27. September 2009

Wahlen '09 (21): Krisenwahlen. Schicksalswahlen. Erinnerung an 1949

Angela Merkel wird auch nach diesen Wahlen Kanzlerin bleiben. Dennoch sind sie Schicksalswahlen. Das liegt an der Situation, in der wir zur Wahl gehen.

Die deutsche Befindlichkeit ähnelt derjenigen des Reiters über den Bodensee, der furchtlos über das vereiste Gewässer galoppiert, weil er sich auf festem Land wähnt. Dieser Wahlkampf fand mitten in der schwersten Wirtschaftskrise statt, die uns seit Bestehen der Bundesrepublik getroffen hat. Aber seltsam - wir taten so, als sei dies gar nicht die Lage.

Die Krise hätte das beherrschende Thema des Wahlkampfs sein müssen; stattdessen wurde über die Rente ab 67, über Afghanistan, gar über die Nutzung der Kernenergie gestritten. Der Dienstwagen einer Ministerin hat uns mehr beschäftigt als die Frage, ob es mit unserem Wohlstand demnächst vorbei sein wird.

Statt der Metapher des Reiters über den Bodensee könnte man auch an das Bild eines schwer leck geschlagenen Dampfers denken, dessen Besatzung sich damit beschäftigt, die Passagiere bei Laune zu halten, statt daß man etwas gegen die Havarie tut.



In Krisen werden die Karten neu gemischt. Schon jetzt ist absehbar, daß China aus der gegenwärtigen Krise als eine ökonomische Weltmacht hervorgehen wird. Ob die USA diesen Status nach der Bewältigung der Krise noch werden beanspruchen können, ist zweifelhaft.

Wie wird Europa aus der Krise herauskommen, wie insbesondere Deutschland? Das hätte die zentrale Frage dieses Wahlkampfs sein müssen. So, wie wie bei den Wahlen zum ersten Bundestag 1949 die zentrale Frage gewesen war, wie Deutschland aus dem Elend der Nachkriegszeit herauskommt; ob mittels einer Planwirtschaft, wie die SPD sie wollte, oder durch Ludwig Erhards Soziale Merktwirtschaft.

Auch damals wurden die Karten neu gemischt.

England, das nicht den Sieger Churchill wiedergewählt hatte, sondern sich für den Sozialisten Clement Attlee entschied, stieg wirtschaftlich ab; spiegelbildlich zum Aufstieg des besiegten Deutschland.

Das Vereinigte Königreich konnte in den fünfziger Jahren mit dem ebenfalls links regierten Frankeich um den Titel "der kranke Mann Europas" konkurrieren. In der britischen Presse wurde damals gefragt, wer eigentlich den Krieg gewonnen hätte - Deutschland, in dem sich der Wohlstand ausbreitete, oder das niedergehende England.



Nein, ich will die jetzige Krise nicht mit der Nachkriegszeit gleichsetzen. Aber die Erinnerung an 1949 zeigt, daß es Wahlen gibt, in denen die Weichen gestellt werden; Schicksalswahlen.

Daß auch die heutige Wahl diesen Charaker hat, mögen Sie, lieber Leser, vielleicht als eine maßlose Übertreibung sehen. Das solle eine Weichenstellung sein, werden Sie fragen, wo es doch nur darum gehen wird, mit welchem kleineren Partner die Kanzlerin weiterregiert?

Ginge es nur darum, dann hätten Sie mit diesem Einwand vielleicht recht. Aber eine Weichenstellung entscheidet ja nicht nur darüber, wo der Zug auf den nächsten Metern fährt; sie bestimmt auch, wo er nach unter Umständen hunderten von Kilometern ankommt.

Regiert die Kanzlerin künftig zusammen mit der FDP, dann kann das der Beginn einer neuen Epoche des Wohlstands und des Aufstiegs sein. Setzt eine solche Koalition die richtigen Rahmenbedingungen, dann wird sich aus der jetzigen Krise heraus eine Dynamik entwickeln, die durchaus derjenigen in den Jahren des "Wirtschaftswunders" vergleichbar sein könnte.

In einer Koalition mit der SPD wird das kaum gelingen können; mit einer SPD, die zunehmend unter die Kontrolle ihres linken Flügels gerät und die - vom Gesundheitswesen bis zu Mindestlöhnen und Steuererhöhungen - noch einen ganzen Katalog unerfüllter Forderungen hat, die sie in der neuen Legislaturperiode als Regierungspartei durchzusetzen versuchen würde.

Aber das allein macht diese Wahl noch nicht zu einer Schicksalswahl Entscheidend ist, daß eine Neuauflage der Großen Koalition instabil wäre.

Die Kommunisten werden heute ein Ergebnis bekommen, das sie als einen großen Wahlsieg feiern werden. In der SPD wird man die (richtige) Analyse anstellen, daß ihre traditionelle Klientel immer mehr zu den Kommunisten überläuft, die sich als die eigentliche, die bessere SPD darzustellen wissen. Das funktioniert - werden die SPD-Analytiker folgern - so lange, wie sich die SPD in einer Koalition mit der Union befindet und deshalb Kompromisse schließen muß.

Aus der Sicht der SPD kann also eine Neuauflage der Großen Koalition nur eine Übergangslösung sein; eine Etappe auf dem Weg zur Volksfront. Sehr wahrscheinlich würde die SPD eine Große Koalition im Lauf der Legislaturperiode verlassen und die Führung einer Volksfront- Regierung übernehmen. Die Verfassung bietet dafür den einfachen Weg des Konstruktiven Mißtrauensvotums.

Die wirtschaftliche Dynamik, die Deutschland so dringend auf dem Weg aus der Krise braucht, wäre dann dahin.

Schon zusammen mit den Grünen hatte die SPD es zwischen 1998 und 2005 fertiggebracht, Deutschland jenen schon genannten Titel "der kranke Mann Europas" zu verdienen. Und das ohne den Hintergrund einer tiefen Wirtschaftskrise. Wie lange würde wohl in der jetzigen Krise eine linke Koalition dafür brauchen, in der auch noch die Kommunisten über die Wirtschafts- und Sozialpolitik mitbestimmen?

Gewiß, eine Volksfront- Regierung wird nicht gleich den Sozialismus ausrufen. Aber sie wird Maßnahmen ergreifen, die in der Summe darauf hinauslaufen, die Dynamik der Wirtschaft abzuwürgen. Deutschland wird dann einer der großen Verlierer der Krise sein.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Der Reichstag. Vom Autor Norbert Aepli unter Creative Commons Attribution 2.5 - Lizenz freigegeben. Ausschnitt.