31. Januar 2010

Zitat des Tages: "Der Kapitalismus wird gemeinsame Werte schaffen". Vali Nasr über die Entwicklung des Islam

Spiegel: Mr. Nasr, in Europa tobt eine Debatte darüber, wie Muslime in die westliche Gesellschaft integriert werden können und wie viel Toleranz ein modernes Gemeinwesen ihnen gegenüber aufbringen muss. (...)

Nasr: In der Geschichte haben sich Veränderungen immer graduell vollzogen, und sie hingen mit der Industrialisierung und den technischen und ökonomischen Kräften zusammen, die daraus entstanden. Im Kern geht es nicht um die Frage der Toleranz, sondern darum, wie Muslime und der Westen zu gemeinsamen Werten kommen. Und da ist die Antwort eindeutig: Der Kapitalismus, die Ausweitung der Märkte, also die Globalisierung, werden dafür sorgen. Toleranz ist eine moralische Kategorie, gemeinsame wirtschaftliche Interessen aber schaffen Bande, die weit darüber hinausgehen. Statt Toleranz zu predigen, ziehe ich es vor, auf historische Kräfte zu setzen, die den Westen und die Muslime zu gemeinsamen Interessen und Werten bringen werden.


Aus einem "Spiegel"- Interview, das Bernhard Zand mit dem amerikanischen Politologen und Islam- Spezialisten Vali Nasr führte, zur Zeit Chefberater des Afghanistan- Beauftragten Richard Holbrooke. Das Gespräch erscheint im gedruckten "Spiegel" der kommenden Woche, S. 124 - 126.


Kommentar: Nasr entwickelt in dem sehr lesenswerten Gespräch einen Gedanken, der so einfach ist, daß man ihn trivial nennen mag: Der Schlüssel zur Entstehung eines modernen, toleranten und also nicht fundamentalistischen Islam sei ein erfolgreicher Kapitalismus in den islamischen Ländern.

Der fundamentalistische Islam, erst recht der militante Islamismus sind ja in der Tat Relikte der vorindustriellen Gesellschaft. Natürlich muß der Westen den aggressiven Islamismus der Dschihadisten bekämpfen, der uns mit Terror bedroht. Aber aus der Welt wird man ihn damit nicht schaffen können. Nasr: "Denn wer wird den Extremismus besiegen? Gewiss nicht wir im Westen, indem wir den Muslimen Lektionen erteilen. Er wird von innen besiegt werden - von dem Teil der Gesellschaft, der weiß, dass der Dschihad dem Geschäft schadet".

Warum gibt es in vielen islamischen Ländern nicht einen stärkeren Widerstand gegen den militanten Islamismus? Auch dafür hat Nasr eine ökonomische Erklärung: Wer im Staatsdienst arbeitet, wer durch Transferleistungen alimentiert wird, der erfährt kaum Nachteile durch die Dschihadisten. Wer hingegen in der Privatwirtschaft sein Geld verdient, wer sich Sorgen macht, ob er seine Waren absetzen kann, der sieht die Welt anders. Er braucht ein günstiges Geschäftsklima; ihn stören die Fanatiker.

Nasr weist auf die wirtschaftlichen Erfolge der islamischen Länder Türkei, Malaysia und Indonesien hin; auch auf die positiven Aussichten von westlich orientierten Ländern wie Jordanien, Tunesien und Marokko.

Auf die Frage, warum andere islamische Länder so weit zurückgeblieben sind, daß in ihnen der Islamismus Fuß fassen konnte, geht Nasr in dem Gespräch nicht ein. Aus meiner Sicht ist ein wesentlicher, oft übersehener Faktor, daß die meisten dieser Länder - Algerien und Ägypten, Libyen, Syrien und der Irak - jahrzehntelang sozialistisch regiert wurden.

Der Aufstieg des Islamismus ab den achtziger Jahren war eine Reaktion auf das totale Versagen dieses Arabischen Sozialismus. Daß diese Spielart des Sozialismus in einem nicht unerheblichen Umfang von einer rückständigen religiösen Ideologie abgelöst wurde und nicht (wie z.B. in Rußland und China) von einer Hinwendung zum Kapitalismus, dürfte wesentlichen mit dem Erbe des Osmanischen Reichs zusammenhängen. Ich habe das im September 2006 in der dreiteiligen Serie "Arabiens Misere" im einzelnen zu analysieren versucht. (1. Wirtschaftlicher Rückstand; 2. Der Arabische Sozialismus; 3. Das Erbe des Osmanischen Reichs).



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.