30. April 2010

Marginalie: Heute Abend gucke ich Ulla Kock am Brink

Der Fernsehblogger Peer Schader hat in "Spiegel-Online" die Wiederkehr von Ulla Kock am Brink nachgerade enthusiastisch begrüßt.

Er durfte sich vermutlich ihre neue Show "Die perfekte Minute" schon angucken, die deutsche Franchise-Ausgabe von Minute to win it. Ich werde sie mir heute Abend ansehen und Jauch aufzeichnen.

Und zwar, weil ich Ulla Kock am Brink in der "100.000-Mark-Show" kennen und schätzen gelernt habe. Ab 1993.

Das war die erste TV-Show in Deutschland, in der man richtig viel Geld verdienen konnte und in der man sich richtig dafür anstrengen mußte.

Bei Frankenfeld und Kulenkampff hatte man vielleicht eine Reise nach Venedig für zwei Personen gewinnen können, manchmal auch nur ein Lexikon. Bei Ulla gab es, wenn man sich ordentlich gequält und alles gut gemacht hatte, 100.000 Mark Cash. Das war befreiend, es war erfrischend, ich habe es genossen.

Die Moderatorin vertrat dieses neue Konzept glaubwürdig: Ulla mit dem sehr westfälischen Namen Kock am Brink aus Mülheim an der Ruhr.

Mit dieser unnachahmlichen Ruhrpott-Mischung aus Herzlichkeit, Ehrlichkeit und erbarmungloser Direktheit. Tu wat, dann wisse wat.



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Aktuelles zum Krieg der Dschihadisten (8): Die Strategie gegen die Kaida im Irak

Terroristische Organisationen sind Unternehmen, die wie jedes Unternehmen sehen müssen, daß sie finanziell über die Runden kommen. Bis vor wenigen Jahren stand die Kaida des Irak so gut da, daß sie Mittel an die Zentrale überweisen konnte. Jetzt sucht sie von dort finanzielle Unterstützung. Entsprechende Briefe wurden abgefangen.

Diese Informationen finden sich in einem gestern erschienenen Artikel des Informationsdienstes Stratfor, in dem Scott Stewart die Lage der Kaida des Irak (Al Quaida Iraq, AQI) und der von ihr dominierten Organisation The Islamic State of Iraq (ISI) analysiert. Auf diesen Artikel stütze ich mich im folgenden.

Daß zwei Führer des ISI, Hamid Dawud Muhammad Khalil al-Zawi (Kampfname al-Baghdadi), und Abu Hamzah al-Muhajir (Kampfname al-Masri), am 18. April von Regierungstruppen getötet wurden, haben auch die deutschen Medien berichtet. Scott Stewart schildert die Hintergründe. Wie war dieser Doppelschlag möglich? Welche Folgen wird er für die AQI haben?

Al-Baghdadi, der "Führer der Gläubigen", war der geistliche und politische, al-Masri war der militärische Kopf des ISI. Sie waren in diese Positionen gelangt, nachdem im Juni 2006 der berüchtigte Führer der AQI, Abu Musab al-Zarqawi, von US-Truppen getötet worden war; al-Zarqawi, ein Mann von ungewöhnlicher Brutalität, war bekannt geworden durch Videos, auf denen zu sehen war, wie er eigenhändig Geiseln den Kopf abschnitt.

Al-Zarqawi war Jordanier; sein Nachfolger Al-Masri war Ägypter. Mit Al-Baghdadi hatte man einen Iraker an die politisch-geistliche Spitze gesetzt, um dem Eindruck entgegenzuwirken, AQI und ISI seien Organisationen von Landesfremden.

Wie war der jetzige Erfolg möglich? Stewart sieht ihn als das Ergebnis einer Strategie, die schon seit 2007 entwickelt worden war. Der damalige Kommandeur der US-Spezialkräfte im Irak war Stanley McChrystal, der jetzige Oberbefehlshaber in Afghanistan. McChrystal nahm damals eine Reorganisation vor, deren Ziel es war, durch den Abbau von Bürokratie und eine flachere Hierachie die schnellere Umsetzung von operativen Plänen zu ermöglichen.

Diese Fähigkeit zum schnellen Reagieren ist, so Stewart, der Schlüssel für die jetzigen Erfolge. Vorausgegangen war die Festnahme von Manaf Abdul Raheem al-Rawi, dem Führer der Kaida in Bagdad. Erkenntnisse, die als Ergebnis dieser Verhaftung gewonnen wurden, führten dazu, daß man den Aufenthaltsort von al-Baghdadi und al-Masri ermitteln und diese töten konnte. Für solche Aktionen ist Schnelligkeit entscheidend, damit den Terroristen keine Zeit bleibt, sich auf die neue Situation einzustellen.

Nach der Aktion gegen diese beiden Führer am 18. April folgten in kurzen Abständen weitere Zugriffe: Am 20. April wurde Ahmad al-Ubaydi (Abu-Suhaib) getötet, der Befehlshaber der Kaida in den Provinzen Ninevah, Salahuddin und Kirkuk. Einen Tag später wurde eine Fabrik zur Herstellung von selbstgebastelten Bomben (improvised explosive devices; IEDs) in der Provinz Anbar ausgehoben. Am 22. April wurde dort einer der Bombenbauer verhaftet.

Am 23. April gab die irakische Polizei die Festnahme eines weiteren militärischen Führers der AQI bekannt, Mahmoud Suleiman, in dessen Haus IEDs sichergestellt wurden. Am selben Tag wurden zwei weitere Führer der AQI in Mosul getötet.

Dutzende weitere Mitglieder der AQI wurden in den letzten Tagen in den Provinzen Diyala, Mosul, Salahuddin und Basra festgenommen oder stellten sich der Polizei.



Als die Kaida am vergangenen Samstag den Tod von Al-Baghdadi und al-Masri im Internet bekanntgab, wurde in dieser Verlautbarung zugleich versichert, daß dadurch die Stärke der Organisation im Irak nicht beeinträchtigt worden sei, denn man hätte neue Mitglieder rekrutieren können.

Stewart bezweifelt diese Aussage. Er weist darauf hin, daß in terroristischen Organisationen Spitzenleute oft nur schwer zu ersetzen sind, denn sie müssen über eine Kombination von vielen Fähigkeiten verfügen. Sie müssen einerseits gute Militärs und rücksichtslose Kämpfer sein, andererseits aber auch Charisma besitzen, um neue Mitglieder zu gewinnen und sie zum selbstlosen Einsatz bis hin zum Selbstmord-Attentat zu motivieren. Hinzu kommen Fähigkeiten wie das Erschließen von Geldquellen und das Agieren unter konspirativen Bedingungen.

Nach dem Verlust vieler Spitzenleute ist die Situation der AQI auch durch den anhaltenden Fahndungsdruck schwieriger geworden. Es sei, schreibt Stewart, ein wesentliches Moment im Kampf gegen den Terrorismus, die Terroristen ständig um ihr Leben fürchten zu lassen. Je mehr sie damit beschäftigt sind, sich zu tarnen, zu verbergen, ihre Verstecke zu wechseln usw., umso weniger Ressourcen bleiben ihnen zur Planung eigener Attacken.

Dennoch ist Stewart mit Prognosen zurückhaltend. Im vergangenen Herbst war es der IQA gelungen, Verluste wieder auszugleichen und die Organisation zu festigen. Ob sie diesmal auf Dauer geschwächt ist oder einen erneuten Wiederaufbau schafft, werde sich erst in den kommenden Monaten zeigen.



Auch dieser Artikel von Scott Stewart zeigt wieder, wie sehr US-Truppen nach wie vor an der Bekämpfung des Terrorismus beteiligt sind. Die allgemeine Sicherheitslage hat sich dramatisch gebessert; siehe "Die irakische Demokratie wird gelingen"; ZR vom 6. 3. 2010. Aber ein großer Teil dieser Erfolge geht auf die Effizienz der US-Truppen zurück.

Ende Februar 2009 hat Präsident Obama mitgeteilt, daß der Kampfeinsatz im Irak am 31. August 2010 enden wird, also jetzt in vier Monaten. Zwar soll noch ein Restkontingent von 35.000 bis 50.000 Mann bis Dezember 2011 im Land bleiben, um irakische Truppen auszubilden und auch Operationen gegen Terroristen durchzuführen. Aber die Kaida weiß: Wenn sie die Jahre 2010 und 2011 übersteht, dann wird sie, sobald die letzten amerikanischen Soldaten abgezogen sind, unter weit günstigeren Bedingungen kämpfen können, als diese für sie im Augenblick bestehen. Das motiviert zum Durchhalten.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: NSF. Als Werk der US-Regierung in der Public Domain.

Zitate des Tages: "... mehr oder weniger". Erfahrungen in einem ICE

Kälter wird's hier nicht.

Ein Zugbegleiter des ICE 941 (Düsseldorf - Berlin Ostbahnhof) vorgestern zu den Fahrgästen des Wagens 26, dessen Klimaanlage ausgefallen war und in dem sich die Temperatur in Richtung 30 Grad bewegte. Er riet zum Überwechseln in den Wagen 27; "da ist noch was frei".

Dieser Zug hat zur Zeit ungefähr 20 Minuten Verspätung. Ihre Anschlüsse werden Sie mehr oder weniger erreichen.

Zugchefin desselben Zugs.

Hat's geschmeckt?

Der Kellner im Zugrestaurant dieses Zugs.


Kommentar: In einer Schule für Gastronomie-Fachkräfte hat der nette Kellner diese Frage wohl nicht gelernt; dort hätte man ihm vermutlich ein "War es recht so?" oder "War alles zur Zufriedenheit?" beigebracht.

Aber recht hatte er mit seiner Frage. Denn es hat hervorragend geschmeckt: Ein Sauerbraten vom Schweinefilet in einer exzellenten Tunke mit Kirschen, dazu ein sanftes Pürree und al dente gegarter Wirsing. Und ein Casabayo Tempranillo; das Ganze für weniger als 22 Euro.

Die Küche in den ICE-Bordrestaurants hat sich, seit man richtige Köche die Gerichte zusammenstellen läßt, dramatisch gebessert.

Ansonsten freilich war alles wie immer bei der Deutschen Bahn: Verspätungen, technische Ausfälle, mürrisches Personal.

Meine ersten Erfahrungen mit einer versagenden Klimaanlage habe ich im Hochsommer 1991 auf der Strecke von Hamburg nach München gemacht; da war der ICE gerade in Dienst gestellt worden, und die Schwierigkeiten wurden als Kinderkrankheiten gesehen. Offenbar ist es eine lange Kindheit.



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29. April 2010

Kurioses, kurz kommentiert: Ein Judenwitz

Der Witz geht so:
Ein Taliban in Afghanistan war eines Tages von seiner Truppe getrennt worden. Er ging durch die Steppe, wurde immer durstiger und hungriger. Da sah er eine kleine Bretterbude, und er ging hoffnungsvoll darauf zu.

Als er bei dem Häuschen ankam, begriff er, dass es ein Laden war, der einem jüdischen Händler gehörte. "Gib mir Wasser, ich brauche Wasser", sagte der Taliban zu dem Juden. "Ich habe kein Wasser. Aber hätten Sie gerne eine Krawatte? Wir haben ein schönes Angebot an Krawatten heute."

Daraufhin wurde der Taliban wütend und brach in eine Schimpftirade aus gegen Israel, gegen Juden und gegen den Mann persönlich. Der Händler hörte sich alles ruhig an und sagte dann: "Es tut mir leid, dass ich kein Wasser für Sie habe. Ich vergebe Ihnen für ihre Beleidigungen gegen mein Land, meine Familie und mich. Ich werde Ihnen helfen. Gehen Sie dort über diesen Hügel, und Sie finden ein Restaurant, in dem es Wasser gibt, so viel Sie wollen."

Statt sich zu bedanken, ging der Taliban fluchend in die ihm angezeigte Richtung. Nach einer Stunde kehrte er zurück, blieb vor der Bretterbude stehen und sagte zu dem Juden: "Dein Bruder sagt mir, ich bräuchte eine Krawatte, um ins Restaurant zu kommen."
Kein besonders guter, aber ein typischer Judenwitz, ziemlich holprig aus dem Englischen übersetzt und so in der "Basler Zeitung" zu lesen.

