2. Februar 2010

Marginalie: Sexualerziehung in den USA. Behält auch hier Bush gegen Obama recht? Eine neue Untersuchung

"Abstinence-only programs might work, study says" lautet heute eine Schlagzeile der Washington Post: "Reine Abstinenzprogramme könnten laut einer Untersuchung funktionieren".

Also geht es um die Bekämpfung des Alkoholismus? Weit gefehlt. Es geht um Sexualerziehung.

Ja, Sexualerziehung, nicht Sexualkunde. Denn dafür gibt es in den USA an vielen Schulen Unterricht. Und innerhalb dieses Fachs gibt es Programme, deren Ziel es ist, daß die Schüler keinen vorehelichen Geschlechtsverkehr haben.

Wenn ein Programm zentral hierauf zielt - und nicht zugleich oder auch überhaupt nur darauf, die Schüler über das richtige Verhalten beim vorehelichen Sex zu belehren -, dann spricht man in den USA von "abstinence- only sex education", von einer allein auf Enthaltsamkeit ausgerichteten Sexualerziehung.

Daß es zahlreiche solche Programme gibt (oder vielmehr gab; siehe unten), hat einen doppelten Hintergrund:

Zum einen die alarmierend hohe Rate der Schwangerschaft von Teenagern in den USA. In Deutschland werden (Daten der UNICEF von 2001) im Schnitt 18,3 von 1000 Mädchen im Alter von weniger als 19 Jahren schwanger; davon bekommen 13,0 das Kind und 5,3 treiben es ab. In den USA sind es mehr als das Sechsfache: 85,8 von Tausend; davon 55,6 Geburten und 30,8 Abtreibungen.

Auf der anderen Seite gibt es in den USA, anders als in Deutschland, eine breite konservative Bewegung, die vorehelichen Geschlechtsverkehr aus religiösen Gründen ablehnt.

Neben dieser grundsätzlichen Haltung war und ist die erschreckend hohe Zahl von Teenager- Schwangerschaften ein Motiv für die religiöse Rechte, eine aktive, auf voreheliche Enthaltsamkeit ausgerichtete Sexualerziehung zu fordern und zu betreiben. Das geschah in zunächst geringem Umfang seit den neunziger Jahren; erheblich gefördert wurde dieser Ansatz unter der Regierung von George W. Bush.



In der Online- Ausgabe von Newsweek berichete am 27. 10. 2009 Sarah Kliff, wie solche Programme funktionieren und in welcher Situation sie momentan sind:

Auf kommunaler Ebene (etwa auf der Ebene der County, also des Bezirks) wird ein derartiges Programm zunächst initiiert. Jede Schule entwickelt dann ihren eigenen Lehrplan. Finanziert wird das Programm weitgehend durch staatliche Zuschüsse.

In McLennan County, einem Bezirk in Texas, den Sarah Kliff bei ihren Recherchen besuchte, hatte ein solches Programm zum Beispiel im Jahr 2006 einen Etat von rund einer Million Dollar. Daraus wurde der Unterricht für 6000 bis 7000 Schüler finanziert.

Das Geld kam überwiegend aus Washington. Präsident George W. Bush nämlich, der ein ungewöhnlich stark sozial engagierter Präsident war, hatte die Geldmittel für solche Programme kräftig aufgestockt; von zuvor 50 Millionen Dollar im Jahr auf 135 Millionen Dollar; später wurden es 200 Millionen Dollar jährlich. Insgesamt wurden seit 1997 von Washington 1,5 Milliarden Dollar an Zuschüssen gezahlt.

Taugen solche Programme etwas?

Bush hatte, als er im Februar 2002 sein Programm im Rahmen eines allgemeinen Plans zur Neugestaltung des Wohlfahrtswesens (welfare renewal plan) einbrachte, gesagt:
When our children face a choice between self-restraint and self-destruction, government should not be neutral. (...) Government should not sell children short by assuming they are incapable of acting responsibly. We must promote the good choices.

