28. November 2010

Marginalie: Warum ist der "Spiegel" heute noch nicht als EPaper zu lesen? Über WikiLeaks und seine Helfershelfer

Als Abonnent des "Spiegel" in der Version als EPaper habe ich gestern Abend um 11.49 Uhr die folgende Mail erhalten; Absender DER SPIEGEL epaper:
Liebe Leserin, lieber Leser,

der digitale SPIEGEL erscheint an diesem Wochenende aus redaktionellen Gründen ausnahmsweise erst am Sonntag um 22:30 Uhr. Dann können Sie ihn wie gewohnt lesen:

- Im Web unter www.spiegel.de/spiegel
- Mobil unter m.spiegel.de/spiegel
und der SPIEGEL-App auf dem iPhone und iPad.

Ihr SPIEGEL Team
Ich geben Ihnen Kenntnis von dieser Mail und halte mich für berechtigt, das zu tun, weil sie mir nicht vertraulich zugeschickt wurde.

Hätte ich Sie auch öffentlich gemacht, wenn der Absender um strenge Vertraulichkeit gebeten hätte? Nein.

Das gehört sich nicht. Das gehört sich nicht für einen professionellen Journalisten, und es gehört sich auch nicht für jemanden, der einen Blog schreibt.

Ich hätte mich dann allerdings anders verhalten als das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel".

Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" nämlich bedient sich bedenkenlos - um kein stärkeres Wort zu verwenden - des Materials aus Dokumenten, die (so sueddeutsche.de) "gestohlen" wurden; aus Dokumenten, die eindeutig nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind.

Diejenigen, die stehlen, sind eine Gruppe von Menschen, die es sich augenscheinlich zum Ziel gesetzt haben, die Regierungsarbeit der USA, die Aktivitäten ihres Militärs nach Kräften zu sabotieren, indem sie deren Geheimnisse verraten.

Diese Gruppe heißt, Sie wissen es, WikiLeaks. Sie hat in den vergangenen Monaten zweimal überwiegend vertrauliche oder geheime, überwiegend militärische Dokumente der USA veröffentlicht. Ich habe das beide Male kommentiert:
  • Die Verbrecher von Wikileaks. Ja, die Verbrecher; ZR vom 11. 8. 2010. Damals veröffentlichte WikeLeaks Dokumente zum Afghanistan-Krieg, zum Teil mit den Klarnamen von Afghanen, die mit dem US-Militär zusammenarbeiteten. Die Taliban haben danach verkündet, daß sie diese Personen "bestrafen" würden. Inzwischen haben sie eine Kommission eingesetzt mit der Aufgabe, die Betreffenden vor "Taliban-Gerichte" zu bringen.

  • Hinter den Kulissen von WikiLeaks. Assanges Deppen; ZR vom 26. 10. 2010. Dieser Artikel war meine Reaktion darauf, daß der "Spiegel" tags zuvor ("Spiegel" 43/2010 vom 25. 10. 2010) wiederum eine Titelgeschichte gebracht hatte, in der Material von WikiLeaks verwendet worden war; diesmal zum Irak. In dem Artikel ging es mir aber vor allem darum, auf die sehr eigenartige Person Julian Assange aufmerksam zu machen; auf einen Mann, der nach Aussagen von Mitarbeitern ein autokratisches Regime führt und der wegen des Vorwurfs sexueller Vergehen mit Haftbefehl gesucht wird.
  • Es spricht viel dafür - jedenfalls kursieren seit gestern einschlägige Gerüchte -, daß der "Spiegel" morgen zum dritten Mal mit einer Titelgeschichte herauskommen wird, die auf Diebesgut von WikiLeaks basiert.



    Daß WikiLeaks diesmal Materialien, die aus dem diplomatischen Dienst der USA stammen, gestohlen hat, wird seit Tagen kolportiert. Der britische Guardian hat darüber am Freitag ausführlich berichtet. Offenbar sind rege diplomatische Aktivitäten zur Schadensbegrenzung im Gang.

    Der Schaden für die USA dürfte immens sein. Denn in kaum einem Lebensbereich ist Vertraulichkeit so essentiell wie in der Diplomatie. Wenn künftig jede ausländische Regierung damit rechnen muß, daß das, was sie amerikanischen Diplomaten vertraulich mitteilt, bei der US-Regierung nicht sicher ist, dann wird man eben solche Mitteilungen unterlassen oder auf das Notwendigste beschränken.

    Und warum nun die Geheimnistuerei des "Spiegel"? Warum darf das EPaper der aktuellen Ausgabe nicht, wie üblich, ab Samstag Abend gelesen werden?

    WikiLeaks könnte vergleichsweise wenig Schaden anrichten, wenn es nicht seine Helfershelfer in der Presse hätte. Die meisten Nutzer des Internet werden sich ja nicht durch Hunderttausende von Dokumenten wühlen, die irgendwo im Netz stehen. Erst dadurch, daß Journalisten sich darüber hermachen und daraus Stories zimmern, erfüllen diese gestohlenen Informationen ihren Zweck, den USA zu schaden.

    Bei den beiden bisherigen derartigen Aktionen von WikiLeaks war der "Spiegel" der willige Helfer für Deutschland. Das wird offenbar auch diesmal wieder der Fall sein. Aber man ist ja nicht allein.

    Der Blog netzpolitik.org berichtete gestern Abend, daß am Samstag kurz "ein Artikel bei Spiegel-Online zu sehe[n]" gewesen sei, der "'Fragen und Antworten' lieferte, was der für Morgen Abend um 23:00 Uhr angekündigte Wikileaks-Release der 'US-Diplomatendepeschen wirklich aussagen' soll. Vermutlich handelte es sich um einen CMS-Bedienungsfehler, denn der Artikel verschwand schnell wieder von der SpOn-Webseite".

    Aber wie das so geht: Die Leakerei hatte ein Leak. Ein Leser hat den Artikel kopiert, bevor er wieder gelöscht wurde. Sie können hier nachlesen, was die Enthüller vom "Spiegel" bis heute Abend geheimhalten wollten.

    Warum diese Sperre? Neben dem "Spiegel" werden ausländische Zeitungen wie der Guardian, die New York Times und El País das Material verwerten. Möglicherweise hat man sich auf eine Sperre geeinigt, damit niemand einen Vorteil vor den anderen hat, was das Zitiertwerden angeht. Man möchte ja mit dem Diebesgut schließlich Geld verdienen; und das wollen sich die Konsorten redlich teilen.



    Ich habe es schon in den beiden vorausgehenden Artikeln zu WikiLeaks geschrieben: Aus meiner Sicht ist das eine skrupellose Organisation, deren einziges Ziel es ist, den USA zu schaden; dem Land, gegen das Julian Assange augenscheinlich Haß empfindet (eine "Bedrohung für die Demokratie" nennt er es; siehe meinen Artikel vom Oktober).

    Aber diesmal sind ja nicht nur die USA betroffen, sondern auch die anderen Länder, deren Diplomaten jetzt bloßgestellt werden sollen. WikiLeaks ist zu einem internationalen Problem geworden; einem Problem wie, sagen wir, die Piraterie vor Somalia.

    Es ist an der Zeit, daß die Regierungen sich auch hier zusammensetzen und beraten, mit welchen Mitteln man diesen Leuten das Handwerk legen kann.



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