Diesen Judenwitz hat James Jones erzählt. "James Jones", das klingt ungefähr wie im Deutschen "Hans Meier". Aber James Jones ist kein Irgendwer, sondern er ist der Sicherheitsberater von Präsident Obama, also der Nachfolger solch illustrer Amtsinhaber wie Henry Kissinger und Condoleezza Rice.

Was ist an diesem Witz zu beanstanden? Nichts, außer daß er nicht besonders gut ist.

Jones aber hat sich, so schreibt die "Basler Zeitung", für diesen Witz entschuldigt.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an einen Leser, der mich auf den Artikel in der "Basler Zeitung" aufmerksam gemacht hat.

Zitat des Tages: Die "Anziehungskräfte" zwischen Sozialdemokraten, Kommunisten und Grünen

Beim zweiten TV-Duell im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf wirkten sich Anziehungskräfte und Polarisierung besonders stark aus. Immer wieder wurde in der Diskussion eine politische Lagerbildung zwischen Rot-Grün-Rot und Schwarz-Gelb erkennbar.

Kristian Frigelj heute in "Welt-Online" über die gestrige Veranstaltung des WDR, in der die Spitzenkandidaten der Union, der FDP, der Sozialdemokraten, der Kommunisten und der Grünen debattierten.


Kommentar: Es wächst zusammen, was zusammengehört. Nur mit Hilfe der Kommunisten können SPD und Grüne in NRW regieren; nur mit deren Hilfe haben sie eine Chance, wieder im Bund zu regieren.

Der Weg in die Volksfront ist steinig, das ist wahr. Es gibt noch viele Menschen in Deutschland, die Kommunisten so wenig in der Regierung sehen wollen wie Rechtsextreme. Man muß also behutsam vorgehen; man muß, wie es im kommunistischen Jargon heißt, "die Menschen heranführen" an die Perspektive einer gemeinsamen Regierung von Sozialdemokraten, Kommunisten und Ökos.

Andrea Ypsilanti hat durch die hinterlistige Art, wie sie es realisieren wollte (siehe Frau Ypsilanti wägt Wahlversprechen ab; ZR vom 10. 3. 2008), das Volksfront-Projekt um Jahre zurückgeworfen. Gestorben ist es damit nicht.

Die SPD ist heute nicht mehr die Partei von Kurt Schumacher, Willy Brandt und Helmut Schmidt, für die eine Zusammenarbeit mit Kommunisten undenkbar gewesen wäre. Sie ist die Partei des Opportunisten Gabriel und der Generalsekretärin Nahles, in deren Büro Angela Marquardt das Bündnis mit den Kommunisten vorbereitet.

Die grüne Partei, die einst unter kräftiger Beteiligung von Kommunisten entstand, ist heute verbürgerlicht. Aber ihr Herz schlägt weiter links; und weder damals in Hessen noch jetzt in NRW ließen und lassen die Grünen einen Zweifel daran, daß sie gern gemeinsam mit den Kommunisten regieren wollen; oder mit deren Unterstützung.

Eine Ministerin moslemischen Glaubens hat eine heftige Debatte ausgelöst. Demnächst wird der erste Kommunist in einem westdeutschen Bundesland seinen Amtseid leisten. Auf die Debatte dazu bin ich gespannt.



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28. April 2010

Zitat des Tages: "So gut wie nichts hat sich in Guantánamo geändert"

Hätte Präsident Barack Obama sein Versprechen eingehalten, dürfte es "Guantánamo" seit knapp drei Monaten nicht mehr geben – weder das Gefangenenlager, in dem heute noch 183 Männer inhaftiert sind, noch die Militärgerichtsbarkeit außerhalb des hermetisch abgeriegelten Lagergeländes hier auf dem alten Flughafen des Stützpunkts, den die amerikanische Kriegsmarine seit 1898 nutzt. Aber es gibt beides noch. So gut wie nichts hat sich geändert in Guantánamo seit dem Machtwechsel in Washington, auch wenn Obama angekündigt hatte, die Vereinigten Staaten mit der Schließung "moralisch wieder auf ein sicheres Fundament" zu stellen.

Matthias Rüb in einem Bericht aus Guantánamo, der heute in der FAZ zu lesen ist.


Kommentar: Ist es nicht billige Häme, wenn man darauf hinweist, daß Barack sein vollmundiges Versprechen, das Lager von Guantánamo zu schließen, gebrochen hat? Muß man einem Präsidenten im Amt nicht zugestehen, daß sich manches in der Praxis als schwieriger erweist, als er es sich als Wahlkämpfer vorgestellt hatte?

Gewiß sollte man das tun. Nur liegt der Fall Obama besonders, nur liegt der Fall Guantánamo besonders.

Was Guantánamo angeht, so wußte jeder halbwegs Kundige, wie außerordentlich schwierig eine Schließung sein würde. Ich habe darüber vor Obamas Amtsantritt ausführlich berichtet (Guantánamo schließen. Prima! Und dann?; ZR vom 21. 11. 2008). Als Obama die Schließung versprach, hatte er offenbar keine Vorstellung davon, was denn mit den Inhaftierten werden sollte. Er hat sie, wie es scheint, auch jetzt noch nicht. Das ist nicht Naivität, das ist Fahrlässigkeit.

Zweitens ist Guantánamo ja nicht der einzige Fall, wo Obama nicht das getan hat, was er im Wahlkampf angekündigt hatte. Hier finden Sie eine Liste von Versprechen aus dem Wahlkampf, die der Präsident gebrochen hat; von dem Versprechen, alle Senioren, die weniger als 50.000 Dollar im Jahr Einkünfte haben, von der Einkommensteuer freizustellen bis zu dem Versprechen eines Programms für eine bemannte Mondlandung bis 2020. Er hat, das ist wahr, auch viele Versprechen gehalten oder ist vielleicht auf dem Weg dorthin. Aber das bedarf ja eigentlich keiner Erwähnung.

Obama neigt wie kaum ein Präsident vor ihm dazu, Großes zu versprechen. Er wollte Frieden im Nahen Osten schaffen und hat bisher nichts erreicht. Er will eine Welt ohne Atomwaffen schaffen und dürfte der einzige verantwortliche Staatsmann weltweit sein, der daran glaubt, daß das erreichbar ist; wenn er denn daran glaubt.

Ein halbes Jahr vor dem Wahlsieg Obamas, am 28. Juni 2008, stand hier zu lesen:
Man kann nun allerdings argumentieren, was denn schlimm daran sei, einem Politiker zu bescheinigen, daß er eben wie ein Politiker agiert. Auch wenn man nicht die Lüge für ein Wesenselement der Politik hält, wird man einem Politiker doch zugestehen müssen, daß er taktiert und seine Positionen zu bestimmten Themen verändert.

Dazu sollte man meines Erachtens zweierlei bedenken:

Erstens hat Obama mit John McCain einen Gegenkandidaten, der sich eben nicht so schamlos opportunistisch verhält. Und zweitens präsentiert sich Obama ja gerade nicht als ein Politiker wie andere, sondern er verkündet, er werde mit dem politischen Geschacher in Washington aufräumen und den großen Wandel bringen.

Er wird, falls er gewählt wird - was im Augenblick nicht unwahrscheinlich aussieht -, keinen Wandel bringen. Er wird nur eine Enttäuschung bringen; vermutlich eine der größten, die die Amerikaner jemals mit einem Präsidenten erlebt haben.
Es war absehbar gewesen. Nur wollte das damals, auf dem Höhepunkt der Obama-Begeisterung auch in Deutschland, kaum jemand wahrhaben.



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Kurioses, kurz kommentiert: Die Interessen der Leser von "Zeit-Online"

1.CHATROULETTE "Zeig mir deine Brüste, Baby"
2.INDIE-GAMES Dieses Spiel ist ein Gedicht
3.CHAMPIONS LEAGUE Plötzlich sind alle Bayern-Fans
4.FEINSCHMECKER-RESTAURANTS Ein Däne ist der beste Koch der Welt
5.FLUGVERKEHR Das lange Warten der Gestrandeten


Die aktuelle Liste der meistgelesenen Artikel bei "Zeit-Online".

Kommentar: Da haben wir das gute Leben der "Linksliberalen", wie es singt und lacht: Sex, Spiele, Essen und der Flug in den Urlaub.



1.ISLAM-DEBATTE Aufklärung zwecklos
2.KRUZIFIX-DEBATTE Die Rückkehr an den Stammtisch
3.AYGÜL ÖZKAN Özkan rückt vom Kruzifix-Verbot ab
4.SCHULDENKRISE Banken lassen Griechenland im Stich
5.HILFE FÜR GRIECHENLAND Kritik an den strengen Deutschen


Die aktuelle Liste der meistkommentierten Artikel bei "Zeit-Online".

Kommentar: Da haben wir die politische Befindlichkeit der "Linksliberalen", wie sie wabert und schwurbelt: Islam, Islam, Islam. Und natürlich Hilfe für die Notleidenden; auch wenn der notleidende "Süden" diesmal nur Griechenland ist.

Hat eigentlich jemand schon argumentiert, daß es Griechenland nur deshalb schlecht geht, weil es von uns anderen Europäern ausgebeutet wird?



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27. April 2010

Marginalie: Was haben Obamas Kandidaten für das Oberste Gericht gemeinsam? Raten Sie mal ...

In den USA werden die Richter des Supreme Court, des Obersten Bundesgerichts, auf Lebenszeit ernannt. Sie haben aber das Recht, von sich aus ihren Rücktritt zu erklären.

Von dieser Möglichkeit hat jetzt John Paul Stevens Gebrauch gemacht, der am 20. April 90 Jahre wurde und der dem Gericht seit 1975 angehört.

Es obliegt dem Präsidenten, die Nachfolger ausscheidender Richter zu nominieren (nominate); doch hängt die Ernennung (appointment) von der Zustimmung des Kongresses ab.

Bei Präsident Obamas bisher einziger Nominierung, derjenigen der Richterin Sonia Sotomayor, verlief das nicht ganz reibungslos, denn die Kandidatin hatte Äußerungen getan, die in den Augen Vieler nicht gut zur richterlichen Unparteilichkeit passen (siehe "Eine Latina-Frau urteilt häufiger richtig als ein weißer Mann"; ZR vom 28. 5. 2009 und "Gegen Justiz als Empathie"; ZR vom 1. 6. 2009).

Jetzt also steht Obamas zweite Nominierung eines Obersten Richters an. Der Sender ABC hat die Kandidaten unter die Lupe genommen, die bisher bei Obama in der engeren Wahl sind (auf der short list stehen, der "kurzen Liste").

Eigentlich sollten sie ja die Gemeinsamkeit haben, diese Kandidaten, daß sie zu den herausragenden Juristen der USA gehören. Sie haben aber auch eine andere Gemeinsamkeit: Ihr "Lebensweg hat sich mit dem Obamas gekreuzt", wie ABC es formuliert (their "lives have intersected with the orbit of Obama"):
  • Drei der Kandidaten (Elena Kagan, Merrick Garland und Jennifer Granholm) waren Obamas Kommilitonen an der Juristischen Fakultät von Harvard;

  • Zwei (Elena Kagan und Diane Wood) gehörten wie Obama zum Lehrkörper der Universität von Chicago;

  • Zwei (Elena Kagan und Janet Napolitano) wurden von Obama nach seiner Amtsübernahme in hohe Ämter berufen (Generalstaatsanwältin und Ministerin für Heimatschutz)
  • So direkt haben frühere Präsidenten selten ihre Kandidaten für das Oberste Gericht aus dem eigenen Umfeld rekrutiert. ABC meint, das liege vielleicht daran, daß Obama als ehemaliger Jura-Professor nun einmal gute Beziehungen zum Universitätsmilieu hätte.



    Wie man sich denken kann, sieht die Opposition das kritischer. In einem anderen Artikel zitiert ABC heute den republikanischen Senator Jeff Sessions, ranghöchster Republikaner (ranking member) im Justizausschuß des Senats:
    It's pretty clear to me that President Obama sees judges as allies in an effort to promote an agenda he thinks is best for the country.(...)

