12. Oktober 2009

Jamaika im Saarland. Ein dritter Umbruch im deutschen Parteiensystem?

Daß die Grünen des Saarlands sich für Jamaika entschieden haben, ist keine sehr große Überraschung. Die Schreckens- Vorstellung, unter dem dann heimlichen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine dienen zu müssen, war stärker als alle Sympathien für eine linke Regierung.

Überrascht hat mich allerdings schon, wie deutlich das Votum ausfiel: 117 von 150 Delegierten, nicht weniger als 78 Prozent, votierten für die Aufnahme von Verhandlungen mit der CDU und der FDP. Die Angst vor Oskar dem Schrecklichen war offenbar deutlich größer als die Hoffnung darauf, zusammen mit den Sozialdemokraten und den Kommunisten "grüne Inhalte" verwirklichen zu können.

Ein schöner Erfolg für den Vorsitzenden Hubert Ulrich, der wohl von Anfang an auf diese Entscheidung zusteuerte. Mit dem Ergebnis, daß es eine in der deutschen Parlaments- Geschichte vermutlich einmalige Relation von Ministern zu Abgeordneten geben wird: Drei Abgeordnete haben die Grünen im Landtag; zwei Minister werden sie vermutlich stellen. Ein schönes Beispiel also auch dafür, wie Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen.

Aber nicht darin sieht Ulrich das Bemerkenswerte an diesem Beschluß der saarländischen Grünen. Er spricht von einem "Modernisierungsprojekt", er spricht gar von einer "Koordinatenverschiebung im politischen System".

Nein, das Koordinatensystem wird sich nicht "verschieben"; das tun Koordinatensysteme selten. Wohl aber könnten sich innerhalb des deutschen politischen Koordinatensystems in den kommenden Jahren beträchtliche Verschiebungen ergeben, vielleicht ein Umbruch. Freilich nicht durch die Entscheidung der saarländischen Grünen.



Es wäre nicht der erste Umbruch im deutschen Parteiensystem.

In den ersten Jahren der Bundesrepublik gab es ein Vielparteiensystem, wie es für das Verhältniswahlrecht typisch ist. Im ersten deutschen Bundestag waren neben der Union, der SPD und der FDP auch die KPD, die konservative Deutsche Partei (DP), das Zentrum, die Bayernpartei und die Wirtschaftliche Wiederaufbau- Partei (WAV) vertreten, deren Rolle später der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) übernahm.

Wie man hier sehen kann, gingen 1949 fast alle Direktmandate aus Altbayern an die Bayernpartei. Die DP eroberte einen erklecklichen Teil Niedersachsens. Die FDP hatte rund ein Dutzend Direktmandate, vor allem in Nordhessen. Ein bunter politischer Atlas, wie es ihn seither in Deutschland nicht wieder gegeben hat.

Aus diesem Vielparteiensystem wurde in der Folgezeit ein Dreiparteiensystem, mit den übermächtigen Volksparteien Union und SPD und einer schwachen FDP, die meist unter zehn Prozent lag, manchmal nur knapp über fünf Prozent. Das war der erste Umbruch in unserem Parteiensystem.

Der zweite, kleinere Umbruch, ging einher mit dem Auftauchen der Grünen Anfang der achtziger Jahre. Nun gab es zwei große und zwei kleine Parteien und damit zwei "Lager" aus je zwei Parteien. Die Großen waren immer noch Volksparteien und die Kleinen Klientelparteien (der "Besserverdienenden", der Ökos).

Mit dem Erstarken der Kommunisten und als Folge der vergangenen Großen Koalition hat sich das geändert; wir haben jetzt - so scheint es - einen dritten Umbruch. Er führt zurück zu einem Vielparteiensystem. Die Volksparteien sind Vergangenheit.