Wenn unsere Kinder vor der Wahl zwischen Selbstbeherrschung und Selbstzerstörung stehen, sollte die Regierung nicht neutral sein. (...) Die Regierung sollte die Kinder nicht aufgeben und nicht davon ausgehen, daß sie unfähig zu verantwortlichem Handeln sind. Wir müssen die richtigen Entscheidungen fördern.
Das löste in den linken Medien eine Welle der Empörtheit aus. Unter anderem wurde behauptet, daß solche Programme gar nicht funktionieren könnten. So kommentierte beispielsweise Arthur Caplan am 13. 10. 2005 auf dem linken Sender MSNBC:
Not only is such an approach contradicted by everything that medicine and science know about teens and sex, but it flies directly in the face of everything all ordinary Americans know about teens and sex. (...) A recent study found that teens who took pledges of virginity as part of abstinence- only sex ed classes ultimately had STD rates similar to other young people and were less likely to use contraception or other forms of protection when they did become sexually active.

Nicht nur widerspricht einem solchen Ansatz alles, was die Medizin und die Wissenschaften über Teenager und Sex wissen. (...) Kürzlich ergab eine Untersuchung, daß Teenager, die sich im Rahmen eines reinen Abstinenzunterrichts zur sexuellen Enthaltsamkeit verpflichteten, am Ende ebenso häufig an Geschlechtskrankheiten litten wie andere junge Leute und daß sie seltener empfängnisverhütende Mittel verwendeten, wenn sie sexuell aktiv wurden.
Kurz - gegen Präsident Bushs Politik wurde auch in diesem Bereich eine regelrechte Kampagne geführt. So war es nicht verwunderlich, daß sein Nachfolger Obama das Geld für alle solche Programme kurzerhand strich. Laut einem Editorial der "New York Times" vom 19. 12. 2009, weil "ideology, censorship and bad science have no place in public health policy"; weil Ideologie, Zensur und schlechte Wissenschaft keinen Platz in der Gesundheitspolitik hätten.



Vor diesem Hintergrund ist der heutige Artikel der Washington Post bemerkenswert, ja brisant.

"Schlechte Wissenschaft"? Die Untersuchung, über welche die Washington Post berichtet, ist laut deren Artikel "... the first to evaluate an abstinence program using a carefully designed approach comparing it with several alternative strategies and following subjects for an extended period of time"; die erste Untersuchung, die einem anspruchsvollen wissenschaftlichen Ansatz folgte, indem sie die Probanden über eine längere Zeitspanne hinweg verfolgte und verschiedene alternative Formen der Sexualerziehung miteinander verglich.

Eine Zusammenfassung der Untersuchung und ihrer Ergebnisse kann man hier lesen.

Die Probanden waren 662 Schüler der sechsten und siebten Klasse. Sie wurden nach Zufall auf verschiedene Programme verteilt: ein reines Abstinenzprogramm; ein reines Programm zur Empfängnisverhütung; ein Programm mit beiden Zielen; und schließlich eine Kontrollgruppe, die Gesundheitserziehung ohne sexuellen Bezug erhielt.

Die Probanden wurden im Zeitraum von zwei Jahren nach dem Absolvieren dieser Programme über ihr Sexualverhalten befragt. Nur das reine Abstinenzprogramm reduzierte den Anteil derer, die innerhalb dieser zwei Jahre Geschlechtsverkehr hatten; und zwar von 48,5 Prozent in der Kontroillgruppe auf 33,8 Prozent - ein signifikanter Unterschied. Die beiden anderen Programme hatten keine solche Wirkung.



Dies ist laut Washington Post die überhaupt erste Untersuchung zu diesem Thema auf einem wissenschaftlichen Niveau "... that produces the highest level of scientific evidence", daß den höchsten Grad wissenschaftlicher Belege liefert.

Aber die Kritiker Bushs glaubten von vornherein zu wissen, daß eine solche Sexualerziehung nicht funktioniert. Sie meinten, diese basiere auf "schlechter Wissenschaft"; nicht, weil sie selbst die Daten guter Wissenschaft hatten, sondern weil sie politisch, weil sie ideologisch urteilten.

Die jetzige Untersuchung - sie wurde gestern der Öffentlichkeit vorgestellt - "could have major implications for U.S. efforts to protect young people against unwanted pregnancies and sexually transmitted diseases" (könnte weitreichende Folgen für Bemühungen in den USA haben, junge Leute gegen unerwünschte Schwangerschaften und Geschlechtskrankheiten zu schützen), schreibt Rob Stein, der Autor des Artikels in der Washington Post.

Könnte. Ich glaube aber eher nicht, daß sie das tun wird. Denn daß sich Ideologen, die von vornherein überzeugt sind, daß solche Programme falsch sind, durch Daten überzeugen lassen, dürfte eher ein frommer Wunsch sein.



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