17. November 2009

Gorgasal liest ein Buch (2): Sowjetische Schuhe. Wie der real existierende Sozialismus am Informationsmangel scheiterte

Scott Shane war ab 1988 als Korrespondent der Baltimore Sun in Moskau. In seinem Buch Dismantling Utopia: How Information Ended the Soviet Union beschreibt er die Kontrolle von Information in der Sowjetunion und wie die Lockerung dieser Kontrolle zum Zusammenbruch dieses Imperiums beitrug.

Shane fängt nicht bei den Kommunisten an, sondern schon bei den Zaren. Zensur war jahrhundertelang ein Grundpfeiler der zaristischen Autokratie.

In September 1826 the Russian poet Alexander Pushkin was summoned to Moscow and rushed under escort to the Kremlin to meet with tsar Nicholas I. The ruler of Russia was in a magnanimous mood. He informed the astonished poet that from now on he would not have to submit his work to the official government censor. The emperor himself would censor all of Pushkin's poems.

Im September 1826 wurde der russische Dichter Alexander Puschkin nach Moskau gerufen und in den Kreml eskortiert, um Zar Nikolaus I zu treffen. Der Herrscher Russlands war in großzügiger Stimmung. Er informierte den überraschten Dichter, dass er von nun an seine Werke nicht mehr beim offiziellen Zensor einreichen musste. Der Kaiser selbst würde alle Gedichte von Puschkin zensieren.

Und das tat Nikolaus auch weidlich. Wie auch die Zaren vor und nach ihm.

Und wie so vieles wurde die Zensur unter den Kommunisten nicht abgeschafft, sondern perfektioniert. Es gab dicke Bücher mit "Unkonzepten": Sachverhalte, die nicht publiziert werden durften, weil sie ein schlechtes Licht auf den real existierenden Sozialismus warfen. Dass in der DDR Selbstmordquoten nicht publiziert wurden, ist recht bekannt. In der Sowjetunion durfte nicht darüber berichtet werden, dass Fischer einen Teil des Fangs über Bord warfen. Denn im Sozialismus wurde nichts vergeudet.

Die Informationskontrolle nahm teilweise groteske Züge an. Beispielsweise gab es keine genauen Stadtpläne oder Landkarten. 1941 war das ganz nützlich, als die Deutschen sich beim Einmarsch plötzlich verliefen, sobald sie aus dem Bereich ihrer vorherigen Luftaufklärung herauskamen. Aber einige Jahrzehnte später inkommodierte das nur noch die eigenen Bürger. Ausländische Diplomaten und Journalisten verwendeten einen im Westen gedruckten, spiralgebundenen Stadtplan von Moskau, der diskret auf die Nennung von Autor und Verlag verzichtete: die CIA hatte ihn aus Satellitenaufnahmen zusammengestellt. Shane berichtet, ihm seien dafür dicke Stapel Rubel angeboten worden.

Eine andere Art von Informationen, die nicht frei zirkulierten, waren Angebot und Nachfrage. In einer freien Wirtschaft trägt jeder Preis Information: wird ein bestimmtes Paar Schuhe zu einem bestimmten Preis gekauft, dann erfährt der Produzent, dass Nachfrage nach diesen Schuhen herrscht. Werden die Schuhe nicht verkauft, dann sinkt irgendwann der Preis, bis sie doch noch Abnehmer finden. Der Produzent überlegt sich dann genau, welches Sortiment er anbietet, um möglichst viele Kunden glücklich zu machen. Hier fließen Informationen.

Nichts dergleichen gab es in der Sowjetunion. Schuhhersteller produzierten nicht für die Leute, die letztendlich die Schuhe trugen, sondern für Gosplan, das Staatskomitee für Planung, das die Produktionsquoten festlegte. Natürlich versuchte man, diesen "Kunden" glücklich zu machen, indem man seine Pläne (über)erfüllte - und wenn die Pläne am leichtesten mit Schuhen zu erfüllen waren, die unbequem waren, die niemand tragen wollte und die nach drei Wochen auseinanderfielen, dann war das nicht das Problem des Schuhproduzenten. Das Ergebnis:
My informal survey suggested that some of the longest lines in Moscow were for shoes. At first I assumed that the inefficient Soviet economy did not produce enough shoes, and for that reason, even in the capital, people were forced to line up for hours to buy them. . . . Then I looked up the statistics.