    And that's not law. That's not law -- that's politics. And it's a poison in our legal system, and the American people are not happy about it. They see it for what it is, and they don't think that courts ought to be there to rubber-stamp President Obama's or anybody's agenda.

    What I'm hearing from my constituents is a cry that Washington is losing all recognition that it is a government of limited, delegated powers, and that it is assuming roles that go far beyond anything the governed ever thought that they would be doing. You have the fundamental question: Is this what the framers [of the Constitution] had in mind when they created a limited government, and created a Commerce Clause?

    Es ist für mich ziemlich offensichtlich, daß Präsident Obama die Richter als Alliierte bei dem Versuch sieht, eine Agenda durchzusetzen, von der er meint, daß sie das Beste für das Land sei. (...)

    Und das entspricht nicht dem Gesetz. Es ist nicht Gesetz - es ist Politik. Und es ist ein Gift in unserem Rechtssystem, und das amerikanische Volk ist damit nicht glücklich. Sie sehen es als das, was es ist, und sie glauben nicht, daß die Gerichte dafür da sind, die Agenda von Präsident Obama oder irgendwem sonst abzusegnen.

    Aus meinem Wahlkreis höre ich einen Aufschrei, daß Washington überhaupt nicht mehr anerkennt, daß es eine Regierung mit begrenzten, ihm übertragenen Vollmachten ist, und daß es sich Rollen anmaßt, die weit über das hinausgehen, wovon die Regierten jemals geglaubt hätten, daß sie es tun würden. Wir stehen vor der fundamentalen Frage: Ist es das, was die Väter [der Verfassung] vor Augen hatten, als sie eine Regierung schufen, der Grenzen gesetzt sind, und als sie eine Commerce Clause [eine Klausel, die die Rechte des Kongresses einschränkt; Zettel] schufen?
    Natürlich ist bei solchen Äußerungen Parteipolitik im Spiel. Aber was Sessions ausspricht, gibt eine weit verbreitete Stimmung in den USA wieder: Daß Präsident Obama dabei ist, die Axt an die amerikanischen Werte zu legen; an die Verantwortlichkeit des Einzelnen für sich selbst ebenso wie an die Begrenzung der Macht der Regierenden.

    Zu dieser Begrenzung gehört seit Bestehen der USA die Gewaltenteilung. Ein Präsident, der versucht, seine eigenen Leute in das Oberste Gericht zu bugsieren, gefährdet sie; ebenso wie ein Präsident die Freiheit des Einzelnen gefährdet, der alle Amerikaner in eine Solidargemeinschaft zwingen will.



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    Marginalie: Aygül Özkan und das Kruzifix. Eine Erinnerung an Sarah Palin und an ein Urteil des Verfassungsgerichts

    Ist Ihnen die Parallele auch schon aufgefallen?

    Eine Nachwuchs-Politikerin, intelligent und selbstsicher, aber unerfahren mit den Fallstricken der Politik, wird durch die Berufung in eine herausgehobene Position unversehens in die Öffentlichkeit katapultiert.

    Sie gibt Interviews, man versucht sie - so verstehen viele Journalisten nun einmal ihren Job - in Fallen zu locken. Sagt sie dabei etwas, das nicht politisch korrekt ist, dann bricht die Hölle los; es wird Häme über sie ausgegossen.

    So ging es Sarah Palin, der weithin unbekannten Gouverneurin von Alaska (ungefähr so viele Einwohner wie Frankfurt/Main), als sie im Herbst 2008 von John McCain als running mate auserkoren worden war, als seine Kandidatin für die Vizepräsidentschaft; siehe Die heimtückische Naivität der Sarah Palin; ZR vom 13. 10. 2008 sowie Mutmaßungen über Sarah; ZR vom 6. 7. 2009.

    So geht es jetzt Aygül Özkan. Bis Mitte dieses Monats war sie eine weithin unbekannte Hamburger Lokalpolitikerin. Mit der Berufung in sein Kabinett hat sie der niedersächsische Ministerpräsident Wulff ins Scheinwerferlicht geholt: Die erste deutsche Ministerin, die aus einer Familie türkischer Einwanderer stammt.

    Ich habe dieses Ereignis damals nur sprachkritisch kommentiert, weil ich die Bezeichnung "Deutschtürkin" für die in Hamburg geborene Deutsche Özkan für falsch halte. Ich ahnte nicht, welche Wellen ihre Berufung schlagen würde.

    Aber ich hätte es wissen können; denn Özkan löst offenbar ähnliche Affekte aus wie seinerzeit Sarah Palin. Affekte, die zum Psychologisieren einladen; siehe Warum löst Sarah Palin Haß und Häme aus?; ZR vom 19. 10. 2008.

    Und wie damals Palin erleichtert Özkan jetzt solche Reaktionen durch eine Unprofessionalität des Auftretens, wie sie bei jemandem, der noch nicht mit allen politischen Wassern gewaschen ist, nicht anders zu erwarten ist.



    Jetzt geht es also um das Kruzifix in den Schulen, dessen Abschaffung sie in einem Interview befürwortet hatte. Den Hintergrund kann man heute in der "Welt" lesen:
    Sie sprach mit dem Nachrichtenmagazins "Focus" über Identität und Religion und die Frage, ob es sie denn stören würde, wenn ihr Sohn von einer Lehrerin mit Kopftuch unterrichtet werden würde. Frau Özkan antwortet, dass Kopftücher im Klassenzimmer nichts zu suchen hätten und Schule in Sachen Religion neutral zu bleiben habe. Das gelte auch für den Gebrauch christlicher Symbole. (...)

    ... autorisiert am Freitag um 15.27 Uhr ein Sprecher des niedersächsischen Sozialministeriums das Interview im Namen von Aygül Özkan bei "Focus". Aber am gleichen Abend ruft der Sprecher noch einmal bei dem Magazin an und drängt darauf, die Kruzifix-Passage aus dem Interview zu streichen. Der Focus verweigert die nachträgliche Veränderung eines autorisierten Gespräches jedoch.
    Die unerfahrene Aygül Özkan hatte die Symbolik und die Sprengkraft des Themas "Kruzifixe in Klassenzimmern" nicht erkannt. Der Sprecher ihres künftigen Ministeriums, der es hätte wissen können, offenbar erst zu spät.

    Dabei wäre es doch für Frau Özkan ein Leichtes gewesen, ihre Position in unangreifbarer Weise vorzutragen. Sie hätte nur sagen müssen: Ich stehe auf dem Boden der Entscheidung unseres Verfassungsgerichts.

    Das BVerfG nämlich hatte mit Urteil vom 6. Mai 1995 festgestellt: "Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG".



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    26. April 2010

    Marginalie: Tourismus als Menschenrecht. Kein Hoax

    Als mich eine Leserin von ZR auf den Artikel im Ottowa Citizen vom 19. April aufmerksam machte, fragte ich mich, ob das nicht ein Hoax ist. Auch sie war skeptisch:
    Koennte ein hoax sein, wundert mich aber, dass das im Ottawa Citizen steht, aber nicht in Welt/FAZ/Zeit, jedenfalls nicht online. Aber das Verbot der Gluehbirnen und die drohende Einfuehrung der neuen Duschkoepfe demnaechst sind ja auch Wirklichkeit.
    Tja, und auch das mit dem Menschenrecht auf Tourismus ist Wirklichkeit; es steht inzwischen sogar in der Wikipedia.

    Der Ottawa Citizen beruft sich auf die London Times; und in der Tat findet man dort unter dem 18. April 2010 einen Artikel mit der Überschrift "Get packing: Brussels decrees holidays are a human right" - Packt eure Sachen: Brüssel erklärt Urlaubsreisen zum Menschenrecht.

    Darin erfährt man, daß die Initiative von dem EU-Kommissar für Industrie- und Unternehmenspolitik Antonio Tajani ausgeht. Er erklärt den Tourismus nicht nur zum Menschenrecht, sondern hat bereits konkrete Pläne zu dessen Umsetzung in Europa ausarbeiten lassen:
  • Das Ziel ist es laut Times, "den Stolz auf die europäische Kultur zu fördern, die Nord-Süd-Kluft zu überbrücken und Urlaubsgegenden außerhalb der Saison Einnahmen zu zukommen zu lassen".

  • Das Programm soll bis 2013 versuchsweise laufen und danach fest etabliert werden. Berechtigt sind Rentner und alle Personen über 65 Jahren, Jugendliche zwischen 18 und 25 Jahren sowie Familien in "schwierigen sozialen, finanziellen oder persönlichen Umständen". Behinderte und ältere Menschen dürfen eine Begleitperson mitnehmen.

  • In der Anfangsphase sollen vor allem Nordeuropäer in den Süden reisen und umgekehrt. Die Einzelheiten über die Auswahl der Teilnehmer stehen noch nicht fest. Ungefähr 30 Prozent der Reisekosten sollen von der EU übernommen werden.
  • Wem kommen da nicht der Reisedienst des FDGB in der DDR in den Sinn, oder auch dessen Vorbild, die Organisation "Kraft durch Freude" (KdF)?

    Aber mit Sozialismus hat Antonio Tajani wohl doch eher wenig im Sinn. Er ist Mitglied der konservativen Forza Italia und wurde im Mai 2008 von Silvio Berlusconi nach Brüssel geschickt. Dort war er zunächst Verkehrskommissar, bevor er im Februar dieses Jahres als Nachfolger von Günter Verheugen das Ressort Industrie- und Unternehmenspolitik übernahm.

    Konkrete Vorstellungen für solche Reisen hat Tajani auch schon: Man könne zum Beispiel Südeuropäer nach Manchester oder Liverpool reisen lassen, damit sie dort "Stätten von archäologischem und industriellem Interesse" besichtigen. Gemeint sind geschlossene Fabriken oder stillgelegte Kraftwerke.



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    Zitat des Tages: "Was bleibt von Angela Merkel?" Friedrich Merz als Historiker. Kein guter freilich

    Ich frage mich wie viele andere in der Union: Wie wird diese Kanzlerschaft in die Geschichtsbücher eingehen? Alle Kanzler bis auf Kurt Georg Kiesinger hatten ja mindestens ein großes zentrales Thema, mit dem sie identifiziert wurden, ein Projekt, das geblieben ist. Was bleibt von Angela Merkel? Wofür steht sie so klar und ohne Einschränkungen, dass sie dafür ihr Amt bereit wäre zu riskieren? Bei Adenauer, Erhard, Brandt, Schmidt, Kohl und Schröder war das klar, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Themen zu sehr unterschiedlichen Zeiten.

    Friedrich Merz im Gespräch mit Christoph Schwennicke und Markus Feldenkirchen. Das Gespräch, in dem auch Wolfgang Clement befragt wurde, steht im aktuellen gedruckten "Spiegel" (17/2010 vom 26. 4. 2010, S. 39 - 42) und ist auch bei "Spiegel-Online" zu lesen.


    Kommentar: Wer selbst zu einem Thema im politischen Kampf stand, der ist bekanntlich dazu kein sehr guter Historiker. Als Quelle mag seine Sicht hochinteressant sein; aber ein objektives, distanziertes Urteil wird man von ihm nicht erwarten können.

    Friedrich Merz ist ein Merkel-Geschädigter. Sie hat ihn, als die Union die Wahlen von 2002 knapp verloren hatte, aus dem Amt des Fraktionsvorsitzenden gedrängt, das sie ihm, so heißt es, versprochen gehabt hatte. Das war das Ende eines steilen politischen Aufstiegs.

    Merz urteilt also über diejenige, die ihm die poltische Karriere kaputtgemacht hat. Er tut das aber nicht in Form einer subjektiven Bewertung, sondern er schlüpft ins Gewand des Historikers: Er vergleicht sie mit den bisherigen Kanzlern; und in diesem Vergleich, will er uns sagen, steht sie schlecht da. Er irrt.



    Stimmt es denn, daß alle Kanzler bis auf Kurt Georg Kiesinger mindestens ein großes zentrales Thema hatten, mit dem sie identifiziert wurden?

