9. Oktober 2009

Zitat des Tages: "Kunst ist etwas Künstliches". Anmerkungen zur Verleihung des Nobelpreises an Herta Müller. Nebst Lesetipps

Thomas David: Wie wichtig war es für Sie, mit diesem Buch Zeugnis abzulegen?

Herta Müller: Gar nicht.

Thomas David: Darf man aus zweiter Hand über die in "Atemschaukel" beschriebenen Erfahrungen schreiben?

Herta Müller: Im Grunde reden wir hier über das Gelingen von Kunst. Insofern geht es nicht um dürfen oder nicht dürfen. Es gibt ja auch Leute, die etwas erlebt haben, und ihre künstlerische Arbeit ist dennoch nicht gelungen. Kunst ist etwas Künstliches. Sie ist nicht die Realität, und die Realität ist nicht Kunst. Ich kann kein anderes Kriterium ansetzen.


Aus einem Interview, das für die FAZ Thomas David mit Herta Müller führte.


Kommentar: Herta Müller sagt etwas Selbstverständliches. Aber daß sie es sagt, daß sie ausdrücklich darauf hinweist, ist bemerkenswert.

Nein, Kunst hat nicht die Aufgabe "Zeugnis abzulegen". Das sollen die Zeugen tun; deren Zeugnis sollen die Historiker aufzeichnen, einordnen und bewerten. Die Aufgabe der Kunst ist das nicht.

Und ja, selbstverständlich: Kunst ist etwas Künstliches. Der Rang eines Romans, wie der jedes Kunstwerks, liegt nicht im Sujet, sondern darin, wie es künstlerisch verarbeitet wurde. Kunst, hat Gottfried Benn geschrieben, sei das Gegenteil von "gut gemeint".

Eine Binsenweisheit, sollte man meinen, die Benn da in eine spitze Sentenz gefaßt hat. Aber wenn man sich die Reaktionen auf die Verleihung des Nobelpreises an Herta Müller, wenn man sich die Reaktionen auf ihr Werk überhaupt ansieht, dann hat man den Eindruck, daß es vielen von denen, die sich dazu äußern, doch mehr um das Sujet geht.

Herta Müller hat als ihr zentrales Thema das Leiden unter der kommunistischen Diktatur; das, was diese Diktatur mit Menschen anrichtet. Wie sie ihr Leben zerstört, sie psychisch deformiert.

Ein wichtiges Thema; ein Thema, das bei den jetzigen Erinnerungen an das Jahr 1989 viel zu wenig zur Sprache gekommen ist. Deshalb freut es mich, daß Herta Müller für dieses Werk den Nobelpreis zuerkannt bekommen hat.

Aber deshalb hat sie ihn - so steht jedenfalls zu hoffen - nicht zuerkannt bekommen. So, wie das Merkmal der Kunst die Künstlichkeit ist, kann auch die Wertung von Kunstwerken allein danach erfolgen, wie groß die Kunst ist. Bei Romanen und Erzählungen also zuvorderst die Kunst der Sprache; sodann (vielleicht) auch Merkmale wie die Bewältigung des Stoffs, die Beherrschung von Erzählperspektiven, die Feinheiten der Psychologie.

An welchem Stoff sich das realisiert, ist nicht nur zweitrangig - es ist vollkommen gleichgültig. Die Themen, die ein Schriftsteller sich aussucht, bestimmen sich nach seinen Lebenserfahrungen und seinen Interessen. Der Rang dessen, was er schreibt, bestimmt sich nach seiner künstlerischen Potenz. Über das Leben auf einer Mondstation der Zukunft kann jeder armselige Science- Fiction- Autor seine Seiten füllen; Arno Schmidt hat zu diesem Thema eines seiner Meisterwerke geschrieben: "Kaff auch Mare Crisium".



Wo kann man sich im Internet einen Eindruck vom Werk von Herta Müller verschaffen? Gut, die Lektüre des Artikels in der Wikipedia kann nicht schaden; aber mehr als ein paar bescheidene Daten und Fakten kann man dort nicht erwarten.

Einen ausgezeichneten, freilich subjektiven Überblick über Müllers Werk bietet die FAZ in Form von Links zu den hauseigenen Rezensionen der fünf letzten Bücher von Herta Müller. Herausragend das, was Michael Lentz über Müllers aktuellen Roman Atemschaukel schreibt.

Nicht alle diese fünf letzten Bücher von Herta Müller sind Romane, die sich mit Ihrem düsteren zentralen Thema befassen. Lesen Sie einmal die Rezensionen von Im Haarknoten wohnt eine Dame und von Die blassen Herren mit den Mokkatassen. Sie werden überrascht sein.

Wer sich nicht die Zeit nehmen kann oder will, diese ausführlichen Rezensionen zu lesen, dem empfehle ich die Rezensionsnotizen im "Perltaucher"; sozusagen ein Reader's Digest der wichtigsten Rezensionen.

Und dann ist da noch die "Zeit". Sie hat für ihre Online- Ausgabe als Reaktion auf die Verleihung des Nobelpreises zwei Rezensionen von "Atemschaukel" ausgegraben, die beide in der Ausgabe vom 20. August erschienen waren.

Gleich zwei Rezensionen? Ja. Die "Zeit" macht das gern, wenn es in der Redaktion sehr unterschiedliche Meinungen zu einem Thema gibt. Zu "Atemschaukel" schrieb Iris Radisch eine nachgerade vernichtende Kritik ("kraftlos und schal, ja in manchen Passagen von peinigender Parfümiertheit"). Die Gegenmeinung vertrat kein Geringerer als der "Zeit"- Herausgeber Michael Naumann ("ein atemberaubendes Meisterwerk"). Die Rezension von Radisch ist ungleich besser als die von Naumann; ich neige aber dazu, in der Wertung eher Naumann Recht zu geben.

Naumann hat es sich auch nicht nehmen lassen, zur Verleihung des Nobelpreises flugs eine "Würdigung" zu Papier zu bringen; nein, vielmehr einen Vortrag zu recyclen, den er im September gehalten hatte, als Herta Müller den Heinrich- Heine- Preis erhielt.

Naumanns Artikel ist lang. Er zeigt, daß Naumann seinen Heine kennt, seinen Hegel und sogar Karl Kraus. Sie können sich seine Lektüre schenken.



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