I was wrong. The Soviet Union was the largest producer of shoes in the world. It was turning out 800 million pairs of shoes a year--twice as many as Italy, three times as many as the United States, four times as many as China. Production amounted to more than three pairs of shoes per year for every Soviet man, woman, and child.

The problem with shoes, it turned out, was not an absolute shortage. It was a far more subtle malfunction. The comfort, the fit, the design, and the size mix of Soviet shoes were so out of sync with what people needed and wanted that they were willing to stand in line for hours to buy the occasional pair, usually imported, that they liked.

Meine formlose Untersuchung legte nahe, dass in einigen der längsten Schlangen in Moskau um Schuhe angestanden wurde. Zuerst nahm ich an, dass die ineffiziente sowjetische Wirtschaft nicht genug Schuhe herstellte und dass aus diesem Grund sogar in der Hauptstadt Menschen stundenlang schlangestehen mussten, um sie zu kaufen... Dann schaute ich mir die Statistiken an.


Ich hatte unrecht. Die Sowjetunion war der größte Schuhproduzent der Welt. Sie stellte 800 Millionen Paare Schuhe pro Jahr her - doppelt so viele wie Italien, dreimal so viele wie die Vereinigten Staaten, viermal so viele wie China. Mehr als drei Paar Schuhe pro Jahr für jeden sowjetischen Mann, jede Frau, jedes Kind.

Es stellte sich heraus, dass das Problem mit Schuhen kein absoluter Mangel war. Es war eine viel subtilere Fehlfunktion. Die Bequemlichkeit, die Passform, das Design und der Größenschlüssel sowjetischer Schuhe waren so weit davon entfernt, was die Menschen brauchten und wollten, dass sie willens waren, stundenlang anzustehen, um ein gelegentliches - meist importiertes - Paar Schuhe zu kaufen, das sie mochten.

Andere Probleme gab es bei so langweiligen Themen wie Kugellagern. In modernen Industrien werden schätzungsweise 100.000 verschiedene Sorten von Kugellagern verbaut - Gosplan plante aber nur für 14 Kategorien, man hatte ja noch vieles andere zu planen. Entsprechend gab es von manchen Kugellagern ein Überangebot, andere waren knapp, wieder andere unauffindbar; mit entsprechenden Konsequenzen für die Produktion von Mähdreschern, Staubsaugern und Drehstühlen.

Sowjetische Milch wurde in kürzester Zeit sauer. In diesem Fall war das Problem, dass keine Kühlkette vom Produzenten zum Verbraucher existierte, und dass neue Milch achtlos auf alte Milch draufgeschüttet wurde; für Gosplan war die gesamte Milchproduktion wichtig, nicht ob jemand sie trinken wollte. Und keine Preise, keine Verkaufszahlen trugen diese Information vom Konsument zum Produzenten. Aber die Sowjetunion produzierte 1987 stolze 43% mehr Milch pro Person als die Vereinigten Staaten.

Noch interessanter ist Waschpulver. Natürlich war es erst einmal eine Leistung, so viele Waschmaschinen zu bauen, 5,2 Millionen Stück im Jahre 1987 - die Konsumgüterindustrie in der Sowjetunion war durchaus vorhanden. Aber was nützt die schönste Waschmaschine, wenn man kein Waschpulver dafür hat? Der Aufschrei war groß, und irgendwann reagierte sogar Gosplan und erhöhte die Produktionsquoten. Nach langer Knappheit waren die Geschäfte plötzlich voller Waschmittel. Und da man nicht wusste, wie lange die Herrlichkeit anhalten würde, wurde gehortet. Bis Moskauer Ärzte massenhaft auftretende tränende Augen und Atemwegsprobleme darauf zurückführten, dass man in vielen Wohnungen in Wohngemeinschaft mit großen Quantitäten Waschpulver lebte. Shane fasst zusammen:
The soap industry was like a huge truck with no steering wheel, careening from one curb to another.