    Adenauer hatte als seine drei großen Themen die Westbindung, die Stabilisierung der deutschen Demokratie und die europäische Einigung. Drei Themen freilich, die er nicht erdacht hatte, sondern die ihm von den Umständen angeboten worden waren. Sein Verdienst lag darin, zu diesen Fragen seiner Zeit klare, einfache und durchsetzbare Antworten zu haben.

    Aber Erhard? Er hatte als Kanzler gar kein Thema, sondern schwankte in der Außenpolitik hin und her zwischen "Atlantikern" und "Gaullisten"; im Inneren hatte er das wolkige Projekt einer "formierten Gesellschaft", das glücklicherweise nie aus den Wolken hernieder stieg.

    Kiesinger klammert Merz selbst aus. Willy Brandt war in der Tat ein Kanzler der Projekte und der Visionen; der einzige, auf den das wirklich zutrifft, was Merz allen Kanzlern zuschreiben möchte.

    Helmut Schmidt hat bekanntlich denen, die Visionen hatte, geraten, zum Arzt zu gehen. Seine Kanzlerschaft hatte kein Projekt und kein "Thema" außer der Entschlossenheit des Kantianers Schmidt, treu seine Pflicht zu tun. Mit dieser Abwesenheit von Visionen steuerte er Deutschland durch die Ölkrise und die Zeit der Bedrohung durch die RAF.

    Hatte Helmut Kohl ein "Projekt, das geblieben ist"? Er hatte, als er Kanzler wurde, die Vision von einer "geistig-moralischen Wende"; die Formel wurde in der öffentlichen Diskussion nachgerade zum Witz. Sein Verdienst lag darin, dann aber eben gerade keine Wende zu versuchen, kein Projekt zu verfolgen, keine Vision zu haben.

    Wie Helmut Schmidt hat er seine Pflicht getan, und das gut und erfolgreich. Als sich die Chance der Wiedervereinigung anbot, hat er sie mit Diplomatie und Standfestigkeit zu nutzen gewußt. Sein "Projekt" war sie so wenig gewesen, wie es Helmut Schmidts "Projekt" gewesen war, mit der Ölkrise und mit der RAF fertig zu werden.

    Und nun gar Gerhard Schröder! Diesem personifizierten Opportunismus ein Projekt und ein Thema zuzuschreiben, grenzt schon an historische Frivolität. Schröder hat das "rot-grüne Projekt", das nie das seine gewesen war, laufen lassen, bis es sich zu Tode gelaufen hatte. Er hat in letzter Minute mit der "Agenda 2010" das Ruder herumgerissen, als seine Regierung anders keine Chance mehr gehabt hätte, die nächsten Wahlen zu bestehen.

    Er hat sich in Bezug auf den Irakkrieg so opportunistisch verhalten, wie man nur opportunistisch sein kann: Zuerst, im Sommer 2002, hat er den USA zugesagt, Deutschland werde einer eventuellen militärischen Aktion gegen den Irak keinen Stein in den Weg legen, und dann, um die Wahlen im Herbst 2002 nicht zu verlieren, hat er diese Zusage gebrochen.



    Die Größe eines Staatsmanns zeigt sich nicht darin, daß er seine "Themen" und "Projekte" oder gar Visionen hat. Sie besteht darin, daß er dann, wenn die Entwicklung der Dinge von ihm Entscheidungen verlangen, sich richtig entscheidet und seinen Entscheidungen treu bleibt.

    Die Kanzlerin Merkel stand 2005 vor den Scherben des zerborstenen "rot-grünen Projekts". Sie stand vor der Herausforderung, Deutschland wieder auf einen Kurs der wirtschaftlichen Vernunft und der außenpolitischen Berechenbarkeit zu bringen. Das ist ihr gelungen.

    Sie stand ab Ende 2007 vor der Herausforderung der weltweiten Finanzkrise, die als eine Hypothekenkrise in den USA begonnen hatte und die zu einem Kollaps der Weltwirtschaft hätte führen können. Sie hat mit Geschick und Entschlossenheit Deutschland durch diese Krise gesteuert und auf der europäischen und der globalen Ebene wesentlich zu ihrer Bewältigung beigetragen.

    Wird sie einmal mit einem Etikett ausgestattet werden, wie Helmut Kohl mit "Kanzler der deutschen Einheit"? Niemand kann das heute wissen. In ihrem historischen Kontext werden die Konturen einer Kanzlerschaft erst deutlich, wenn sie eben dieses geworden ist: Historie.



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    25. April 2010

    Zettels Meckerecke: Sigmar Gabriels Taktik gegenüber der FDP. Und gegenüber den Kommunisten

    In der Riege ihrer Vorsitzenden hat die SPD der Bundesrepublik ehrenwerte Männer gehabt, die das Taktische in der Politik verachtet haben - Kurt Schumacher, Willy Brandt und Helmut Schmidt zum Beispiel. Andere waren gute Taktiker; wie Johannes Rau und Franz Müntefering. Aber sie waren doch nicht nur Taktiker.

    Zwei waren nichts anderes als Taktiker: Gerhard Schröder und sein Schüler und einstiger Protégé Sigmar Gabriel.

    Wissen Sie, wo Sigmar Gabriel politisch steht? Rechts in der SPD, links oder in der Mitte? Kennen Sie irgendeine seiner politischen Überzeugungen? Ich nicht.

    Aber das Taktieren, das beherrscht er, der Sigmar Gabriel. Er beherrscht es intelligent und mit Raffinesse. Wie jeder große Taktiker sucht er so zu spielen, daß er mit einem Zug gleich mehreren taktischen Zielen näherkommt.



    Ein solcher taktisch meisterlicher Zug ist es, daß Gabriel die FDP neuerdings eine "fundamentalistische Partei" nennt. Anfang März hat er damit begonnen. "Focus-Online" berichtete damals:
    FDP-Chef Guido Westerwelle habe aus den Liberalen eine Partei gemacht, "der es völlig egal ist, ob sie gegen die Verfassung verstößt mit ihren Forderungen wie gerade beim Thema Sozialhilfe und Hartz IV", sagte Gabriel der "Leipziger Volkszeitung" vom Donnerstag. "Er hat Leute in seiner Partei in Positionen gebracht, die sind jung, die sind gnadenlos, rücksichtslos und sie sind verfassungsfeindlich in dem, was sie fordern." (...)

    Mit Blick auf die Landtagswahl am 9. Mai griff Gabriel auch die FDP in Nordrhein-Westfalen an: "In Nordrhein-Westfalen haben wir zwei radikale Parteien, die versuchen, die Fundamentalisten ihres Lagers zu sammeln. Das eine ist die FDP, das andere ist die Partei Die Linke. Beide gehören nicht ins Landesparlament."
    Die FDP mit den Kommunisten auf eine Stufe zu stellen, das war kein unbedachter Ausrutscher eines Cholerikers. Heute hat es Gabriel gegenüber "Bild am Sonntag"wiederholt:
    GABRIEL: Deswegen tun wir alles dafür, dass die beiden fundamentalistischen Parteien – die marktradikale FDP und die Linke, die alles oberhalb einer Currywurstbude verstaatlichen will – nicht in den Landtag kommen.
    Natürlich weiß Gabriel, daß die FDP wieder in den Landtag kommen wird. Natürlich weiß er, daß sie weder fundamentalistisch ist, noch Verfassungsfeinde in ihren Reihen hat. Aber mit seinen Behauptungen, so unverschämt und abwegig sie sind, erreicht er zweierlei; versucht er jedenfalls zu erreichen:
  • Erstens soll das Image der FDP lädiert werden, nach dem Motto: aliquid semper haeret, etwas bleibt immer hängen. Die FDP ist - siehe die kürzliche Kampagne gegen Guido Westerwelle - inzwischen der Hauptgegner der Linken.

  • Zweitens, und taktisch weit interessanter, bedeutet es natürlich eine Aufwertung der Partei "Die Linke", mit der FDP auf eine Stufe gestellt zu werden. Darum vor allem geht es Gabriel, dem Taktiker.

    Er tritt in Bezug auf die Kommunisten speziell jetzt im NRW-Wahlkampf für eine doppelbödige Taktik ein: Ihnen möglichst viele Stimmen abjagen, die dann der SPD zugute kommen. Wenn die Kommunisten dadurch unter fünf Prozent kommen, umso besser. Wenn sie aber dennoch den Einzug in den Landtag schaffen, dann muß man mit ihnen koalieren; mit wem sonst will man zusammen mit den Grünen dann eine Mehrheit bekommten?
  • Also will Gabriel "alles tun", damit die Partei "Die Linke" nicht in dem Landtag kommt. Im selben Atemzug aber wertet er sie als den potentiellen Koalitionspartner auf, indem er sie auf dieselbe Stufe stellt wie die FDP.

    Bei so viel taktischen Hintergedanken kann man sich leicht schon mal verhaspeln. Deshalb war Gabriels kürzlicher Versprecher "eine Mehrheit für Rot-Rot-Grün" (siehe "Rot-Rot-Grün"; ZR. vom 20. 4. 2010) die Freud'sche Fehlleistung des Jahres.



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    Zitat des Tages: "Wir müssen das Immunsystem unserer freiheitlichen Gesellschaft stärken". Westerwelle auf dem FDP-Parteitag

    Und ich glaube, es ist dieser Virus, dieses Virus im Denken, das sagt: Der Staat kann alles besser, mit dem wir uns jetzt mit Ausdauer, Kraft und auch gegen viele Widerstände auseinandersetzen müssen. Wir müssen gewissermaßen das Immunsystem unserer freiheitlichen Gesellschaft gegen diese staatsgläubige Bevormundung wieder stärken.

    Guido Westerwelle vor wenigen Minuten auf dem Bundesparteitag der FDP in Köln.


    Kommentar: Wohl gesprochen, wie überhaupt Westerwelle wieder eine gut Rede hält; in vielem anknüpfend an seine Rede letztes Jahr in Hannover (siehe Guido Westerwelle in Hannover; ZR vom 15. 5. 2009).

    Schade, daß er einen Teil des Effekts durch übertriebene Rhetorik wieder zunichte macht; aber so ist Guido Westerwelle nun einmal.

    Zur Außenpolitik bisher kein Wort. Westerwelles Themen sind die Gesellschaftspolitik und die Wirtschaftspolitik. Daß er unbedingt Außenminister werden wollte, war vermutlich die größte Fehlentscheidung seiner bisherigen politischen Laufbahn.



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    24. April 2010

    Zitat des Tages: "Die Zahlungsmoral muß sich im Westen deutlich verbessern". Ein Ost-West-Gefälle bei der Partei "Die Linke"

    Laut einer internen Aufstellung zahlen die Mitglieder im Osten deutlich höhere Beiträge als die Genossen im Westen: Im Osten lag der Monatsschnitt 2008 bei 13,64 Euro, im Westen bei 5,59 Euro. (...) Fraktionschef Gregor Gysi fordert deshalb, "dass sich die Zahlungsmoral im Westen deutlich verbessern muss".

    Aus einer Vorabmeldung des "Spiegel" über die Beiträge, die Mitglieder der Partei "Die Linke" an ihre Partei zahlen.


    Kommentar: Wie kommt Gysi darauf, daß es an der "Zahlungsmoral" liegt?

    Im Osten stammen die Mitglieder der heutigen Partei "Die Linke" überwiegend aus der SED, also überproportional aus der Nomenklatura der DDR. Im Westen stammen sie überwiegend aus der WASG. Die SED war die Partei der Besserverdienenden, und die Partei "Die Linke" ist das im Osten auch heute noch. Die WASG war die Partei der Hartz-IV-Geschädigten, und die Partei "Die Linke" ist das im Westen auch heute noch.

    Die Mitglieder im Osten zahlen höhere Beiträge, weil sie überwiegend ein gutes Einkommen haben. Die im Westen zahlen wenig, weil sie überwiegend kein oder nur ein niedrigeres Einkommen haben.

    Natürlich gibt es Ausnahmen; den Millionär Oskar Lafontaine im Westen zum Beispiel und manchen Hartz-IV-Empfänger im Osten. In ihrer Mitgliederstruktur aber liegen die beiden Teile der heutigen Partei "Die Linke" weit auseinander. Eine abgesetzte, aber weiter gut lebende Machtelite auf der einen Seite, sozial Unzufriedene auf der anderen.