Wer sich in Zukunft wieviel von dem jetzt neu zu teilenden Kuchen abschneidet, ist völlig offen; zumal es in der Logik der jetzigen Entwicklung läge, daß eine konservative Partei rechts von der Union auftritt. Eine entsprechende Parteigründung hätte exzellente Chancen. Nur müßte es eine Neugründung sein, in der untadelige Demokraten wie, sagen wir, Meinhard Miegel und Friedrich Merz tonagebend sind und die jede Nähe zum Rechtsextremismus so eindeutig ausschließt, wie das zB für die konservativen Parteien in Frankreich selbstverständlich ist.

Wie bei geologischen Verschiebungen merkt man seismographisch, daß sich etwas anbahnt. Schwerer ist es, vorherzusagen, worauf es hinauslaufen wird.



Offensichtlich ist der Niedergang der SPD und parallel dazu der Aufstieg der Kommunisten.

In keinem der Länder, die sich vom Kommunismus befreit haben, sind die Kommunisten noch so stark wie im östlichen Teil Deutschlands. Vermutlich liegt das paradoxerweise gerade daran, daß es Niemandem von denen, die unter dem Kommunismus hatten leben müssen, heute auch nur entfernt so gut geht wie den Ostdeutschen.

Sie wurden damit weit weniger mit dem konfrontiert, was der Kommunismus angerichtet hatte. Sie mußten und müssen sich nicht selbst aus der Misere herausarbeiten; das haben weitgehend die Westdeutschen mit ihren mehr als großzügigen Transferleistungen getan. Dies hat bei vielen Ostdeutschen zu einer Empfänger- Mentalität geführt. Die PDS, im Augenblick als "Die Linke" firmierend, wird gewählt, weil sie verspricht, diese Interessen zu bedienen.

Sie wird auch gewählt, weil sie eine zunehmend verklärte DDR repräsentiert. Man kann sie verklären, weil von ihren Hinterlassenschaften - den heruntergekommenen Städten, den nicht konkurrenzfähigen Fabriken, dem erbärmlichen Straßensystem, der in vielen Bereichen fast inexistenten Infrastruktur - ja nichts mehr zu sehen ist. Dank der Hunderte von Milliarden Euro, die aus dem Westen in den Wiederaufbau Ost geflossen sind.



Wie einst die "Grünen" ist diese Linkspartei "Fleisch vom Fleisch der SPD", um an das Wort von Peter Glotz zu erinnern. Insofern ist deren Rückgang unvermeidlich. Aber diese aktuelle Entwicklung offenbart auch eine tiefere Krise.

Die Stärke der Sozialdemokratie basierte seit 1919, als sich die Kommunisten abspalteten, darauf, daß sie Dasselbe versprach wie die Kommunisten - eine gerechte Gesellschaft -, aber ohne die Androhung einer Revolution und ohne Preisgabe der Freiheit.

Die Spannbreite der Sozialdemokratie lag damit zwischen einem Linkssozialismus, der dieses Versprechen durch "Überwindung" des Kapitalismus einlösen wollte, und einer pragmatischen Strömung, die längst ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht hatte und der es allein darum ging, innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems, innerhalb des freiheitlichen Rechtsstaats eine gewisse Umverteilung zugunsten der unteren Einkommenklassen, auch ein gewisses Maß an staatlicher Lenkung zu erreichen.

Erfolgreich war die Sozialdemokratie immer dann, wenn diese pragmatische Strömung dominierte; aber nicht so stark, daß sie die Linkssozialisten aus der Partei vertrieben hätte. Driftete die Sozialdemokratie in Richtung Linkssozialismus ab, wie zum Beispiel Anfang der achtziger Jahre in Frankreich, dann mußte sie wirtschaftlich scheitern. Pochten die Pragmatiker brutal auf ihre Dominanz, dann vertrieben sie die Linkssozialisten aus der Partei.

Das hat Gerhard Schröder 2003 mit seiner "Agenda 2010" getan. Fast alles an dieser Kehrtwende war richtig, ja bitter notwendig, wenn Deutschland nicht vor die Hunde gehen sollte. Aber die selbstherrliche, nachgerade unverschämte Art, in der dieser Basta- Kanzler seiner Partei die Umwertung aller Werte oktroyierte, mußte diese an den Rand der Selbstzerstörung bringen.