Die Seifenindustrie war wie ein riesiger Lastwagen ohne Lenkrad, der von einem Bordstein zum anderen schlingerte.

Natürlich blieben diese Probleme den Eliten nicht unbekannt. Allerdings hieß das noch lange nicht, dass die Informationen zur Verfügung standen, um diese Probleme zu lösen. Shane berichtet, dass Michail Gorbatschow, Nikolai Ryschkow und Wladimir Dolgikh - alles Spitzenleute der Nomenklatura, die die sowjetische wirtschaftliche Malaise untersuchten - 1983 bei Andropow vorstellig wurden, um Daten zum Budget zu erfragen, insbesondere zum Verteidigungshaushalt. Andropow erklärte, diese Daten gingen sie nichts an und sie würden in Bereichen herumschnüffeln, in denen sie nichts zu suchen hätten. Sogar die obersten Führer dieser "Plan"wirtschaft konnten keine Informationen über wichtige Aspekte des "Plans" erhalten.

Anfang der achtziger Jahre dämmerte es nun langsam sogar dem KGB, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Juri Andropow war 15 Jahre lang Chef des KGB gewesen, als er 1982 Breschnew nachfolgte, und als solcher wusste er wohl noch am besten, dass es allenorten im sowjetischen Gebälk krachte. Nach seiner kurzen (und Tschernenkos noch kürzeren) Amtszeit kam Andropows Protégé Gorbatschow an die Macht und versuchte, durch vorsichtige Reformen die Malaise der sowjetischen Wirtschaft zu beheben. Dass der KGB diese Reformen mittrug, sieht man schon daran, dass Gorbatschows Perestroika ansonsten schnell und effizient ausgeknipst worden wäre.

Nun wollte aber der KGB natürlich auch nicht einen kompletten Zusammenbruch des Systems. Problematisch war aber, dass die ersten Reförmchen - Lockerungen der Pressekontrolle, so dass erstmals relativ offen über Misstände berichtet werden konnte - sozusagen ein kleines Loch im Damm waren, der dann zusehends instabil wurde. Niemand wusste, wie weit die nicht mehr ganz so unfreie Presse gehen konnte. Unsicherheit kam auf, sogar beim KGB. Waren satirische Fernsehsendungen noch in Ordnung? Der Druck zuvor verbotener Bücher? Plötzlich sprachen Journalisten sogar mit Zeitzeugen der Massenmorde unter Stalin, und sie veröffentlichten, wo in den Dreißiger Jahren die Massengräber für die Moskauer Erschießungsopfer angelegt wurden.

Nach kurzer Zeit war der KGB selbst so unsicher über die neuen Grenzen des Erlaubten, dass er in Panik zum Putsch von 1991 als letztem Mittel griff. Allerdings war es da schon zu spät: die Putschisten konnten sich nicht mehr zu kompromissloser Repression entschließen, und anders als 1985 hatten jetzt zu viele Einwohner der UdSSR, zu viele frei gewählte Parlamentarier, zu viele hochrangige Offiziere Gefallen an der neuen Freiheit gewonnen. Der Putsch dauerte nur wenige Tage, und während Gorbatschow danach in völliger Verkennung der Lage weiter von einem effizienteren Sozialismus schwadronierte, hatte der Zug der Zeit ihn schon längst abgehängt.

Shane schrieb sein Buch 1994, aus der Perspektive des kürzlichen Zerfalls der Sowjetunion und der ersten blutigen Auseinandersetzungen zwischen und innerhalb der frisch unabhängigen Republiken. Das Buch atmet dennoch einen Optimismus, den man heutzutage vielleicht so nicht mehr empfindet - Putin kommt nicht vor, nur Jelzin. Dennoch ist Dismantling Utopia lesenswert: als Überblick, in was für einem eisernen Griff die Kommunisten die Sowjetunion 70 Jahre lang hielten und wie schnell erste Risse dazu führten, dass der ganze Koloss auf tönernen Füßen in sich zusammenbrach.



© Gorgasal. Die Buchempfehlung habe ich von David Henderson. Für Kommentare bitte hier klicken.