9. Juli 2010

Marginalie: Gabriel versucht eine Koalitionsstrategie à la Merkel

Als bei den Bundestagswahlen 2005 der erwartete Wahlsieg von Schwarzgelb ausbliebt, zog Angela Merkel aus dieser Niederlage eine strategische Konsequenz:

Wenn die CDU sich - wie sie das in Leipzig Ende 2003 programmatisch festgelegt hatte - als eine vorrangig liberale Partei versteht, dann konkurriert sie mit der FDP um dieselben Wählerschichten, verliert zugleich Wähler aus der Arbeitnehmerschaft und hat dann zusammen mit der FDP keine Regierungsmehrheit. Also muß die CDU sich zur Mitte, auch einmal zur linken Mitte hin orientieren und das liberale Feld bewußt der FDP überlassen. Gemeinsam kann man dann eine Mehrheit erreichen.

Das war stringent gedacht und führte zum Wahlsieg vom 27. September 2009. Es trug freilich auch dazu bei, daß in dieser siegreichen Koalition bisher nur wenig rund gelaufen ist. Mit der CDU von 2003 hätte die FDP eine größere gemeinsame programmatische Basis gehabt als mit der von 2009.

Es wird immer deutlicher, daß Sigmar Gabriel im Begriff ist, diese Strategie zu kopieren.

So, wie die Union nicht ohne die FDP regieren kann, hat Rotgrün nur in einer Koalition mit den Kommunisten die Aussicht auf eine Rückkehr an die Macht.

Rückt die SPD weiter nach links, wie das Andrea Nahles will, dann wäre das zwar gut für das Klima in einer solchen Volksfront-Koalition.

Nur käme sie gar nicht erst zustande, diese Koalition. Und zwar aus - spiegelbildlich - genau dem Grund, aus dem eine liberale CDU zusammen mit einem liberalen Koalitionspartner 2005 keine Mehrheit schaffte. Eine schwarzgelbe Koalition ist nur mehrheitsfähig, wenn die CDU nicht zu liberal ist. Ebenso kann eine Volksfront-Koalition nur eine Mehrheit erreichen, wenn SPD und Grüne nicht zu weit links sind.

Gegeben diese Strategie von Gabriel, hat er ein schwieriges taktisches Problem zu lösen: Er muß die SPD einerseits, indem er sie zur Mitte hin bewegt, deutlich von den Kommunisten absetzen, andererseits aber diese salonfähig für eine Koalition machen.

Dazu hat er sich die Einteilung in zwei Arten von Kommunisten ausgedacht, die "Chaoten" auf der einen und die "Pragmatiker" auf der anderen Seite; siehe Sigmar Gabriel und die kommunistischen "Demokraten, Pragmatiker, Realisten"; ZR vom 4. 7. 2010. Mit den "Pragmatikern" will er koalieren; aber nur, wenn diese die "Chaoten" und diejenigen ruhigstellen, die allzu laut sagen, daß sie die DDR noch immer für das bessere Deutschland halten.

Die Wahl des Bundespräsidenten war ein wichtiger Schritt auf diesem taktischen Weg Gabriels; denn erstmals haben SPD und Grüne auf Bundesebene mit den Kommunisten über ein Zusammengehen verhandelt.

Da wurde eine Tür geöffnet; oder, in einer vielleicht richtigeren Metapher, ein Bollwerk gegen den Extremismus geschleift, das seit 1949 gestanden hatte; siehe Wahl des Bundespräsidenten: Die Partei "Die Linke" ist gestern salonfähig geworden; ZR vom 1. 7. 2010. Das Tabu, daß sich keine demokratische Partei mit einer extremistischen Partei verbündet, ist gebrochen. Der Weg in die Volksfront ist jetzt frei.



Seit heute Mittag ist in "Welt-Online" ein Artikel zu lesen, in dem sich Günther Lachmann mit diesem Thema befaßt.

Auch er geht davon aus, daß Rotgrün nur zusammen mit den Kommunisten regieren kann ("Ohne die Linke sind SPD und Grüne machtlos" überschreibt er den Artikel). Aber die Wahl des Bundespräsidenten sieht er ganz anders als oben skizziert:
... für Gabriel, Steinmeier, Roth und Künast gibt es keine rot-grüne Machtoption, die von der Linken getragen würde.

