6. Juli 2011

Zitat des Tages: Ein Spitzenabiturient. Über die Anforderungen des französischen Abiturs und die Auslese der Elite in Frankreich

Un élève de terminale S du lycée Ferdinand Buisson d'Elbeuf, près de Rouen, classé en ZEP, a obtenu une moyenne de 20 sur 20 à la session 2011 du baccalauréat, a-t-on appris mardi 5 juillet auprès de la direction de son établissement. (...)

Selon Frédéric Delamare, principal adjoint du lycée Ferdinand Buisson, Anthony [Rougier] est un élève "discret" et "complet" qui avait déjà obtenu, en 2010, 20 à l'oral et à l'écrit de français. Cet élève dont la famille habite Bosc-Roger-en-Roumois dans l'Eure s'est inscrit, pour la rentrée 2011, en classes préparatoires scientifiques au lycée Henri IV à Paris.


(Ein Schüler der Abschlußklasse des Ferdinand-Buisson-Gymnasiums in Elbeuf in der Nähe von Rouen, das als ZEP klassifiziert ist, hat beim Abiturtermin des Jahres 2011 20 von 20 möglichen Punkten erreicht. Dies wurde am Dienstag, dem 5. Juli von der Schulleitung mitgeteilt. ( ...)

Laut Frédéric Delamare, dem Stellvertretenden Direktor des Ferdinand-Buisson-Gymnasiums, ist Anthony [Rougier] ein "stiller" und "umfassend begabter" Schüler, der schon 2010 in der mündlichen und schriftlichen Französisch-Prüfung 20 Punkte erreicht hatte. Der Schüler, dessen Familie in Bosc-Roger-en-Roumois im Département Eure wohnt, hat sich für den Beginn des Schuljahrs 2011 am Gymnasium Henri IV in Paris für den naturwissenschaftlichen Vorbereitungskurs angemeldet.)

Aus einer französischen Pressemeldung vom gestrigen 5. Juni.


Kommentar: Das Bemerkenswerte an dieser Meldung ist nicht ihr Inhalt, sondern ihr Erscheinungsort. