15. November 2009

Was bewegt die Menschen so am Tod von Robert Enke?

Bisher habe ich zum Tod von Robert Enke nichts geschrieben. Zum einen, weil er mich nicht persönlich berührt hat. Ich wußte von Enke wenig; ich hatte keine affektive Einstellung zu ihm entwickelt. Zum anderen, weil es mir schwergefallen wäre, zu diesem so gängigen Schicksal etwas zu schreiben. Depression ist eben eine potentiell tödliche Krankheit, wie Krebs.

Daß ich jetzt doch diesen Artikel schreibe, liegt an der für mich völlig unerwarteten Reaktion auf diesen Tod. "Hannover bereitet sich auf die größte Trauerfeier in Deutschland seit mehr als vier Jahrzehnten vor" schreibt die in Hannover erscheinende "Neue Presse"; der größten seit dem Tod Konrad Adenauers. Enkes Tod habe eine "fast beispiellose Anteilnahme in der Bevölkerung ausgelöst".

Und das nicht nur in der Bevölkerung Hannovers, wo Enke spielte. Der "Spiegel" fand den Tod Enkes so wichtig, daß sich die Titelgeschichte der kommenden Woche mit diesem Thema befaßt. Was löst diese intensive Reaktion aus?



Ich habe bis hierher ein Wort für diesen Vorgang vermieden, daß ein Mensch seinem Leben selbst ein Ende setzt. Das geläufigste, "Selbstmord", ist falsch und stellt eine abwegige Assoziation her. Wer sich entscheidet, nicht mehr weiterleben zu können, ist kein Mörder. "Suizid" ist nicht besser, denn es ist nur die lateinische Übersetzung von "Selbstmord".

Während diese Bezeichnungen den Toten herabwürdigen, ist das alternative "Freitod" ein Euphemismus. Denn frei ist der sich Tötende nie. Er regagiert auf eine Situation, die ihm aus seiner Sicht keine andere Wahl mehr läßt als diejenige, aus dem Leben zu scheiden.

Also "Selbsttötung". Kein schönes Wort; aber der Sachverhalt ist ja auch nicht schön. Ich werde von Selbsttötung sprechen.

Sie ist eine schlimme Form des Sterbens. Zum einen für denjenigen, der sich zur Selbsttötung durchgerungen hat. Denn dem geht ja ein oft langes Leiden voraus, das schließlich zu der Beurteilung geführt hat, daß selbst der Tod noch erträglicher ist, als so weiterzuleben. Die Selbsttötung ist die Dokumentation der Entsetzlichkeit des vorausgehenden Leidens. Auch wenn die Freunde, die Familie es nicht in seiner ganzen Entsetzlichkeit erkannt hatten.

Und das ist der zweite Grund, warum die Selbsttötung so schlimm ist: Sie belastet die Hinterbliebenen in einer besonderen Weise. Sie haben nicht nur ihre Trauer, wie bei jedem Todesfall. Sondern in vielen Fällen müssen sie sich auch noch Vorwürfe machen. Sie fragen sich, warum sie das Leiden des jetzt Toten zu seinen Lebzeiten nicht richtig erkannten; oder warum sie ihm nicht helfen konnten, obwohl sie sich über die Schwere seines Leidens im Klaren gewesen waren.

Und dann kommt noch hinzu, daß derjenige, der sich selbst das Leben nimmt, oft jemand ist, von dem man das überhaupt nicht erwartet hatte. "Plötzlich und unerwartet", diese Formel in Todesanzeigen, stimmt da wirklich.



In abgemilderter Form findet sich diese Bestürzung darüber, daß gerade diese Person sich das Leben genommen hat, auch in der öffentlichen Reaktion. Der letzte mir erinnerliche Fall in Deutschland war der Tod des Milliardärs Adolf Merckle Anfang dieses Jahres, der sich wie Enke vor einen Zug warf.

Aber die damalige Reaktion ist mit derjenigen jetzt auf den Tod von Robert Enke doch nicht zu vergleichen. Was mag diese über die Maße intensive Reaktion ausgelöst haben? Man kann da naturgemäß nur Vermutungen anstellen.

Erstens war Enke nicht nur wie Merckle eine öffentliche Person, sondern er war jemand mit einem positiven Image. Bei Merckle war manchmal nachgerade eine - so schien es mir jedenfalls - klammheimliche Genugtuung darüber zu spüren, daß dieser Mann, der sich nach oben gearbeitet hatte und dabei so überaus reich geworden war, nun so endete.

Sodann war Enke ein für einen Fußballer ungewöhnlicher Mensch. Spitzentorhüter sind das nicht selten. Das mag daran liegen, daß ihre Aufgabe nicht nur körperliches Geschick, sondern auch extreme mentale Fähigkeiten verlangt; ich habe das kürzlich in einem Artikel zu einem anderen Thema diskutiert (Hypnose - Scharlatanerie oder ernsthafter Forschungsgegenstand?; ZR vom 13. 10. 2009). Enke war für einen Spitzensportler ungewöhnlich zurückhaltend; ähnlich wie Jens Lehmann war er wohl so etwas wie ein Intellektueller unter den Profis. Eine Ausnahmeerscheinung.

Ein dritter Punkt dürfte sein, daß Robert Enke immer wieder Pech gehabt hatte. Vor wichtigen Spielen der Nationalmannschaft fiel er aus; wegen einer Krankheit, einer Verletzung. So hieß es. Wieweit die Stimmungsschwankungen eines an Depression Erkrankten dabei eine Rolle spielten, mag offenbleiben. Seine Existenz als Sportler hatte schon vor seinem Tod etwas, wie man so sagt, "Tragisches" gehabt. Insofern paßte seine Selbsttötung in ein schon vorhandenes Bild.

Ein Bild, das - und damit komme ich zu dem aus meiner Sicht zentralen Aspekt - jetzt Züge eines klassischen Heldenschicksals trägt.

Es sind im Grunde immer dieselben Gestalten, dieselben Schicksale und menschlichen Konstellationen, die uns tief berühren und die deshalb seit Jahrtausenden den Stoff der Mythen, später der großen Dramen und Romane ausmachen; das war eines der Themen des vor zwei Wochen verstorbenen Claude Lévi-Strauss (siehe Claude Lévi-Strauss, Wissenschaftler und Denker; ZR vom 5. 11. 2009).

Robert Enke ist der strahlende Held, den ein früher Tod trifft. Der Hochbegabte, der von Erfolg zu Erfolg eilt, und der doch immer auch von einem düsteren Schicksal begleitet wird. Alexander der Große und Siegfried verkörpern diese Gestalt. Oder, auf einer nun allerdings ganz anderen Ebene, "Che" Guevara und Kennedy. Und auf einer nochmals anderen, räumlich und zeitlich nur lokalen Ebene - jetzt und hier bei uns - Robert Enke.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Robert Enke im April 2008. Von der Autorin Ina96 unter Creative Commons Attribution ShareAlike 3.0 freigegeben.