26. März 2011

Aufruhr in Arabien (17): Israels Dilemma. Dreißig Jahre nach dem Friedensvertrag mit Ägypten ist das Land wieder bedroht

Seit genau 32 Jahren - nämlich seit dem Friedensvertrag mit Ägypten vom 26. März 1979 - lebt Israel in einer Situation relativen Friedens. Relativ heißt, daß es keine unmittelbare Gefahr eines großen Kriegs gab und bisher gibt. Es heißt nicht, daß Israel nicht ständig terroristischen Angriffen ausgesetzt wäre; mit Raketen und Mörsern, mit Bomben und Selbstmordattentaten. Die jüngste solche Attacke ist erst drei Tage her (siehe Anschlag in Jerusalem. Silvan Shalom spricht von einer möglichen neuen Operation "Gegossenes Blei"; ZR vom 23. 3. 2011).

Das ist wenig genug. Kein Land der Welt, das in Frieden mit seinen Nachbarn leben möchte, unterliegt in dieser Weise ständigen Attacken. Aber es könnte immer noch eine vergleichsweise gute Situation gewesen sein im Vergleich zu dem, worauf sich Israel im Gefolge des Aufruhrs in Arabien einstellen muß.

Wenn Sie sich die bisherigen Folgen dieser Serie anschauen (Links zu allen Folgen finden Sie hier), dann werden Sie sehen, daß sie ein Grundgedanke durchzieht: Die naive Vorstellung, daß überall in Arabien "Demokraten" oder gar "das Volk" gegen "Tyrannen" aufstehen würden, ist schlicht falsch. Das ist politische Folkore.

Der Funke springt über, das ist wahr. Aber er fällt mal in einen Heuhaufen, mal in ein Treibstofflager; vielleicht auch einmal in ein Munitionsdepot. Oder auch dorthin, wo er nicht zündet (siehe Die aktuelle Lage in den arabischen Ländern und im Iran. Teil 2: Jordanien und Bahrain; ZR vom 20. 2. 2011). Es gibt kein gemeinsames Muster, das die Vorgänge von Tunis bis Bahrain durchzieht. Es gibt nur die Gemeinsamkeit, daß es gärt.

Keineswegs ist ausgemacht, daß am Ende dieses Prozesses der Gärung ein besseres Arabien, ein friedlicherer Naher Osten stehen wird. Möglicherweise gelingt Tunesien der Übergang zu einem demokratischen Rechtsstaat. Es war lange ein französisches Protektorat und hat dadurch die Voraussetzungen dafür. Überall sonst kann es vielleicht besser werden, aber mit keiner geringeren Wahrscheinlichkeit auch schlimmer.

Libyen kann - die Interventionsstaaten unter dem Anführer Sarkozy tun im Augenblick alles dafür - im Chaos versinken (siehe "Der Vergleich mit dem Irak liegt auf der Hand"; ZR vom 22. 3. 2011). Am Golf kann als Ergebnis des Aufruhrs der Iran die Dominanz erringen. In Ägypten droht, falls das Militär sich nicht halten kann, die Herrschaft der Moslem-Brüder.

Alles andere als gute Aussichten. Schlechte Aussichten vor allem für Israel.



Die Zahl der Raketenangriffe auf Israel aus dem Gaza-Streifen heraus hat in den vergangenen Tagen zugenommen; zugleich gab es den Anschlag an der Bushaltestelle in Jerusalem. Wer hinter diesem Terrorakt steckt, ist unklar, aber die Raketen-Attacken gehen, wie George Friedman in diesem Gespräch erläutert, eindeutig auf die Hamas zurück.

Deren Kalkül ist ebenso simpel wie einleuchtend: Bisher ist Ägypten an den Friedensvertrag von 1979 gebunden. Aber das muß unter einer neuen Regierung nicht so bleiben. Das vorrangige Ziel der Hamas ist es, Ägypten wieder in einen Kriegszustand mit Israel zu zwingen.

Wie? Durch Attacken, die Israel vor ein Dilemma stellen.