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    Kurioses, kurz kommentiert: Wollen Sie ein Wochenende auf einem Barockschloß verbringen? Nichts einfacher als das ...

    Mit dieser Namenlosigkeit soll es jetzt vorbei sein, forderte Klein. Die Deutsche Knigge Gesellschaft ruft darum alle interessierten Bürger auf, Vorschläge einzureichen. "Der beste Vorschlag wird dann Eingang in die modernen Knigge-Regeln finden und damit Geschichte machen." Der Gewinner dürfe ein Wochenende inklusive Knigge-Nachhilfe auf einem Barockschloss verbringen. Vorschläge bitte ausschließlich per Email an: frollein@knigge-akdemie.de.

    Aus einer dpa-Meldung, die gestern und vorgestern durch die Medien ging.


    Kommentar: Worauf, glauben Sie, bezog sich diese Meldung? Wenn Sie sie in der Zeitung gelesen haben, wissen Sie es logischerweise. Den anderen liefert die Mailadresse vielleicht den erforderlichen Hinweis: Es geht um Kellnerinnen. Genauer: Um die große Frage, wie man sie anredet.

    Ich bekenne, daß ich mich auch schon, und zwar ziemlich eingehend, mit dieser Frage befaßt habe, und zwar in einem Artikel aus den Anfangstagen dieses Blogs: Ohne Anrede; ZR vom 25. 7. 2006.

    Damals war das Thema die generell mißliche Situation, daß wir einander im Deutschen nicht anreden können, solange wir uns nicht mit Namen kennen. In Frankreich sagt man dann "Madame" und "Monsieur", in England und den USA "Sir" und "Madam", in Italien "Signor" und "Signora" usw. Und in Deutschland? Nichts. Allenfalls versucht man zu witzeln, mit "Meister" oder "Junge Frau" oder dergleichen. Abscheulich; kulturlos.

    Das Fehlen einer Anrede für die Kellnerin ist ein Unterproblem dieses allgemeinen Mangels des heutigen Deutsch.

    Die Knigge-Gesellschaft empfahl bisher, so steht es in der Meldung, "die Kellnerin mit dezentem Handzeichen herbeizuwinken". Jetzt aber schreitet sie zur Tat und fordert zu Einsendungen von verbalen Lösungen auf; mit eben dem Barockschloß-Wochenende als Anreiz.



    Tja, was kann man da vorschlagen? Gäbe es eine gute Lösung, dann hätte sie ja längst jemand gefunden. "Frollein" geht natürlich nicht, weil es erstens unhöflich und zweitens frauenfeindlich ist. "Bedienung" ist noch unhöflicher, ebenso das barsche "Kellnerin!".

    Beim männlichen Kollegen behilft sich der Gast mit "Herr Ober", auch wenn es sich nicht um einen Oberkellner, sondern erkennbar um einen jobbenden Studenten handelt. In der dpa-Meldung wird darauf aufmerksam gemacht, daß ein analoges "Frau Oberin" natürlich für die Kellnerin nicht geht, weil dies "die Vorsteherin eines Klosters, also die Äbtissin" sei. Ja so.

    Aber was spricht eigentlich gegen "Frau Ober"? Es ist genauso falsch und genauso unverbindlich-höflich wie das "Herr Ober". Oberkellnerinnen gibt es in unserer emanzipierten Zeit natürlich schon lange. Jede Aushilfs-Bedienung kann sich eigentlich nur geehrt und anerkannt fühlen, wenn man sie, endlich ihre Gleichberechtigung mit ihren männlichen Kollegen anerkennend, mit "Frau Ober" anredet oder herbeibittet.

    Ich denke, mit diesem Vorschlag habe ich für mich und meine Frau den Anspruch auf das Wochenende auf einem Barockschloß erworben.



    Ach nein. Ich habe leider etwas Wichtiges, etwas nachgerade Politisches, etwas lächerlich Kurioses übersehen: "Frau Ober" geht genauso wenig wie "Frau Professor" oder "Frau Minister".

    Irgendwann nämlich hat die "feministische Linguistik" uns erfolgreich weisgemacht, es gebe im Deutschen weder den Unterschied zwischen natürlichem und grammatischem Geschlecht noch denjenigen zwischen markierten und unmarkierten Wortformen.

    Unmarkierte Wortformen sind solche, die - unter anderem - in vorfeministischen Zeiten für beide Geschlechter galten. Man konnte zum Beispiel sagen, man hätte "eine schwarze Katze" über den Weg laufen sehen, obwohl es vielleicht ein Kater war; denn "Katze" ist die unmarkierte Wortform, die für beiden Geschlechter gilt. Ebenso konnte man auch männliche Exemplare als eine Schlange oder eine Maus bezeichnen, und man konnte sagen, daß man mit "dem Hund" Gassi geht, selbst wenn es eine Hündin war.

    Denn die unmarkierte Wortform ließ eben das Geschlecht offen. Das geht, weil - Mark Twain hat es witzig beklagt - im Deutschen das grammatische Geschlecht keineswegs mit dem natürlichen Geschlecht zusammenfallen muß. Also konnte jemand "Frau Doktor" sein, oder eben "Frau Minister", "Frau Professor" oder, warum nicht, "Frau Ober".

    Die feministische Linguistik aber sah darin finstere Diskriminierung. Markiert hin, unmarkiert her - für Frauen sollte immer nur die als weiblich markierte Wortform gelten. Der Unterschied zwischen grammatischem und natürlichem Geschlecht hin oder her - der Titel hatte als sein grammatisches Geschlecht das natürliche Geschlecht der Inhaberin zu haben.

    So geschah es, daß seit den siebziger oder achtziger Jahren an den deutschen Universitäten die Briefbögen des Dekanats jedesmal ausgewechselt werden müssen, wenn eine Frau dieses Amt übernimmt. Dann darf da nicht mehr stehen "Der Dekan", sondern es muß für die betreffenden zwei oder vier Jahre "Die Dekanin" heißen.

    Und die Inhaberinnen von Lehrstühlen dürfen in den Vorlesungsverzeichnissen und anderen Schriftstücken nicht mehr als "Prof." geführt werden, sondern als "Professorin". Weil die dafür vorgesehenen Spalten manchmal zu schmal sind, steht da dann "Prof'in". Welch ein Fortschritt!

    Was in der akademischen Welt von den tapferen Feministinnen erkämpft wurde, das können sie natürlich in der Welt der Kneipen, der Gourmettempel und der Bistrots nicht wieder aufgeben. Also wird es wohl nichts werden mit der "Frau Ober".

    Haben Sie eine bessere Idee? Das Wochenende im Barockschloß ist noch nicht vergeben.


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    23. April 2010

    Marginalie: Wer würde noch Obama wählen? Wer möchte ihn nicht wieder? Eine umfangreiche Umfrage unter US-Wählern

    Nicht weniger als 10.128 Personen hat das Institut Zogby International über ihre Zufriedenheit mit Präsident Obama befragt, und zwar nur likely voters, also Amerikaner, die wahrscheinlich von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen werden, wenn wieder der Präsident gewählt wird. Genug Befragte, um die Ergebnisse nach allerlei Gruppen aufschlüsseln zu können.

    Eine der Fragen war, ob man Präsident Obama noch einmal wählen würde oder lieber "someone new", also jemanden Neuen. Einige Ergebnisse:
  • Unter den Steuerzahlern (Zahlern von federal income taxes, Einkommensteuer an die Regierung) ist Obama mit 40 zu 53 Prozent in der Minderheit.

  • Hingegen hat er bei den rund 36 Millionen Amerikanern, die keine Steuern zahlen, eine Mehrheit von 49 zu 42 Prozent.

  • In fast allen Regionen der USA liegt Obama hinten:
    - Im Südwesten (9 Millionen Wähler in Arizona, Colorado, New Mexico, Oklahoma und Utah) mit 34 zu 52 Prozent;
    - in den Mittelatlantikstaaten (27 Millionen Wähler in Delaware, Maryland, Virginia, West Virginia, New Jersey, New York, Pennsylvania und dem District of Columbia) mit 43 zu 49 Prozent;
    - im Süden (34 Millionen Wähler in Georgia, Kentucky, North Carolina, South Carolina, Tennessee, Alabama, Arkansas, Louisiana, Mississippi, Florida und Texas) mit 41 zu 53 Prozent;
    - im Mittleren Westen (27 Millionen Wähler in Ohio, Michigan, Minnesota, Wisconsin, Indiana und Illinois) mit 44 zu 50 Prozent;
    - in den Präriestaaten (8 Millionen Wähler in Idaho, Montana, Wyoming, South Dakota, Iowa, Kansas, Missouri, Nebraska und North Dakota) mit 38 zu 56 Prozent.
    - in der Pazifikregion (20 Millionen Wähler in Kalifornien, Alaska, Hawaii, Oregon, Nevada und Washington) nur knapp mit 45 zu 46 Prozent.
    Nur in Neuengland (7 Millionen Wähler in Maine, New Hampshire, Vermont, Massachusetts, Rhode Island, und Connecticut) hat Obama noch eine knappe Mehrheit von 46 zu 44 Prozent.

  • Eine Mehrheit besitzt Obama außerdem noch in der Altersgruppe von 18 bis 29 Jahren (24 Millionen Wähler, 46 zu 42 Prozent). In allen anderen Altersgruppe wünscht eine Mehrheit seine Ablösung.



  • Diejenigen, die Obama noch treu sind, repräsentieren also das klassische Wählerpotential der Linken:
  • Gutmenschen und wohlhabende "Linksliberale", hier vertreten durch die Staaten der Pilgerväter;

  • Geringverdienende und Transferempfänger, vertreten durch diejenigen, die keine Steuern an Washington entrichten;

  • junge Menschen, die noch glauben, sie müßten die Welt verändern.
  • Von der Gesamtheit der mehr als zehntausend Befragten wollen 42 Prozent weiter Barack Obama und 50 Prozent jemanden anderen als Präsidenten.

    Selten hat ein amerikanischer Präsident als Kandidat so große Hoffnungen geweckt, die er im Amt so schnell und so vollständig enttäuschte.



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    Zitat des Tages: X-37B - Beginnt jetzt die Militarisierung des Weltraums?

    Manche Rüstungsexperten argwöhnen allerdings, dass der Start der "X-37B" - auch Orbital Test Vehicle (OTV) genannt - den Beginn der Militarisierung des Weltraums markiert.

    "Spiegel-Online" über den gestrigen Start der amerikanischen Mini-Raumfähre X-37B.


    Kommentar: Beginn der Militarisierung des Weltraums! Man faßt es nicht.

    Die Militarisierung des Weltraums begann mit dem Start von Sputnik I am 4. Oktober 1957. Zwar war Sputnik I ein ziviler Satellit; aber die sowjetische Raumfahrt war, wie auch die amerikanische, von vornherein auch auf eine militärische Nutzung ausgerichtet.

    Dazu gehörten nicht nur militärische Beobachtungs- und Kommunikations-Satelliten, sondern es wurde auch richtig schön der Krieg der Sterne vorbereitet.

    Die UdSSR hatte ein Programm für die bemannte militärische Raumfahrt, das Projekt Almaz. Die Raumstationen dieses Programms (OPS 1-3) wurden zur Tarnung als Saljut-Stationen bezeichnet. Sie waren nicht nur mit Geräten zur Erdbeobachtung versehen, sondern sollten auch bewaffnet werden.

    Am 25. Juni 1974 startete Saljut 3. Auf dieser Station wurde im Januar 1975 eine Bordkanone getestet, die erfolgreich einen Zielsatelliten zerstörte. Es handelte sich um eine 23-mm-Kanone, die mit einer Geschwindigkeit von 950 Schuß/Minute feuern konnte. Die Projektile hatten eine Masse von je 200 g und wurden mit einer Geschwindigkeit von 690 m/s relativ zur Station abgeschossen. Zur Ausrichtung der Kanone auf das Zielobjekt wurde die Station entsprechend gedreht.

