27. Mai 2011

Die Gurkenpanik

Der folgende Beitrag ist ein Versuch, die aktuell relativ hohen Fallzahlen von Bakterieninfektionen einer Serogruppe des E. coli. in den Kontext aller bisher bekannten Erfahrungen einzuordnen. Ist die Panik gerechtfertigt, oder ist es einer von häufigen Ausbrüchen, die von alleine wieder abebben? Ich meine: letzteres. Ich bitte aber zu beachten, daß dies eine rein journalistische Arbeit ist. Ich habe von diesem Erreger bis vor 2 Tagen auch noch nichts gehört.

Die Gruppe der enterohämorrhagische Escherichia coli (EHEC) umfasst nach deutscher Definition im IfSG alle Shigatoxin- bzw. Verotoxin-produzierende E. coli (STEC bzw. VTEC), die in der Lage sind, Erkrankungen beim Menschen hervorzurufen, also humanpathogen sind. International ist die Abkürzung STEC bzw. SLTEC (shiga-like toxin E. Coli) üblich. In ca. 10% der bekannten Infektionen kommt es zu schweren Krankheitsbildern, u.a. dem Hämolytisch-urämischen-Syndrom (HUS), das zu Nierenversagen und in jedem 100. Fall auch zum Tod führen kann. Die meisten kommen allerdings mit Bauchkrämpfen und Durchfall über die Infektion hinweg.

Der Keim kommt vor allem im Darm von Wiederkäuern wie Rindern, Schafen oder Ziegen vor und wird vor allem durch den Verzehr von verunreinigten rohen Lebensmitteln, etwa Hackfleisch, Milch, Säften und Gemüse, vom Menschen aufgenommen. Auch das Verschlucken von verunreinigtem Bade- oder Trinkwasser und der direkte Kontakt mit keimtragenden Tieren, wie etwa jeweils beim Ausbruch 2009 in Hamburg geschehen, sind weitere Infektionsquellen. Die Inkubationszeit beträgt einige Tage, und der Erreger wird von den Infizierten ungefähr eine Woche über den Stuhl ausgeschieden, was wiederum eine Ansteckungsgefahr für z.B. Familienmitglieder darstellt (so hat sich ein Kind 2009 in Hamburg infiziert). Der Altersmedian der Infizierten betrug in einer Studie des Robert Koch Instituts (RKI) 2004 2,5 Jahre, es sind also vor allem Kleinkinder betroffen.

Eine Abfrage der Datenbank des RKI (Abfragedatum: 26. Mai) zeigt, daß sich jedes Jahr um die 1000 Menschen in Deutschland mit einem STEC infizieren. In Österreich sind es um die 100, also relativ zur Bevölkerungsgröße eine gleich hohe Quote.


Wie schon in der Einleitung beschrieben, sind STEC Varianten von E. coli. Dieses Bakterium bildet wie viele Bakterien und Viren Serotypen aus, die in Gruppen zusammengefaßt werden, die gemeinsame Antigene haben. Das sind Stoffe an der Oberfläche des Bakteriums, an die sich Antikörper und bestimmte Lymphozyten-Rezeptoren spezifisch binden können, somit eine Art Fingerabdruck für das menschliche Immunsystem.


Der weltweit am häufigsten auftretende Serotyp von E. coli ist O157:H7 (im folgenden werden nur die O-(Körper-) und nicht die H-(Geißel-) Antigene angegeben). O26, O91, O103 und O145 sind ebenfalls häufig anzutreffen. Insgesamt gibt es mehrere hundert Referenzstämme.

Die Mikrobiologen des Hamburger Hygiene-Instituts haben nunmehr den Serotyp des aktuellen Ausbruchs isoliert: O104. Das erstmalige Auftreten von O104 wurde in der Hauptstadt des US-Bundestaats Maine, Helena, 1994 registriert. Insgesamt konnten 11 Fälle sicher nachgewiesen werden, wobei sich der Zeitraum von Ende Februar bis Mai 1994 erstreckt, danach wurde kein Fall mehr registriert. Wie auch jetzt in Deutschland betraf es für STEC unüblicherweise Erwachsene (Altersmedian 36 Jahre) und zu 2/3 Frauen. Als Keimquelle wurde Milch vermutet, der Verursacher konnte allerdings nie gefunden werden.


Der Verlauf in Helena könnte ein Indiz dafür sein, wie sich die Fallzahlen in Europa entwickeln werden. In Hamburg wurden bis zum 26. Mai etwa 300 Fälle gemeldet, wobei 66 Patienten stationär behandelt werden. Der Anstieg geht allerdings bereits zurück; und es ist spätestens mit dem Verzehr bzw. der Vernichtung der letzte Gurke aus der kontaminierten Lieferung der Bakteriennachschub unterbrochen.


