7. Februar 2011

Aufruhr in Arabien (9): Ein Bericht über die Revolution in der tunesischen Provinz. Mehr als 50 Tote in einer einzigen Stadt. Die Rolle des Islamismus

Bilder von einer Revolution, die wir im TV sehen, und viele der Berichte, die wir lesen und hören, haben eine eigentümliche Distanz zum Geschehen: Da wird, wie jetzt in Kairo, tagelang aus Hotelzimmern heraus oder mittels irgendwo fest aufgestellter Kameras das Geschehen fotografiert. Reporter gelangen selten über die jeweilige Hauptstadt hinaus; in dieser oft nicht über den einen oder anderen Brennpunkt des Geschehens.

Im Nouvel Observateur hat jetzt Sara Daniel, eine auf Reportagen aus Krisengebieten spezialisierte Journalistin, einen Bericht darüber publiziert, wie sich die Revolution in einer tunesischen Provinzstadt zugetragen hat; wie sie sich jetzt dort weiter auswirkt.

Ich fasse ihre Reportage zusammen und ergänze damit die Augenzeugenberichte von Alma Allende, auf die ich in zwei früheren Folgen der Serie aufmerksam gemacht habe (Die (vorerst) gescheiterte (Fast-) Commune in der Kasbah von Tunis; ZR vom 30. 1. 2011, und Wie ist eigentlich die Lage in Tunesien? Erstaunlich!; ZR vom 5. 1. 2011).

Sara Daniel hat sich in der Provinzstadt Kasserine umgesehen; ungefähr in der Mitte Tunesiens gegen die algerische Grenze hin gelegen.

Kasserine war einer der Orte gewesen, von denen die Revolution ausging. Mehr als 50 Menschen waren in den Revolutionstagen ums Leben gekommen. Zahlreiche Einwohner waren an der gescheiterten Besetzung der Kasbah von Tunis beteiligt gewesen und nun, als Sara Daniel die Stadt besuchte, gerade nach Hause zurückgekehrt.

Sie sind in eine Stadt zurückgekehrt, in der, wie die Autorin schreibt, "Abrechnungen und Säuberungen herrschen". Wer gestern noch zu den Herrschenden gehörte, ist heute verfemt. Jeder überlegt sich, mit wem er sich noch zeigen, wem man noch die Hand geben darf.

Es gibt diejenigen, die in letzter Minute ihr Herz für die Revolution entdeckt haben und die nun umso lauter auf das alte Regime schimpfen. Es gibt die Wendehälse, die sich still und leise an die neuen Verhältnisse anpassen.

Angehörige der jetzt entmachteten Miliz und der Geheimpolizei sind unterwegs, mit einer, sagt Sara Daniel, "Politik der verbrannten Erde". Sie hausen in Schulen, plündern Lagerhallen. Sie wissen, daß ihnen in dieser heruntergekommenen Stadt niemand verzeihen wird.

Es gibt Listen mit Schergen des alten Regimes, die "von der Bevölkerung gesucht" werden. Dazu gehören der ehemalige Bürgermeister, der Gouverneur, die Chefs der Geheimpolizei; aber vor allem die sogenannten Omdas: Bürokraten, die nur gegen Bakschisch ein Krankenhausbett oder einen Arbeitsplatz vergaben. Es gab Personen, die sich das Monopol auf den lokalen Schmuggel an der Grenze zu Algerien erkauft hatten. Einer liegt - so Sara Daniel - jetzt im Krankenhaus; er war während der Revolution zusammengeschlagen worden.

Jeder hätte, schreibt die Autorin, seine Geschichte aus diesem kafkaesken System der Überwachung, der mafiösen Ausbeutung zu erzählen; einem Krebsgeschwür, das bis ins kleinste Dorf reichte.

Der Besitzer eines Hammam beispielsweise, der seinen Betrieb schließen mußte, weil er eine geforderte "Spende" nicht hatte aufbringen können. Der Verwaltungschef eines Krankenhauses, der eine Entscheidung des Präsidenten Ben Ali kritisiert hatte und daraufhin seines Postens enthoben worden war; ein Arbeitskollege hatte ihn denunziert, der dann sein Nachfolger wurde. Oder der Lehrer Abdelkader, der zu oft in die Moschee gegangen war und daraufhin als Islamist denunziert wurde. Er mußte sich täglich auf zwei Polizeistationen melden; zwischen ihnen liegt eine Entfernung von 160 km.