    Dieses Kanone, die aus der Bordkanone eines TU-22-Bombers entwickelt worden war, sollte später durch eine speziell entwickelte Weltraumkanone (Shchit-2) ersetzt werden. Dazu kam es aber nicht mehr.

    Auch die Amerikaner planten den militärischen bemannten Raumflug. Das Projekt trug den Namen MOL (Manned Orbital Laboratory). Es gelangte aber über einen unbemannten Testflug nicht hinaus und wurde bereits 1969 eingestellt. Das sowjetische Projekt Almaz endete am 8. August 1977, als Saljut 5 (=OPS 3) zum Absturz gebracht wurde.

    Den Militärs war sehr schnell klargeworden, daß alles, was von militärischem Nutzen ist, von unbemannten Satelliten besser geleistet werden kann als von Astronauten.



    Dasselbe gilt übrigens für die wissenschaftliche Forschung (siehe Der Wahnwitz der bemannten Raumfahrt; ZR vom 14. 7. 2007). Menschen ins Weltall zu befördern diente immer vorrangig der politischen Propaganda und nicht der Forschung.

    Das wird exemplarisch deutlich am Schicksal des sowjetischen Mondprogramms (siehe Das sowjetische Programm für den bemannten Mondflug und sein dramatisches Ende; ZR vom 20. 7. 2009): Es wurde mit Hochdruck unter Einsatz aller Mittel betrieben, bis die Landefähre Eagle von Apollo 11 auf dem Mond landete. Als damit die Sowjets um den geplanten Propaganda-Erfolg eines ersten bemannten Mondflugs gebracht worden waren, wurde das Programm sofort eingestellt.

    Auch die gestern gestartete X-37B ist nicht für den Transport von Astronauten vorgesehen, wie das die Europäer einmal unter der Bezeichnung Hermes für ein ähnliches Gerät geplant hatten. Menschen wären nur unnötige Nutzlast.



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    22. April 2010

    Marginalie: Unglaublich! Jetzt schlampt die "Zeit" auch noch beim Kreuzworträtsel. Nebst einem Service für Um-die-Ecke-Denker und alte Eckstein-Fans

    Wenn jemand regelmäßig das Kreuzworträtsel im "Zeit"-Magazin löst, das lange Jahre unter dem Autorennamen "Eckstein" erschien und das dann zu "Um die Ecke gedacht" anonymisiert wurde, dann weiß man über diesen Menschen zweierlei:

    Erstens ist er mit Sicherheit einigermaßen intelligent und kenntnisreich; denn ohne das geht's nicht. Zweitens ist es sehr wahrscheinlich ein humorvoller, also ein netter Mensch. Denn wenn man keinen Sinn für Humor hat, dann macht's keinen Spaß.

    Treffe ich in der Bahn oder sonstwo jemandem dabei an, daß er dieses Rätsel löst, und ergibt sich ein kleines oder auch längeres Gespräch, dann habe ich diese Merkmale immer bestätigt gefunden. Man erkennt einander, man versteht einander.

    Und man konnte lange Zeit die folgende Grundüberzeugung teilen: Eckstein und seine Nachfolger machen so gut wie keine Fehler. Was sie erfragen, das ist so; im Rätsel steht alles an seinem richtigen Platz. Eine Oase der Sicherheit und Stimmigkeit innerhalb eines Wochenblatts, in dem Schlamperei und Linksgebrabbel inzwischen das Lesevergnügen verderben.

    Schon vor ein paar Wochen passierte es nun aber, daß in einigen Kästchen falsche Zahlen standen; da half kein Um-die-Ecke-Denken. Nun gut, das ließ sich damals erraten und korrigieren.

    Vor gut drei Jahren allerdings war es schon einmal wild durcheinander gegangen; siehe Randbemerkung: Rätseln und Lachen ZR vom 28. 1. 2007; dort auch ein ausführliches Lob Ecksteins).

    Wer nun heute die Seite 59 des "Zeit"-Magazins (17/2010 vom 22. April 2010) aufschlägt und mit dem Raten beginnt, der wird sich alsbald verhohnepiepelt vorkommen.

    25 waagerecht: "An der mathematischen ... weiß ein jeder: Der Ausruf gehört bei ihr zur Zeichensetzung". Das ist eine jener Fragen, bei denen man sofort sicher sein kann, daß man die Lösung hat und daß nur sie richtig sein kann: FAKULTAET. Ein Wort mit neun Buchstaben also. Und wieviele Kästchen werden unter 25 waagerecht angeboten? Fünf!

    Ich glaube, mich tritt ein Pferd, mag da mancher Rätsler gedacht haben, oder, je nach Generation, staun, ächz, stöhn. Aber so steht es da.



    Um es kurz zu machen: Das Rätsel stimmt diesmal hinten und vorn nicht. Offenbar hat man zusammen mit den richtigen Fragen das falsche Gitter abgedruckt.

    Daß das so ist - und jetzt kommt mein Service -, können Sie sehen, wenn, nachdem Ihr Zorn verraucht ist und Ihre Verzweiflung sich gelegt hat, das Rätsel auf den Internet-Seiten der "Zeit" aufsuchen. Hier finden Sie die ausdruckbare richtige Version. Und wenn Sie das Rätsel interaktiv am Rechner lösen wollen, dann können Sie das hier tun.

    Ich löse es übrigens nie interaktiv. Man hat doch seine Rituale. Bei mir wird das Magazin mit aufgeschlagener Eckstein-Seite auf ein Schreibbrett geklemmt, an dem bereits der Kuli steckt (kein Bleistift, denn radiert wird nicht). Dann geht's mit einem Getränk (zur Lockerung der Assoziationen) zum Sessel oder auf die Gartenliege, und, begleitet mal von Vivaldi und mal von den Spatzen und Meisen in unserem Garten, geht es los mit dem Raten.

    Heute also mit 7 waagerecht "War nicht selten beteiligt, wo alles im Lot ist". Also, eines weiß ich: "Schlußredakteur der 'Zeit'" kann die Lösung nicht heißen.



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    Zitat des Tages: "Ignorante Aufklärer". Greenpeace desinformiert. Nebst einer Erinnerung an die "Brent Spar"

    Aus ungefähr fünfzigtausend Seiten Gorleben-Akten verschiedener Behörden haben Greenpeace-Experten 27 Schriftstücke herausgefischt. Eine Woche vor der Konstituierung des Gorleben-Untersuchungsausschusses im Bundestag wurden sie auszugsweise auf der Internetseite von Greenpeace zur Schau gestellt. Präsentiert wird dort unter anderem ein „bis zu eine Million Kubikmeter großes Wasserreservoir“ im Salzstock Gorleben, das angeblich seit 1996 vom Bundesamt für Strahlenschutz vertuscht wird. (...)

    Längst aber hat sich herausgestellt, dass der 1996 entdeckte Laugeneinschluss nicht hunderttausende sondern nur einige hundert Kubikmeter groß ist. (...) Die plumpe Manipulation mit Akten hat sich für die Atomkraftgegner wieder einmal gelohnt: Wie immer, haben ihnen fast alle Medien ihre Schauergeschichte abgekauft.


    Der Chef des Ressorts Innenpolitik der FAZ, Stefan Dietrich, in FAZ.Net über Greenpeace und das geplante Endlager Gorleben. Titel seines Kommentars: "Ignorante Aufklärer".


    Kommentar: Nein, ignorant sind sie nicht, diese selbsternannten "Aufklärer" von Greenpeace. Sie haben nur ein Verhältnis zur Wahrheit, das demjenigen des Barons Münchhausen ähnelt.

    Zu den bizarrsten Umfrage-Ergebnissen, die ich jemals gelesen habe, gehört es, daß Greenpeace zu den drei Institutionen gehöre, denen die Deutschen das meiste Vertrauen entgegenbringen - nach dem ADAC und dem Roten Kreuz, vor der Diakonie und der Caritas.

    Bis 1995 habe ich Greenpeace zwar nicht besonders vertraut, es aber doch für eine seriöse Organisation gehalten. Mein Bild hat sich grundlegend geändert, als herauskam, wie sich Greenpeace in der "Brent Spar"-Affäre verhalten hatte.

    Zur Erinnerung: "Brent Spar" war der Name einer Ölplattform (eines schwimmenden Öltanks), die 1995 ausgedient hatte und die Shell durch Versenken in der Tiefsee entsorgen wollte. Dagegen veranstaltete Greenpeace eine höchst wirkungsvolle Kampagne, inclusive "Besetzung" der Plattform und massiven Vorwürfen gegen Shell. Dieses sah sich so unter Druck, daß der Plan zur Versenkung aufgegeben wurde.

    Eine zentrale Rolle in der Kampagne spielte die Behauptung von Greenpeace, daß mit der Brent Spar 5.500 Tonnen Öl versenkt werden sollten, und nicht die von Shell angegebenen 50 Tonnen. Auch wurden erschreckende Zahlen über die Belastung durch Schwermetalle und Chemikalien genannt.



    Alles falsch. Eine unabhängige Untersuchung der angesehenen Stiftung Det Norske Veritas bestätigte später die Daten, die Shell vorgelegt hatte.

    Greenpeace entschuldigte sich mit einem "Rechenfehler" und damit, daß bei der Messung "eine Sonde in einem Rohr steckengeblieben" sei. Wie es tatsächlich gewesen war, das hat 1996 Reiner Luyken für die "Zeit" penibel recherchiert:

    Nachdem ein Greenpeace-Trupp die "Brent Spar" geentert hatte, beauftragte der Leiter dieses Trupps, Jonathan Castle, einen gewissen Frank Kamp, einen gelernten Steuermann, mit Messungen. Luyken:
    Ein Peilgerät ist nicht zur Hand. Frank Kamp improvisiert, so gut es geht. Er bindet ein leeres Erdnußbutterglas und zur Beschwerung einen Eisenbolzen an eine auf eine Kabelrolle gezogene Nylonschnur. Im Lüftungsrohr 1 trifft sein Apparat nach 25 Metern auf Öl und sinkt langsam bis auf 50 Meter. Darunter - also bereits sechs Meter über der Tanköffnung - ist Seewasser. Über Tank 2 stehen die Ölreste, die sich in dem Rohr gesammelt haben, 20 Meter hoch. In Rohr 4 bleibt das Gerät bei 45 Metern in einem öligen Wachspfropfen hängen.

    Frank Kamp heute: "Ich erklärte in einer E-Mail an Paul Johnston genau, wie und wo ich die Proben genommen hatte. Der Brief ist etwa zwei A4-Seiten lang. Daraus ging eindeutig hervor, daß die Proben aus den Lüftungsrohren und nicht aus den Tanks stammten.

    Deshalb war es klar, daß sie nichts über die Ölmenge aussagten."
    Das hinderte Greenpeace nicht, just diese Aussage über die Ölmenge zu machen und sie mit Tamtam zu verbreiten.

    Nachdem herausgekommen war, daß das die Unwahrheit gewesen war, entschuldigte man sich, aber die Reue hielt sich in Grenzen. Reiner Luyken schreibt:
    Es dauert noch einmal bis zum 4. September, bevor der britische Greenpeace-Geschäftsführer Peter Melchett sich in einem zunächst an die englische Presse gefaxten und dann erst "Dear Christopher Fay", dem Vorsitzenden der britischen Shell, zugeleiteten Brief für den "Irrtum" entschuldigt: "Wir haben in den letzten Tagen festgestellt, daß die Sonde sich bei der Probenentnahme noch in dem Rohr befand und nicht in den Tank selber eingedrungen war." Die Legende vom Irrtum bei der Probenentnahme ist geboren. Frank Kamp heute: "Ich war zutiefst verletzt, als sie jetzt mir die Schuld zuschoben." Er bekräftigt: "Die Proben waren nie dafür bestimmt, wofür sie verwendet wurden."
    Macht nichts. Was zählen solche schnöden Details, wenn es doch um die große Sache geht? Luyken:
    Der tiefere Grund des unbekümmerten Umgangs mit der Wahrheit liegt nicht nur in individuellem Fehlverhalten, sondern in einer bei Greenpeace vorherrschenden Einstellung zur Wissenschaft, die auf einer Stufe mit den Gottesbeweisen des Mittelalters steht. Ihr gehe es darum, eine "mit unseren Wertvorstellungen konsistente Wissenschaft zu schaffen", erklärt Helen Wallace. Paul Horseman sieht in der Wissenschaft in erster Linie ein "Kampagneninstrument".