Daß die Quote der schweren Verlaufsformen höher als bei häufiger auftretenden Serotypen ist, kann genau an der gleichen Ursache liegen, weshalb H1H1 als eigentlich gewöhnlicher Grippestamm mehr Todesfälle verursacht hat als die meisten anderen Grippeviren-Subtypen: weil er eben seltener auftritt. Das menschliche Immunsystem produziert auch nach dem erstmaligen Kontakt mit fremden Antigenen von Bakterien "Gedächtniszellen", die in der Lage sind, beim nächsten Kontakt mit dem Serotyp dieser Bakterien die Bildung von Antikörpern auszulösen. Man ist dann zwar nicht immun, aber der Körper reagiert schneller auf eine erneute Infektion, und die Erkrankung nimmt einen weniger schweren Verlauf, weil sich das Bakterium nicht lange ungehindert ausbreiten kann.


Das erklärt auch, warum ebenso wie bei H1N1 ausnahmsweise junge Erwachsene zu den Hauptbetroffenen gehören; weil H1N1 jahrzehntelang nicht aufgetreten ist, andere Subtypen hingegen weit häufiger. Es ist ebenso anzunehmen, daß viele Menschen schon früh mit E. coli O157 in Konktakt kommen und gesteigerte Widerstandskraft aufbauen. Da aber in Deutschland bisher fast niemand je mit O104 in Kontakt gekommen ist, kann der Erreger intensiver wüten.


Dadurch wird das Bakterium allerdings nicht virulenter. Eine weitergehende Verbreitung ist daher in Europa genauso wenig zu erwarten wie 1994 in Helena. Daher sind diese Sorgen unbegründet:
"Die EU wird wegen der EHEC-Epidemie in Deutschland bald europaweit die Alarmstufe 1 ausrufen. Das sagte der Vorsitzende des Ausschusses für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit im EU-Parlament, Jo Leinen (SPD), der „Neuen Osnabrücker Zeitung“.

„Die EU-Kommission und wir im Parlament nehmen die besorgniserregende Entwicklung in Deutschland sehr ernst. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der gefährliche Ehec-Erreger auch auf andere EU-Länder überspringt“ erläuterte Leinen.
Randbemerkung: daß der Erreger aus Spanien kommen soll, verwundert die Autorin von foodfreak.de nicht:
Spanien hat im Jahr 2010 8 Millionen Tonnen Obst und Gemüse exportiert. Die meisten Fruchtgemüse (und Melonen und Zitrusfrüchte) enthalten schon per se über 85% Wasser, und für ihren Anbau werden zusätzliche große Wassermengen benötigt. Spanien ist ein Land, das seit Jahrzehnten mit steigender Desertifikation kämpft, und in dem die wasserintensive Landwirtschaft immer noch stark subventioniert wird, obwohl die Regenfälle den Bedarf schon lang nicht mehr decken. Muss es uns da wirklich wundern, dass alle Wasserquellen angezapft werden, auch nicht gut gereinigte Abwässer? Es ist in meinen Augen pervers, aus einem Land, dem das Wasser ausgeht, jedes Jahr fast 7 Millionen Tonnen Trinkwasser in Form von Obst und Gemüse zu importieren. Und die Rechnung bezahlen wir auch mit Erregern wie EHEC.
Es gibt also genügend Ansätze, Dinge im Umgang mit der Lebensmittelproduktion und -Verarbeitung zu verbessern. Daß man wieder einmal an grundlegende Hygienmaßnahmen wie Hände waschen nach dem Toilettengang und gründliche Reinigung von Rohkost erinnert wird, ist sicher gut. Aber für Panik besteht kein Anlaß. Das Bakterium hat gegenüber der fast völlig haltlosen Atompanik zwar einen Punkt auf seiner Seite: im Gegensatz zur opferlosen "Katastrophe" in Fukushima sind an E. coli. O104 tatsächlich Menschen gestorben, und es kann im Gegensatz zu Fukushima, wo es auch in 10 Jahren keinen Todesfall geben wird, in Europa noch zu weiteren so schweren Verlaufsformen der Erkrankung kommen.

Das ist allerdings seit Jahrzehnten der Normalfall, die EHEC/STEC sind gute Bekannte der Gesundheitsbehörden und Hysterie lenkt von weit tödlicheren Bakterien ab, wie Krankenhauskeimen. So schätzt die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene die Anzahl der Todesfälle durch MRSA auf 40.000 jährlich. Aber selbst wenn nur die geringste Schätzung von 1500 pro Jahr zutrifft, dann wäre es noch immer weit sinnvoller, Energie darauf zu verwenden, die Hygiene in Krankenhäusern zu verbessern. Wer allgemein vor dem Verzehr von Gemüse warnt, der müßte erst recht vor dem Gang in ein Krankenhaus in Panik geraten.

Johann Grabner


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