ihr Tun in Phasen organisieren, nach dem Vorbild des Picasso. Die Krone der Hobbies jedoch sind die Biberhobbies: der in Jahrzehnten aufgeführte organisch gewachsene Bau. Manche bauen ihr Leben lang ein Haus, oder ein Perpetuum Mobile, ein überlegenes Roulettesystem, eine Winkeldreiteilung mit Zirkel & Lineal, oder ein gelehrtes Hauptwerk.

Entscheidend dabei ist es, zu klotzen. Eine 600seitige Kurzfassung vorwegzuschicken, ist schon ziemlich klasse. Es verrät den rechten Geist bei der Sache.

Ich stelle jetzt mal die These auf, daß sich die Biberhobbies im Niedergang befinden, überspringe die langweilige Frage, ob das auch stimmt und gehe lieber gleich zu den Mutmaßungen über, woran es liegen könnte.

Es liegt an der Verstädterung. In der Öde der Provinz gibt es nicht besseres als ein Biberhobby; jeder Tag, jedes Jahr und jedes Jahrzehnt erhält durch es sein unverwechselbares Gesicht, und während die Tage scheinbar gleichmäßig vorüberziehen, entfaltet sich das Leben als eine einzige kleine Weltgeschichte (wie Stirner sagte). "Anno 94", erinnert sich dann so ein Biber, der sein Leben vielleicht der Geschichte der Lochtechnik gewidmet hat, "erforschte ich die Entwicklung der skandinavischen Briefmarken- Perforations- Maschinen; das Stanzgerätearchiv in Kopenhagen erwies sich als wahre Fundgrube..." usw. Oder denken Sie an Jünger, der in seinem Wölflingen ein riesenhaftes Tagebuch verfasste und sich so einen Lebensgang erschrieb (obwohl man ihm vielleicht doch nur den Rang eines Eichhörnchens zubilligen kann).

Der Städter hingegen hat für so etwas keinen Sinn. Als Städter fragt man sich, was heute Abend los ist. Das bedeutet keineswegs Passivität. Man ist durchaus kreativ, immer wieder mal, manche sogar so kreativ, daß in der kleinteiligen Abwechslung wieder alles einförmig wird, vergleichbar etwa der Musik Telemanns, dem einfallsreichsten aller Komponisten, dem es gelang, auf hunderttausend verschiedene Weisen langweilige Musik zu komponieren. (Im diametralen Gegensatz zu Mozart, der nur mit Tonleitern zahllose aufregende Stücke schreiben konnte - dies wäre ein weiteres Thema, das auf Einfälle, Blicke, Aphorismen, Signaturen, dem Augenblick und sein Verhältnis zur Ewigkeit usw. führen würde. Man könnte sich z.B. fragen, ob die Liebe eher als ein Aperçu, oder als ein Biberhobby angesehen werden kann. Ich schweife ab.)



Begrenzt wird die Größe solcher Hauptwerke durch die Lebenszeit. Luhmann, der letzte der Biber, legte sein Lebenswerk auf dreißig Jahre an, schrieb es in dreißig Jahren und starb. Hätte er auf ein längeres Leben gerechnet, hätte er sich an ein größeres Vorhaben machen können. Leider ist es so schwer, über den Tod hinaus zu planen. Ich kann daher die Aufregung vieler Leute über die Möglichkeit einer Reinkarnation nicht verstehen. Ob ich schon mal da war, ist doch solange völlig wurscht, wie ich außerstande bin, Projekte meines vorigen Lebens fortzusetzen. Es gibt zum Beispiel Hinweise darauf, daß ich die Reinkarnation Claire Waldoffs bin, aber was soll ich damit anfangen? Und obwohl Goethe wahrscheinlich als Dr. Muckle wiederkehrte, mußte er doch sein eigenes Werk erst wiederlesen, bevor er zur Erneuerung des Abendlandes schreiten konnte.

Das Privatgelehrtentum stößt hier an Grenzen, die nur mit Hilfe des Vereinswesens überwunden werden können. Ich denke da an so etwas wie den "Verein zur Vollendung von Prousts Recherche in 800 Bänden" und dergleichen. Im Unterschied zu den herkömmlichen synchronischen Vereinen, wo dutzende oder hunderte von Mitgliedern gleichzeitig zusammenhocken und dies und das tun, im Stile eines Hühnerhaufens, wäre das Bibertum in diachronischen Vereinen zu organisieren, mit jeweils nur einem einzigen Mitglied, das seine Mitgliedschaft vererbt, woraufhin erst der nächste Biber tätig werden würde.

Statt zahlloser vergessener Werke würde sich eine verhältnismäßig kleine Zahl von Erbprojekten ergeben, die über Generationen hinweg weiterentwickelt werden und deren Ruf hauptsächlich auf ihrer Dauer beruhen würde. Dies könnte durchaus ein wichtiger Beitrag zur Rettung des Abendlandes sein.

So hat sich am Ende auch dieser überaus substantielle Kommentar von einer Spenglerschen Melancholie zu einem Muckleschen Optimismus gewendet.




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