Schuld daran ist das taktische Spiel von SPD und Grünen im Zuge der Neuwahl des Bundespräsidenten. (...)

Welche Wirkung dieses taktische Spielchen auf das Verhältnis von SPD und Grünen noch am Tag der Bundespräsidentenwahl zeitigte, das spürten Steinmeier und Gabriel bereits vor dem dritten Wahlgang. Da klopfte die Spitze der Linken bei der SPD an. Es war der letzte Gesprächsversuch mit dem Ziel, an diesem Tag doch noch irgendwie das Gesicht wahren zu können. (...)

Lafontaine und Gysi versuchten eindringlich, ihre schwierige Lage zu erklären. Selbst wenn sie die Fraktion auf Knien bäten, bekämen sie nicht einmal die Hälfte der Stimmen für Gauck, sagte Lafontaine. Doch SPD und Grüne blieben hart. Es sei die Linke, die sich bewegen müsse, entgegnete Gabriel.
Gysi habe darauf mit der Bemerkung reagiert "Wenn ich kann, werde ich mich dafür rächen", schreibt Lachmann.

Gysi hat keinen Grund zur Rache. Natürlich hat seine Partei im dritten Wahlgang nicht besonders gut ausgesehen, als sie ihre Kandidatin zurückzog, aber keinen der beiden verbliebenen Kandidaten wählte. Gysi mag wütend gewesen sein. Langfristig muß und wird er Gabriel dankbar sein. Lachmann:
"Mir geht es um die alte Mitte: bildungsinteressiert, am sozialen Ausgleich orientiert, auch leistungsorientiert", sagt Gabriel. Von diesen Menschen seien Willy Brandt und Helmut Schmidt gewählt worden. Künftig sollen sie Gabriel und Steinmeier wählen.
Dafür nimmt Gabriel in Kauf, daß die einstigen WASG-Wähler nicht zur SPD zurückkehren und daß vielleicht noch weitere Wähler von der linken Seite des SPD-Spektrums zu den Kommunisten abwandern werden. So, wie die CDU mit ihrem Linksschwenk nach der Niederlage von 2005 der FDP die 14,6 Prozent vom 27. September 2009 ermöglicht hat.

Aber so etwas ist zu verschmerzen. Es ist nun einmal der Preis für die Macht; auf der einen wie auf der anderen Seite. Lachmann schließt seinen Artikel so:
Am Tag der Wahl des Bundespräsidenten hatte Gabriel den Linken vorgehalten, sie seien es, die sich bewegen müssten. Unter dem Druck der Grünen und der Notwendigkeit, auch dem Wähler 2013 eine Machtoption der SPD aufzeigen zu müssen, könnte er selbst nun bald in die Verlegenheit geraten, auf die Linke zugehen zu müssen. Spätestens dann dürfte er sich an die Drohungen Gysis erinnern.
Aber er geht ja längst auf die Kommunisten zu, der Sigmar Gabriel. Mit seinem Schwenk zur Mitte macht er links für sie Platz. Mehr "sich bewegen" muß die SPD nicht, um 2013 gute Chancen auf eine Regierung der Volksfront zu haben. Zum Wohl nicht nur Sigmar Gabriels, sondern ebenso Gregor Gysis und seiner Partei.

Und die "Drohungen Gysis"? Lachmann schreibt selbst, daß Gysi die Rache "halb im Scherz" angedroht hatte. Er ist intelligent genug, um die Logik von Gabriels Strategie und seiner Taktik zu erfassen und damit den Vorteil, den sie auch den Kommunisten bieten.

Gysi wird alles tun, um "Die Linke" als eine Partei von "Pragmatikern" und "Realisten" erscheinen zu lassen; koalitionsfähig auch im Bund.

Pragmatisch handeln - das bedeutet ja nicht, daß man zu einer demokratischen Partei geworden ist. In der Partei "Die Linke" ein Pragmatiker zu sein bedeutet, daß man die Beteiligung an einer Volkfront-Regierung im Bund anstrebt.

Daß man sie freilich nicht um ihrer selbst willen anstrebt, sondern als einen weiteren Schritt auf dem Weg zu jenem Ziel, das die Ko-Vorsitzende der Partei Gysis, Gesine Lötzsch, kürzlich so beschrieben hat: Man wolle nach dem "ersten Sozialismusversuch" in der DDR einen "zweiten Sozialismusversuch wagen".



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