19. Juli 2010

Das Aus für die "Primarschule" in Hamburg. Ein Rückschritt wurde verhindert

Als gestern in Hamburg über die sogenannte Primarschule abgestimmt wurde, gaben von rund 1.300.000 Wahlberechtigten 491.600 ihre Stimme ab; das waren 37,8 Prozent. Davon stimmten 276.304 gegen die Primarschule. Das waren 56,2 Prozent der Abstimmenden. Es waren aber nur 21,3 Prozent der Stimmberechtigten.

Die Situation war damit fast identisch mit derjenigen vor kurzem in Bayern, als über ein striktes Rauchverbot abgestimmt wurde. Ich habe damals darauf aufmerksam gemacht, daß dieses Verbot von nur 23 Prozent der Stimmberechtigten durchgesetzt worden war; einer in dieser Frage engagierten Minderheit also (Striktes Rauchverbot in Bayern - ein Beispiel für die Fragwürdigkeit Direkter Demokratie; ZR vom 4. 7. 2010).

So war es auch gestern in Hamburg. Nicht "die Hamburger" haben die Primarschule abgelehnt, sondern ein gutes Fünftel der stimmberechtigten Hamburger. Jenes Fünftel, dem an der Erhaltung des jetzigen Schulsystems besonders gelegen war.



Anders als beim Volksentscheid in Bayern halte ich dieses Ergebnis in Hamburg von der Sache her für positiv, auch wenn es, was sein Zustandekommen angeht, meine Bedenken gegen die Direkte Demokratie bestätigt und verstärkt.

Ich halte das Ergebnis für erfreulich, weil es - jedenfalls vorerst und vielleicht ja mit einer Signalwirkung auf andere Bundesländer - eine Entwicklung gestoppt hat, die aus meiner Sicht verhängnisvoll gewesen wäre.

Beabsichtigt war es gewesen, die Grundschulzeit auf sechs Jahre zu verlängern und bei dieser Gelegenheit die Grundschule in "Primarschule" umzubenennen. Alle Schüler sollten also bis zum Alter von zwölf bis dreizehn Jahren "gemeinsam lernen".

"Gemeinsam lernen" - wer diese Sprachregelung erfunden hat, der hätte einen Orden für glänzende Public Relations verdient. Denn wer kann gegen Gemeinsamkeit sein, gar gemeinsames Lernen? Der Begriff dient dazu, etwas in ein freundlich-heimeliges Licht zu tauchen, was alles andere als heimelig ist; nämlich einen - so war es beabsichtigt gewesen - beträchtlichen Rückschritt, was die Differenzierung des Unterrichts angeht. Einen Rückschritt, der allein durch Ideologie begründet gewesen wäre.

Wenn sich die Didaktiker über eines einig sind, dann ist es die Erfordernis einer Differenzierung im Unterricht. Kinder unterscheiden sich nun einmal in ihren Begabungen und in ihren Interessen. Ein guter Unterricht muß dem Rechnung tragen, indem er - im Idealfall - jeden so fordert und so fördert, daß er aus seiner Begabung das Optimale machen und seine Interessen optimal verwirklichen kann.

Die Didaktiker unterscheiden innere und äußere Differenzierung. Innere Differenzierung bedeutet, daß der Lehrer innerhalb einer Klasse auf die einzelnen Schüler individuell eingeht. Dem sind nicht nur durch die Größe der Klassen Grenzen gesetzt, sondern vor allem durch den gemeinsamen Lernstoff, der nun einmal durch die jeweils gültigen Lehrpläne vorgegeben ist. Das Klassenziel ist für alle Schüler dasselbe, unabhängig von ihren Begabungen und Interessen.

Deshalb kann nur dann wirklich differenziert werden, wenn es auch eine äußere Differenzierung gibt - also eine Differenzierung in verschiedene Schulangebote mit unterschiedlichen Lehrplänen für die verschieden begabten und unterschiedlich interessierten Schüler.

Diese Einsicht ist selbstverständlich nicht neu. Bereits Anfang des Neunzehnten Jahrhunderts wurde in Deutschland die Mittelschule (Realschule) eingeführt, die zur Mittleren Reife führte (auch "Einjähriges" genannt weil sie zu einem auf ein Jahr verkürzten Wehrdienst berechtigte).

Als weitere Zwischenstufe zwischen der Volksschule und dem klassischen humanistischen Gymnasium traten ab Mitte des Neunzehnten Jahrhunderts die Oberrealschule und dann das Realgymnasium hinzu, die wie das klassische Gymnasium zum Abitur führten, aber mit Schwerpunkten auf entweder modernen Fremdsprachen oder Mathematik und Naturwissenschaften.

Fortgesetzt wurden diese Bemühungen um eine äußere Differenzierung mit der in den siebziger Jahren eingeführten reformierten Oberstufe mit ihrem Kurssystem, das in den beiden letzten Gymnasialjahren einen weitgehend auf die individuellen Interessen und Begabungen der Schüler zugeschnittene Fächerwahl ermöglichen sollte.



Was man in Hamburg vorhatte, geht in die genau umgekehrte Richtung: Statt Differenzierung war eine Entdifferenzierung beabsichtigt. Alle Schüler, wie verschieden auch immer ihre Begabungen und Interessen sind, sollten bis zum Ende der sechsten Klasse nicht nur gemeinsam lernen, sondern vor allem Dasselbe lernen. Erst ab ungefähr dreizehn Jahren sollte berücksichtigt werden, daß der Junge, der später einmal seinen Lebensunterhalt als ungelernter Arbeiter verdient, vielleicht andere Interessen und andere Begabungen hat als das Mädchen, das, sagen wir, später einmal Ärztin werden wird.

