15. August 2009

Zitat des Tages: "Der Mob tobt". Wie die WAZ-Gruppe über die Diskussion zu Obamas Gesundheitsreform desinformiert. Nebst einem Nachtrag

Faustkämpfe, wüstes Geschrei, Verletzte und Verhaftungen bilden zunehmend den Begleitrahmen der Bürgerforen im ganzen Land, bei denen Abgeordnete aus dem Lager des Präsidenten für die Gesundheitsreform werben wollen. (...)

Auch wenn es so aussehen soll: Mit spontanem Bürgerunmut gegen den Plan Obamas (...) hat die Hysterie wenig zu tun. Erzkonservative Gruppen stecken hinter der aggressiven Kampagne, die die Amerikaner verunsichern soll.


Aus einem Artikel von Joachim Rogge im Nachrichtenportal der WAZ-Gruppe "Der Westen" vom Dienstag. "Überschrift "Der Mob tobt gegen Obamas Gesundheitsreform".

Kommentar: Schlimmer als in diesem Artikel kann man die Wirklichkeit der gegenwärtigen Auseinandersetzung in den USA kaum verzerren. Es stimmt zwar, daß die Stimmung in vielen der Townhall Meetings - Bürgerforen, auf denen in diesen Tagen überall in den USA über die Gesundheitsreform diskutiert wird - aufgeheizt ist. Aber damit ist sie nur der affektivste Ausdruck einer Skepsis, die sich in den USA immer weiter ausbreitet.

Hier finden Sie alle Umfrageergebnisse zu Obamas Gesundheitspolitik und zu diesen Bürgerforen. Ich empfehle, sie sorgfältig anzusehen; dann werden Sie merken, wie weit von der Realität das entfernt ist, was "Der Westen" seinen Lesern weismachen will.

Einige Beispiele:
  • Nach einer Gallup- Umfrage vom 11. August haben die Berichte über diese Bürgerforen bei 34 Prozent der Befragten mehr Sympathie für die Ansichten der Protestierenden geweckt; nur bei 21 Prozent weniger. Der Rest sagte "keine Veränderung" oder "unsicher".

  • Nicht weniger als 81 Prozent der Befragten in derselben Umfrage nannten als einen Grund für die Proteste "Sorgen über die Gesundheitsgesetze, die ein Durchschnittsbürger schon längst hatte, bevor die Bürgerforen stattfanden". 57 Prozent hielten das sogar für einen Hauptfaktor (Major Factor).

  • In einer vorausgehenden Umfrage hatte Gallup nach der Haltung zu Obamas Gesundheitspolitik gefragt. Nur noch 43 Prozent der Befragten waren mit ihr einverstanden; 49 Prozent lehnten sie ab.

  • In einer ungewöhnlich gründlichen Umfrage mit 2409 Befragten hat Ende Juli/Anfang August ein Team der Universität Quinnipiac die Haltung der Amerikaner zu Obamas Gesundheitspolitik untersucht. In dieser Erhebung waren sogar nur 39 Prozent dafür; 52 Prozent lehnten sie ab.

  • Warum? Viele Amerikaner erwarten von einem staatlichen Gesundheitssystem höhere Beiträge und schlechtere Leistungen als von dem bisherigen System der freiwilligen Versicherung. Nur 21 Prozent der Befragten rechneten für sich mit besseren Leistungen; aber 36 Prozent mit einer Verschlechterung. (Rest: "Unverändert" oder keine Meinung). Zugleich erwarteten 43 Prozent für sich höhere Beiträge; nur 18 Prozent geringere. Und 66 Prozent rechneten außerdem auch noch für sich mit einer Steuererhöhung zur Finanzierung des Gesundheitssystems.
  • Finden Sie nicht auch, daß es reichlich unverfroren ist, angesichts dieser Daten zu behaupten: "Lobbygruppen und republikanische Parteigänger, aber auch Wirrköpfe stecken hinter den Protesten"?

    So steht es in dem Artikel des WAZ-Nachrichtenportals.

    Nachtrag um 13.10: In "Zettels kleinem Zimmer" wird diskutiert, was es eigentlich mit den "Exzessen" auf den Bürgerforen auf sich hat. Ich möchte dazu eine der Fragen nachtragen, die Gallup in der zitierten Umfrage vom 11. August gestellt hat.

    Gefragt wurde, welche Verhaltensweisen auf einem Bürgerformum der Befragte als Beispiel für gelebte Demokratie (democracy in action) und welche er als Beispiel für Mißbrauch der Demokratie (abuse of democracy) ansehe:
  • Leute schimpfen (make angry attacks) auf ein Gesundheitsgesetz und seine Auswirkungen: 51 Prozent "gelebte Demokratie"; 41 Prozent "Mißbrauch der Demokratie"

  • Buhrufe, wenn Abgeordnete Aussagen machen, mit denen die Gegner nicht übereinstimmen: 44 Prozent "gelebte Demokratie"; 47 Prozent "Mißbrauch der Demokratie"

  • Das Niederschreien von Befürwortern, wenn diese sich für ein Gesundheitsgesetz aussprechen: 33 Prozent "gelebte Demokratie"; 59 Prozent "Mißbrauch der Demokratie".
  • Dieser Teil der Umfrage zeigt zum einen, worum es sich bei dem handelt, was als "tobender Mob" bezeichnet wird. Zum anderen macht es ein Stück politische Kultur in den USA deutlich: Bereits Buhrufe werden von der Mehrheit der Befragten als Mißbrauch der Demokratie eingestuft.

    Man vergleiche das mit den politischen Sitten in Europa, bis in die Parlamente hinein.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.