Wohin dieser von Schröder eingeleitete Prozeß der Selbstzerstörung führt, ist noch ungewiß. Im Augenblick deutet alles darauf hin, daß die SPD-Linke, die den Parteiapparat allmählich erobert hat, demnächst auch sichtbar das Ruder übernehmen wird.

Nachdem sie viele der Linkssozialisten an die Partei "Die Linke" verloren hat, wird die SPD dann viele der verbliebenen Pragmatiker ebenfalls verlieren. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch Peer Steinbrück den Weg von Wolfgang Clement geht, und andere mit ihm.

Die SPD wird sich dann mit den Kommunisten um die linken Wähler streiten. Eine so geschrumpfte SPD könnte sich auch mit den Kommunisten zur Sozialistischen Einheitspartei wiedervereinigen, zur SED 2.0.



Für die FDP eröffnet sich damit eine Chance, die sie in ihrer Geschichte noch nie hatte: Die Chance, zu den bisherigen großen Parteien aufzuschließen; siehe Zitat des Tages: "Gesellschaftliche Mitte" vs. "linke Bürgerlichkeit". Die Chance der FDP; ZR vom 11.10.2009.

Die FDP kann viele der pragmatischen sozialdemokratischen Wähler für sich gewinnen; so, wie das den Liberal Democrats in England gelungen ist und wie es François Bayrou in Frankreich mit seinem MoDem versucht.

Sie kann sodann, wie schon bisher, Unionswähler an sich binden, die in der heutigen CDU die liberale Strömung vermissen. Und sie könnte sich sogar wieder den nationalliberalen Flügel wachsen lassen, den sie in der Zeit der sozialliberalen Koalition amputiert hat.

Und die Grünen? Sie waren eine Generationspartei; als solche steht dieser Partei das natürliche biographische Schicksal bevor, mit der Generation der Achtundsechziger ins Grab zu sinken.

Da wird auch kein Jamaika helfen. Was es bei den Grünen an freiheitlichen Tendenzen gab und vielleicht in Spuren noch gibt, wird von der FDP und - wer weiß - der Piratenpartei aufgesogen werden.

Eine Zukunft haben die Grünen allein als die Partei des Öffentlichen Dienstes; als die Partei derer, die in so gesicherten Verhältnissen leben, daß ihnen der tropische Regenwald wichtiger sein kann als die Arbeitslosigkeit in Deutschland. Dort werden sie freilich mit der Schrumpf-SPD und den Kommunisten, vielleicht demnächst der SED 2.0, um die Stimmen kämpfen müssen. Und auch noch mit der FDP; nicht jeder im Öffentlichen Dienst ist ja der Freiheit abhold.



Wir sehen also, betroffen, den Vorhang und auch alle Fragen offen.

Große Volksparteien gibt es eben à la longue nur unter einem Mehrheitswahlrecht. Wir steuern jetzt auf die Normalität zu, wie sie nun einmal der Preis für das Verhältniswahlrecht ist.

Welche Parteistrukturen, welche Koalitionen sich daraus ergeben, ist noch nicht absehbar. Am wahrscheinlichsten ist, daß sich ein linkes Lager und ein, wie man so sagt, "bürgerliches" Lager stabilisieren werden. Wie stark darin jeweils die Parteien sind, wo die Grenzen zwischen ihnen verlaufen werden, läßt sich nicht sagen. Die Grünen könnten zur neuen Pendlerpartei zwischen den beiden Lagern werden.

Zweierlei allerdings erscheint mir sehr wahrscheinlich: Große Volksparteien wird es nicht mehr geben. Und die FDP hat eine ausgezeichnete Chance, eine der an ihre Stelle tretenden mittelgroßen Parteien zu werden - "auf gleicher Augenhöhe" mit den anderen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Der Reichstag. Vom Autor Aconcagua unter GNU Free Documentation License, Version 1.2 oder später, freigeben.