Wie kann man einen solchen absurden Rückschritt begründen, was das Ziel der Differenzierung des Unterrichts angeht? Im Koalitionsvertrag zwischen CDU und GAL vom 17. 4. 2008 heißt es dazu:
Wesentliches Ziel von Bildungspolitik ist es nach Auffassung der Koalitionspartner, Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrer sozialen und ethnischen Herkunft gleiche und gerechte Chancen für den Besuch von Bildungseinrichtungen und den Erwerb von Kompetenzen zu ermöglichen, um sie für ein selbständiges und selbst bestimmtes Leben in einer demokratischen Gesellschaft vorzubereiten. Gleichzeitig braucht der Wirtschaftsstandort Hamburg bestmöglich qualifizierte Menschen, um im globalen Wettbewerb erfolgreich bestehen zu können.

Die Koalitionspartner haben sich darauf verständigt, das Hamburger Schulsystem so weiterzuentwickeln, dass es allen Kindern und Jugendlichen gleiche Chancen für den Erwerb aller Bildungsabschlüsse offen hält. Mit einer Reform soll auch dem Wunsch vieler Eltern nach längerem gemeinsamem Lernen unter Erhaltung der Gymnasien Rechnung getragen werden.
Wie es mit dem "Wunsch vieler Eltern" bestellt ist, das hat die gestrige Abstimmung gezeigt. Wieso aber kann durch eine Verlängerung der Grundschulzeit auf sechs Jahre erreicht werden, daß "allen Kindern und Jugendlichen gleiche Chancen für den Erwerb aller Bildungsabschlüsse" offenstehen?

Es wird immer wieder argumentiert, es gebe Spätentwickler, die bei einer zu frühen "Einsortierung" nicht in die für sie richtige Schulform kämen. Es wird argumentiert, daß bei einer frühen Differenzierung nach Schulform nicht die Begabung, sondern die soziale Herkunft entscheidend sei. Und um Gesellschaftspolitik ging es ja augenscheinlich der schwarzgrünen Koalition mehr als um die didaktisch optimale Lösung.

Aber daß ein Kind nicht in die für seine Begabung optimale Schulform kommt, kann nach sechs Jahren ebenso passieren wie nach vier Jahren. Manche Menschen brauchen bis nach dem Schulabschluß, um den richtigen Weg zu finden; viele gelangen dann zum Beispiel über den Zweiten Bildungsweg zur Hochschulreife.

Nicht ein langes "gemeinsames Lernen" hilft da, sondern nur eine Durchlässigkeit zwischen den Schulformen, wie sie zum Beispiel in Bayern praktiziert wird. Die guten Schüler der Haupt- und der Realschule müssen aufs Gymnasium wechseln können; so wie umgekehrt denen, die das Gymnasium nicht schaffen, der Weg zum Haupt- oder zum Realschulabschluß offenstehen muß.

Und die soziale und, wie es in dem Koalitionsvertrag heißt, "ethnische" Herkunft? Wieso sie nach sechs Jahren eine geringere Rolle spielen sollte als nach vier Jahren, ist das Geheimnis der Koalitionäre.



Aber zeigen denn nicht die Erfahrungen anderer Länder, daß ein längeres "gemeinsames Lernen" von Vorteil ist? Da wird immer wieder die amerikanische High School genannt, "auf die alle Schüler gehen".

Ein grobes Mißverständnis. Denn alle Schulen des Sekundarbereichs tragen in den USA zwar den Namen High School; aber mehr als den Namen haben sie nicht gemeinsam. Hinter diesem Namen verbirgt sich eine Vielfalt, gegen die das deutsche gegliederte Schulsystem nachgerade ein Muster an Gleichmacherei ist.

Es gibt in den USA High Schools für Hochbegabte und für unterdurchschnittlich Begabte, für künstlerisch Begabte, sogar für Homosexuelle und Transsexuelle. Es gibt High Schools wie die Boston Latin School und die kalifornische Oxford Academy, die ihre Schüler nach strengsten Kriterien auswählen. Ich habe das vor einigen Jahren einmal ausführlich beschrieben: Ist das deutsche Schulsystem zu differenziert? Nein, zu egalitär; ZR vom 1. 7. 2007.

So etwas schafft Gerechtigkeit: Jedem Schüler wird, soweit das möglich ist, ein Lernangebot gemacht, das auf seine Fähigkeiten und seine Interessen zugeschnitten ist. Ein Schulsystem, in dem alle in derselben Klasse sitzen und nach demselben Lehrplan lernen müssen, so daß die einen überfordert sind und die anderen sich langweilen, ist das Gegenteil eines gerechten Systems.

Gut, daß in Hamburg - wenn auch nur dank des Votums eines Fünftels seiner Bürger - dieser Rückschritt verhindert wurde. Und peinlich für die CDU, daß es dieses Volksentscheids bedurfte, um sie davon abzuhalten, sich vor den Karren einer ideologischen und kontraproduktiven Schulpolitik der GAL spannen zu lassen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Lehrer Lämpel aus Buschs "Max und Moritz". In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Bearbeitet