    Für die altmodische Vorstellung, bei Wissenschaft gehe es um Erkenntnis, haben sie nicht viel übrig. Deshalb spielt es für sie auch keine Rolle, daß es, wie beide einräumen, vom rein wissenschaftlichen Standpunkt kaum Argumente gegen eine Versenkung der Brent Spar gibt. Die Hauptsache sei, "wir stehen moralisch auf der richtigen Seite".


    Sie vertrauen, lieber Leser, Greenpeace, wenn es jetzt behauptet, im Salzstock Gorleben gebe es ein "bis zu eine Million Kubikmeter großes Wasserreservoir"? Lesen Sie den Artikel von Reiner Luyken, und sie werden Greenpeace kein Wort mehr glauben.



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    21. April 2010

    Marginalie: Der Flug des Falken. Was die "Falcon" bei der Suche nach Vulkanasche fand. Und was nicht

    Der Bericht über den Meßflug des Forschungsflugzeugs "Falcon", das auf die Suche nach Vulkanasche über Deutschland geschickt worden war, liegt jetzt vor. Er ist als PDF-Datei jedermann zugänglich. Die Zusammenfassung lautet vollständig:
    A successful Falcon measurement flight was performed on 19 April 2010 for probing plumes over Germany from the Iceland Eyjafjallajökull volcano eruption. Layers of volcanic ash were detected by Lidar and probed in-situ with aerosol instruments. Under suitable viewing conditions, the ash layer was visible as a brownish layer to the observer. The horizontal and vertical distributions of the volcano layers were variable.

    In the plume layers particles larger than 3μm were detected at concentrations, not present in the free troposphere during unpolluted conditions. The concentrations of large particles measured in the volcano layers are comparable to concentrations measured typically in Saharan dust plumes but smaller compared to particle concentrations in the polluted boundary layer. An estimation of the particle mass concentration in the volcanic ash plume probed as part of a vertical profile over Leipzig at about 4 km altitude yield 60 μg/m3.

    After the flight the Falcon was inspected. So far no damages were observed including engines (after boroscopy) and windows. Further engine inspection is ongoing. Silver foils attached to under-wing stations showed no visible impact from volcanic ash.

    Am 19. April wurde erfolgreich ein Meßflug mit der Falcon durchgeführt, um über Deutschland Aschefahnen (plumes) vom Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull zu untersuchen. Mittels Lidar wurden Schichten vulkanischer Asche entdeckt und vor Ort mit Aerosol-Instrumenten untersucht. Unter günstigen Beobachtungsbedingungen war die Ascheschicht vom Beobachter als eine bräunliche Schicht wahrnehmbar. Die horizontalen und vertikalen Verteilungen der Schichten waren variabel.

    In den Schichten von Aschefahnen wurden Partikel größer als 3μm in Konzentrationen gefunden, die unter Bedingungen ohne Verunreinigung in der freien Troposphäre nicht vorkommen. Die Konzentrationen großer Partikel, die in den Vulkanschichten gemessen wurden, sind vergleichbar den typischen Konzentrationen in Staubfahnen aus der Sahara, jedoch kleiner im Vergleich zu den Partikel-Konzentrationen in der verunreinigten Grenzschicht. Eine Schätzung der Massen-Partikel-Konzentration in der Fahne vulkanischer Asche, die im vertikalen Profil über Leipzig untersucht wurde, liefert 60 μg/m3.

    Nach dem Flug wurde die Falcon untersucht. Bisher wurden keine Schäden festgestellt, einschließlich der Triebwerke (nach Boroskopie) und der Fenster. Eine weitere Untersuchung der Maschine ist im Gang. Silberfolien, die unter den Tragflächen angebracht waren, zeigten keine sichtbare Einwirkung durch Vulkanasche.


    Das also ist nach diesen Meßergebnissen das Ereignis, das tagelang den Flugverkehr über Europa lahmlegte:

    Eine Konzentration größerer Partikel, wie sie vorkommt, wenn der Wind Sand aus der Sahara nach Europa weht. Überhaupt keine erkennbaren Schäden an Fenstern oder Triebwerken des Flugzeugs, das doch durch alle diese "Aschewolken" gezielt hindurchgeflogen ist. Noch nicht einmal die unter den Tragflächen angebrachte Silberfolien zeigten eine Einwirkung von Partikeln.

    Man vergleiche das mit dem Ereignis, das bei der jetzigen - so darf man sie inzwischen wohl nennen - Überreaktion im Hintergrund gestanden hatte: Flug 9 der BEA einer Boeing 747-236B am 24. Juni 1982 in Indonesien. Damals war der Vulkan Mount Galunggung ausgebrochen, durch dessen Vulkanasche die Boeing flog:
    As the flight progressed, smoke began to gather throughout the passenger cabin of the aircraft and it was at first assumed to be cigarette smoke. However, it soon began to grow thicker and had an ominous odour of sulphur. Passengers who had a view out of the aircraft windows noted that the engines were unusually bright with the light shining forward through the fan blades and producing a stroboscopic effect.

    Im weiteren Verlauf des Flugs begann sich Rauch in der Passagierkabine anzusammeln, der zunächst für Zigarettenrauch gehalten wurde. Jedoch wurde er schnell dicker und hatte einen seltsamen Schwefelgeruch. Passagiere, die durch die Fenster des Flugzeugs blicken konnten, bemerkten, daß die Triebwerke ungewöhnlich hell waren; Licht schien nach vorn durch die Gebläseflügel hindurch und erzeugten einen stroboskopischen Effekt.
    Dieses Flugzeug, die City of Edinburgh, war also durch eine wirkliche "Wolke von Vulkanasche" geflogen und nicht nur durch ein "verunreinigtes Gebiet" (zum Unterschied siehe Endlich ein kompetenter Artikel über die Hintergründe des Vulkanasche-Flugverbots; ZR vom 20. 4. 2010).

    Die in der Wolke konzentrierten Partikel drangen damals in die Triebwerke ein, schmolzen in deren Hitze und legten sie dadurch vorübergehend lahm. Nachdem der Pilot Moody (Durchsage an die Passagiere: "Wir haben ein kleines Problem. Alle vier Triebwerke sind ausgefallen. (...) Machen Sie sich nicht allzuviele Sorgen") die Maschine im Gleitflug durch die Aschewolke gesteuert hatte, konnten die Triebwerke wieder gestartet werden, und das Flugzeug landete sicher in Djakarta.

    Das, was jetzt die "Falcon" gemessen hat, dürfte sich zu der damaligen Aschewolke ungefähr so verhalten wie ein laues Frühlingslüftlein zu einem Orkan.



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    20. April 2010

    Marginalie: FAQs zu Aschenwolke, Flugverbot, Sichtflug, Instrumentenflug u.a.

    Seit heute Nachmittag bietet der Chefredakteur von "Pilot und Flugzeug", Jan Brill, in einer Zusammenstellung von Fragen und Antworten die wichtigsten Informationen zum Flugverbot und seinen Hintergründen sowie Erläuterungen technischer Details.

    Als Ergänzung zu dem Artikel, auf den ich heute Mittag hingewiesen hatte, sind diese Informationen sehr zu empfehlen; wie auch die Diskussion zu dem Artikel von Jan Brill, in der Sie u.a. die aktuellen heutigen Erfahrungen von Piloten mit der jetzt bestehenden Sichtflug-Regelung lesen können.

    Nach dem, was dort berichtet wird, würde ich wohl im Augenblick lieber nicht fliegen, wenn es nicht unbedingt sein müßte. (Kostprobe aus dem Kommentar eines Piloten: "Also ICH würde mich unwohl fühlen in Sitzreihe 50 in einem Airliner, der mit 350 KTAS durch den Luftraum E düst. Am WE habe ich, etwa, in der Nähe von Zürich in Reiseflughöhe einen Gleitschirmflieger getroffen").



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    Marginalie: Endlich ein kompetenter Artikel über die Hintergründe des Vulkanasche-Flugverbots. Bahnt sich ein Skandal an?

    Als ich am Sonntag eine kurze Notiz zu diesem Thema schrieb, war mir unwohl beim Schreiben, denn ich hatte zwar einige Informationen zum Hintergrund gefunden, aber längst keinen zufriedenstellenden Überblick.

    Jetzt hat R.A. in Zettels kleinem Zimmer auf einen heutigen Artikel aufmerksam gemacht, der endlich diese Informationen enthält. Der Autor ist Jan Brill, Chefredakteur des Fachmagazins "Pilot und Flugzeug", und zu lesen ist der Artikel hier.

    Wenn Sie irgend die Zeit haben, dann lesen Sie diesen Artikel, und Sie sind besser informiert als 99 Prozent der deutschen Zeitungsleser und vermutlich kein viel geringerer Anteil der deutschen Journalisten.

    Für den Fall, daß Sie diese Zeit nicht haben, hier die Essenz:
  • Die jetzigen Maßnahmen folgen dem auch schon in meinem Artikel vom Sonntag erwähnten Volcanic ash contingency plan EUR region in seiner Fassung vom September 2009 (ICAO Doc 19).

  • Dieser enthält aber nur technische Vorschriften, die regeln, wie zu verfahren ist, wenn eine Sperrung aufgrund einer Aschenwolke erfolgt ist. Es soll damit zu Beispiel dafür Sorge getragen werden, daß nicht in London ein Flugzeug in Richtung Prag startet, wenn dort der Luftraum bereits gesperrt ist. Brill:
    Soweit ist das ein reiner Implementierungsplan, der die inneren Mechanismen im Zusammenspiel der ATC-Organisationen festlegt. Ein wie auch immer geartetes Mandat zur Sperrung eines Luftraums ergibt sich dadurch in keinster Weise, es wird – um eine Analogie aus dem Straßenverkehr zu bemühen – vielmehr festgelegt, wo, wann und wie viele Warnbarken bei einer möglichen Straßensperrung aufgestellt werden.
  • Ob und wann eine Sperrung erfolgt, legt dieser Notfallplan also nicht fest. Er spricht nur schlicht von "ash clouds", von Aschewolken. Ob diese vorliegen, muß gewissermaßen von außen eingegeben werden. Hierzu nun wurde im jetzigen Fall ein Rechenmodell zugrundelegt, das aber gerade nicht das Auftreten von Aschewolken simuliert, sondern nur das von "contaminated areas", von verunreinigten Gebieten also. Brill:
    Das ICAO Doc 19 verlangt "ash clouds" als Input, um das Räderwerk der Zero-Flow-Restriction in Gang zu setzen, vorgesetzt bekommt es allerdings eine "contaminated area" mit ausdrücklich unbestimmter Aschekonzentration.
  • Als erster Schritt war das, schreibt Brill, vernünftig, da man ja erst einmal sehen mußte, ob und wie sich Aschewolken entwickeln:
    Skurril wird der Vorgang erst, da die offenkundige Anschauung (keine Aschewolke zu sehen) zugunsten des missinterpretierten Computermodells verworfen wurde. Ergebnis: Bei strahlend blauem CAVOK-Wetter, dem bislang besten Flugwetter des Jahres, steht die gesamte deutsche IFR-Luftfahrt still, weil man – vereinfacht gesagt – auf den Computer starrte, anstatt aus dem Fenster zu schauen.
  • Inzwischen gibt es zu dem Artikel schon zahlreiche Kommentare; den Fachkenntnissen und der Diktion nach überwiegend von Berufspiloten geschrieben. Fast alle stimmen Brill im Kern zu.

    Wenn das so ist, dann bahnt sich ein Skandal an; ein bürokratischer Skandal, ein Skandal vor allem der EU-Bürokratie.

    Ein Skandal mit Neben-Skandalen, zum Beispiel der bürokratischen Entscheidung, Transit-Passagiere tagelang unter unzumutbaren Bedingungen auf den Flughäfen festzuhalten, statt ihnen durch Sondergenehmigungen die Möglichkeit zu geben, sich vorübergehend in einem Hotel einzuquartieren.