In dem Armenviertel Zoor besuchte Sara Daniel die 17jährige Afaf Idoudi. Sie hatte während der Revolution an der Beerdigung einer Nachbarin teilgenommen, die von einem Scharfschützen der Polizei durch einen Kopfschuß getötet worden war. Die Trauergemeinde wurde wiederum beschossen, und Afaf Idoudi erhielt einen Schuß ins Bein.

Sie erzählt, wie sie - Serviererin mit 70 Euro Monatseinkommen - ebenfalls an die staatliche Mafia hatte zahlen müssen. Wenn sie das Geld nicht hätte, dann sollte sie es sich eben leihen, sagte man ihr. Ihr Bruder berichtete, daß ihm die Saisonarbeit im Hotel Yasmin Beach in Hammamet gekündigt worden war, weil er zu oft in die Moschee gegangen sei. Die Religion sei für viele eine Nische gewesen, in die sie sich vor dem Regime flüchteten, meint Sara Daniel.

In der Wichtigkeit direkt nach der Demokratie rangierend, sei die Religionsfreiheit dasjenige, was diese Jugend besonders von der Revolution erwarte. Allgemein werde berichtet, wie jeder im Land Repressionen ausgesetzt gewesen sei, der regelmäßig die Moschee besuchte oder auch nur einen Bart getragen hatte; ebenso Frauen, die verschleiert gingen.

Neben Einwohnern der Stadt Kasserine hat Sara Daniel auch den neuen Minister für Regionalentwicklung interviewt, Ahmed Néjib Chebbi, der als Kandidat für die Präsidentschaft Tunesiens gilt. Er meinte, daß die Zukunft seines Landes durch diese Jugend in der Provinz entschieden werde, die sich in den Islam geflüchtet hätte. Entweder werde man deren Bedürfnisse befriedigen können, oder es werde eine Explosion geben; und Gott wisse, wer dann ans Ruder komme.



Ich habe mich bei dieser Zusammenfassung eng an die Reportage gehalten. Ob alle Angaben stimmen, ist naturgemäß nicht nachprüfbar; aber Sara Daniel ist Journalistin eines seriösen Nachrichtenmagazins mit einem ausgezeichneten Ruf als Reporterin aus Krisengebieten.

Mich haben an dem Bericht drei Dinge beeindruckt:

Zum einen, daß es offenbar bei dieser Revolution nicht nur einen Machtwechsel in Tunis gegeben hat, sondern ein radikales Zerbrechen der alten Strukturen auch in der Provinz; unter erheblichen Kämpfen. Es war eine wirkliche, flächendeckende Revolution und nicht nur ein Putsch in der Hauptstadt.

Und es war keine friedliche Revolution wie 1989 in der DDR, sondern eine blutige; mindestens so blutig wie 1989 in Rumänien. Tunesien hat - so sieht es jedenfalls im Augenblick aus - nach mehr als zwanzig Jahren das nachgeholt, was Osteuropa damals gelungen ist: sich vom Sozialismus befreit (siehe Bricht jetzt der arabische Sozialismus so zusammen wie nach 1989 der osteuropäische?; ZR vom 6. 2. 2011).

Zweitens wirft der Bericht ein Schlaglicht auf einen Aspekt der Islam-Frömmigkeit vermutlich nicht nur in Tunesien: In einem sozialistischen System, das alle Bereiche des Lebens zu kontrollieren trachtet, ist die Religion ein Refugium, eine Gegenmacht. So war es auch im kommunistischen Polen vor 1990 gewesen; bis zu einem gewissen Grad ebenfalls in der DDR.

Drittens macht auch dieser Bericht wieder deutlich, daß die westlich orientierten Modernisierer, die jetzt in Tunis an der Macht sind, nur einen Teil des Bildes dieses revolutionären Tunesien repräsentieren.

Wie stark die Islamisten in der Provinz sind, weiß niemand. Wenn es stimmt, daß der Islam als die einzige Gegenmacht zum sozialistischen Regime in Tunis wahrgenommen wurde, dann könnten sie vielleicht sehr stark sein.

Wie möglicherweise in Ägypten könnten freie Wahlen sie an die Macht bringen; dann wäre die jetzige Freiheit wahrscheinlich nur eine Episode gewesen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.