Keine israelische Regierung kann es auf Dauer zulassen, daß dessen Bürger schutzlos den Angriffen von Terroristen ausgeliefert sind (nebenbei: Keine Regierung der Welt könnte das). Folglich wird Israel, wenn die Hamas mit den Raketenangriffen weitermacht, irgendwann zurückschlagen müssen; eine erneute Operation "Gegossenes Blei" also.

Genau das will die Hamas. Es würde in der jetzigen aufgeheizten Situation in Arabien die Massen mobilisieren.

Es würde, wenn die Hamas Glück hat, die jetzigen Machthaber Ägyptens zwingen, den Frieden mit Israel aufzukündigen. Oder es würde, alternativ, die Moslembrüder in Ägypten an die Macht bringen, die eng mit der Hamas verbunden sind (siehe Die "Einigkeit" der Demonstranten und das Machtspiel in Ägypten. Welche Rolle spielt der bewaffnete Arm der Hamas?; ZR vom 1. 2. 2011). Stratfor schrieb dazu gestern:
This time, a military confrontation in Gaza would have the potential to jeopardize Israel's vital alliance with Egypt. Hamas, the Palestinian Islamic Jihad (PIJ) and others are watching Egypt's military manage a shaky political transition next door. (...)

An Israeli military campaign in Gaza under the current conditions would be fodder for the Muslim Brotherhood to rally the Egyptian electorate (both its supporters and people who may otherwise vote for a secular party) and potentially undermine the credibility of the military-led regime. With enough pressure, the Islamists in Egypt and Gaza could shift Cairo’s strategic posture toward Israel.

Dieses Mal hätte eine militärische Konfrontation in Gaza das Potential, die für Israel lebenswichtige Allianz mit Ägypten zu torpedieren. Hamas, der Palästinensische Islamische Dschihad (PIJ) und andere sehen, wie nebenan das ägyptische Militär einen wackligen politischen Übergang verwaltet. (...)

Ein israelischer Feldzug in Gaza wäre unter den jetzigen Bedingungen Futter für die Moslem-Bruderschaft, welche die ägyptischen Wähler (sowohl ihre eigene Anhängerschaft als auch Menschen, die sonst für eine säkulare Partei stimmen würden) hinter sich bringen könnte; er würde möglicherweise die Glaubwürdigkeit des vom Militär geführten Regimes untergraben. Bei hinreichendem Druck könnten die Islamisten in Ägypten und Gaza die strategische Position Ägyptens gegenüber Israel verschieben.
Auch die Unruhen in Syrien sind eine potentielle Bedrohung für Israel. Die Moslem-Bruderschaften sind dort zwar geschwächt, nachdem ihr Aufstand im Jahr 1982 vom Assad-Regime blutig niedergeschlagen worden war (die Zahl der damaligen Todesopfer wird auf zwischen 17.000 und 40.000 geschätzt). Aber sollte Assad fallen, dann wären die Moslembrüder dennoch eine maßgebliche politische Kraft in Syrien; sehr wahrscheinlich die stärkste.

Hinzu kommt die Situation an Israels Nordfront. Von Gaza aus schießt jetzt die Hamas wieder. Im Libanon ist die vom Iran kontrollierte Hisbollah inzwischen an der Macht beteiligt. Der Iran kann jederzeit den Befehl geben, auch vom Libanon aus wieder Angriffe gegen Israel zu führen. Die Hisbollah wird Teheran gehorchen, während die nach Ägypten hin orientierte Hamas von den Herrschenden in Teheran bisher nur Geld und Waffen bezieht.

Israel befindet sich also in der schwierigsten Situation seit dem Jom-Kippur-Krieg von 1973. Im gesamten Nahen Osten ist eine explosive Situation entstanden.

Unsere Medien aber starren auf Libyen; weil sie immer dorthin starren, wo gerade das lauteste Bumbum zu hören ist.

Libyen ist aber nur ein Nebenkriegsschauplatz. Der wirkliche Konflikt, der weitreichend geopolitische Folgen haben kann, spielt sich in der Region ab, in deren Westen Äypten, in deren Norden die Türkei, in deren Osten der Iran und in deren Süden Saudi-Arabien liegt. Und in der, stärker bedroht als seit einer Generation, sich Israel befindet.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.