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    Zitat des Tages: "Rot-Rot-Grün". Sigmar Gabriels Versprecher, Hannelore Ypsilantis ... äh ... Krafts Hintertürchen

    Die Wahl ist entschieden, wenn die Wahlbeteiligung hoch ist. Dann hat Rot-Rot-Grün eine eigene Mehrheit.

    Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel gestern vor der Bundespressekonferenz zur bevorstehenden Landtagswahl in NRW. Ein Video dazu können Sie sich bei FAZ.Net ansehen.


    Kommentar: Auch wenn man Sigmund Freuds Psychoanalyse skeptisch gegenübersteht, kann man seine Theorie der Fehlhandlungen und speziell der Versprecher plausibel finden: Während wir sprechen, entstehen in unserem Gehirn ständig neue Gedanken. Einige davon schaffen es bis zur Formulierung in der Sprache, andere werden verworfen oder unterdrückt, weil wir sie unpassend finden. Aber manchmal mißlingt das Unterdrücken, und solch ein Gedanken setzt sich gegen unseren Willen doch in Sprache um.

    Freuds klassisches Beispiel ist der Versprecher, daß etwas "zum Vorschwein gekommen" sei. Da hat der Sprecher offensichtlich gedacht, daß der betreffende Vorgang eine Schweinerei gewesen sei; aber so deutlich hatte er es denn doch nicht sagen wollen. Der unterdrückte Gedanke hat sich aber, befördert durch sprachliche Ähnlichkeit, in das intendierte "Vorschein" eingeschmuggelt; es entstand das, was die Linguistik Blend nennt, eine Mischform aus zwei Wörtern.

    Sigmar Gabriels gestriger Versprecher ist ein klassischer Freud'scher Versprecher. Denn natürlich weiß Gabriel, weiß die Führung der SPD in NRW, daß mit großer Wahrscheinlichkeit die SPD allein mit den Grünen nach den Wahlen keine Regierungsmehrheit haben wird. Und natürlich beabsichtigt man, wenn es denn für eine Mehrheit gemeinsam mit den Kommunisten reicht, diese auch zum Regieren zu nutzen.

    Nur sagen darf man es nicht. Man muß es unterdrücken. Aber der unterdrückte Gedanke, im Gehirn Sigmar Gabriels zur sprachlichen Quarantäne verurteilt, hat sich bei seinem gestrigen Auftritt für einen kurzen Augenblick befreien können und den Versprecher produziert.

    So jedenfalls hätte Sigmund Freud das gedeutet, und unplausibel ist es ja nicht; übrigens auch durchaus vereinbar mit den Ergebnissen der modernen Forschung zu diesem Thema.



    Warum kann die SPD nicht jetzt schon sagen, daß sie bereit ist, in NRW mit den Kommunisten zu koalieren? Aus zwei offensichtlichen Gründen.

    Erstens würde das manchen Wähler, der sich keinen Kommunisten als Minister des Landes Nordrhein-Westfalen vorstellen mag, dazu bewegen, seine Stimme nicht der SPD oder den Grünen zu geben, sondern entweder gar nicht zur Wahl zu gehen oder zähneknirschend doch noch einmal den "Arbeiterführer" Rüttgers zu wählen.

    Zweitens würde die Ankündigung, man werde gegebenenfalls mit der Partei "Die Linke" koalieren, dieser Partei Auftrieb geben, und zwar auf Kosten der SPD und vielleicht auch der Grünen.

    Solange die SPD vorgibt, sie werde nicht mit der Partei "Die Linke" koalieren, wird das - so jedenfalls das Kalkül - manchen linken Wähler veranlassen, die SPD und nicht die Kommunisten zu wählen; aus Sorge, sonst werde es gar keine linke Regierung geben. Eine Partei "Die Linke", die von der SPD zur potentiellen Regierungspartei geadelt wurde, könnte von solchen Linken hingegen unbesorgt gewählt werden.

    Die Kandidatin Hannelore Kraft hat sich deshalb die stereotype Formel ausgedacht, die Partei die Linke sei für die SPD "derzeit nicht regierungsfähig"; in "Freitag" hat Tom Strohschneider kürzlich einige der einschlägigen Zitate zusammengestellt.

    Nicht ungeschickt formuliert: Es klingt, als werde man nicht mit dieser Partei gemeinsam regieren können. Aber Kraft sagt ja "derzeit" (nur einmal vergaß sie diesen Zusatz; letzten Donnerstag bei Maybrit Illner). "Derzeit" heißt nicht "künftig". Nach der Wahl kann man sagen, daß die Fraktion von "Die Linke" ja nicht die Partei sei, und daß nach Sondierungsgesprächen sich diese Fraktion nun doch als regierungsfähig erwiesen habe, erfreulicherweise. Auch könnte man sich erst einmal tolerieren lassen; wer zum Regieren nicht fähig ist, kann sehr wohl fähig zum Tolerieren sein.

    Kurzum, Kraft möchte es Andrea Ypsilanti nachmachen, aber deren Fehler vermeiden. Sie will, wie damals Ypsilanti, als ihr Primärziel die Partei "Die Linke" aus dem Landtag heraushalten, wenn es irgend geht. Sie will aber, genau wie damals Ypsilanti, mit dieser Partei gemeinsam - oder durch diese unterstützt - regieren, wenn sie denn nicht anders regieren kann.

    Ypsilanti hatte den Fehler gemacht, sich vor der Wahl bindend festzulegen (siehe Frau Ypsilanti sagt, was sie sagen muß; ZR vom 3. 3. 2008). Hannelore Kraft will diesmal schlauer sein. Sie will den Eindruck erwecken, sie lege sich fest, sich aber ein Hintertürlein offenlassen.

    Und da schlägt es nun ihr Parteichef Gabriel krachend zu, das Hintertürchen. Jedenfalls dürften nach diesem Patzer die Fragen, wie es Frau Kraft denn mit den Kommunisten hält, nun dringlicher werden.



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    19. April 2010

    Anmerkungen zur Sprache (9): Eine Türkin als deutsche Ministerin?

    Bei der heute bekanntgegebenen Umbildung seiner Regierung hat der niedersächsische Ministerpräsident Wulff die CDU-Politikerin Aygül Özkan in sein Kabinett geholt. Sie wird Chefin des Sozialministeriums, das um die Zuständigkeit für Integration erweitert wurde.

    Eine erfreuliche Nachricht. Nicht nur, weil die Juristin Özkan, die innerhalb von sechs Jahren in der Hamburger CDU eine steile Karriere gemacht hat, offenbar ein politisches Talent ist. Sondern auch deshalb, weil sie türkischer Herkunft ist; ein Beispiel also für gelungene Assimilation und damit ein Vorbild für andere Deutsche, deren Vorfahren aus der Türkei eingewandert sind.

    Nur nennen wir sie seltsamerweise nicht so, die Deutschen mit türkischen Vorfahren. Sondern sie werden in der Regel - auch in der verlinkten Meldung - "Deutsch-Türken" genannt.



    Die deutsche Sprache ist in solchen Dingen sehr genau. Ein zusammengesetztes Nomen hat eine Kernbedeutung, die durch einen Zusatz oder Zusätze präzisiert oder modifiziert wird. Ein Knopfloch zum Beispiel ist ein Loch, aber ein spezielles, nämlich das für einen Knopf. Der Holzlöffel ist ein Löffel, und zwar einer, der aus Holz gefertigt wurde. Ein Deutschamerikaner ist ein Amerikaner, aber einer mit deutschen Vorfahren; so, wie ein Frankokanadier ein Kanadier ist, dessen Vorfahren aus Frankreich kamen.

    Ein Amerikaner mit deutschen Vorfahren ist aber kein Amerikadeutscher, und ein Kanadier französischer Herkunft kein Kanadafranzose; so wenig, wie ein Loch für einen Knopf ein Lochknopf ist und ein Löffel aus Holz ein Löffelholz. Das Nomen wird durch das Präfix ergänzt, nicht umgekehrt. Gerade bei Doppelwörtern, die aus zwei Bezeichnungen für Nationalitäten gebildet werden, ist dieser Unterschied konstitutiv für die Bedeutung. Ein Afroamerikaner ist, um ein weiteres Beispiel zu nennen, kein Afrikaner, sondern ein Amerikaner mit Vorfahren aus Afrika.

    Das Präfix muß sich allerdings nicht unbedingt auf die Herkunft beziehen. Eine zweite Möglichkeit, wie es in solchen Wörtern die Bedeutung des Nomens modifiziert, besteht in der Angabe des Wohnsitzes. Rußlanddeutsche lebten über Generationen im zaristischen Rußland und dann in der Sowjetunion, hatten aber weiter - in ihren Paß eingetragen - die deutsche Nationalität. Als Algerienfranzosen bezeichnete man ganz analog vor der Unabhängigkeit Franzosen, die in Algerien lebten.



    Folgt man diesen Regeln des Deutschen, dann ist ein Deutschtürke ein Türke, der entweder deutsche Vorfahren hat (wie der Deutschamerikaner) oder der in Deutschland lebt, aber weiter Türke ist (so, wie der Algerienfranzose ein Franzose blieb).

    Das erstere ist natürlich nicht gemeint. Also das zweite? Es scheint in der Tat so, als solle mit der Bezeichung "Deutschtürke" zum Ausdruck gebracht werden, daß es sich eben nicht um Deutsche handelt, sondern um Türken, die lediglich in Deutschland leben.

    Will man das nicht ausdrücken, dann sollte man auch nicht diese Bezeichnung verwenden. Sprachlich korrekt wäre es, Deutsche mit türkischen Vorfahren als Türkendeutsche oder Türkodeutsche zu bezeichnen. So, wie Frank Sinatra und Dean Martin Italoamerikaner waren, und wie Henry Kissinger ein Deutschamerikaner ist und kein Amerikadeutscher.

    Nicht wahr, Sie empfänden es als absurd und anmaßend, wenn wir Kissinger, den früheren amerikanischen Minister, einen Amerika-Deutschen nennen würden? Aber ist es dann nicht ebenso absurd, die frisch ernannte deutsche Ministerin Aygül Özkan eine Deutsch-Türkin zu nennen?



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Johann Gottfried Herder. Gemälde von Johann Ludwig Strecker (1775). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier.

    Zitate des Tages: "Alles wird gleichgesetzt". Islam, Islamismus und die Kritikerin Carolin Emcke

    Dieser Tage gilt: Es ist keine Schande, Muslim in Europa zu sein, aber es ist enorm ungünstig. (...) Jeder einzelne Muslim wird verantwortlich gemacht für Suren, an die er nicht glaubt, für orthodoxe Dogmatiker, die er nicht kennt, für gewalttätige Terroristen, die er ablehnt, oder für brutale Regime in Ländern, aus denen er selbst geflohen ist. Muslime müssen sich distanzieren von Ahmadineschad in Iran, den Taliban in Afghanistan, von Selbstmordattentätern und Ehrenmördern, und diese Distanzierung glaubt ihnen doch keiner, weil alles gleichgesetzt wird: Islam und Islamismus, Glaube und Wahn, Religiosität und Intoleranz, Individuum und Kollektiv.

    Carolin Emcke am 26. Februar in "Zeit-Online" über das, was sie - so der Titel ihres Aufsatzes - als "Liberalen Rassismus" ansieht, der "das bürgerliche Zentrum erreicht" habe.

    Ich kenne keinen liberalen Kritiker, der all das von jedem einzelnen Muslim verlangt.

    Johannes Kandel gestern in einer Erwiderung auf den Aufsatz von Emcke.


    Kommentar: Kandel faßt in einem Satz das zusammen, was den Aufsatz von Emcke nachgerade unsäglich macht:

    Sie tritt für einen differenzierenden Blick auf den Islam und auf Moslems ein; was ja begrüßenswert ist. Nur zeigt ihr Aufsatz eine Sicht auf die Kritiker des Islam, die derart grobschlächtig und verallgemeinernd ist, daß es einen graust.

    Sie hat Schaum vor dem Mund und drischt auf Andersdenkende ein mit dem Ruf: Weg mit eurem Schaum vor dem Mund! Drescht nicht auf Andersdenkende ein!



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.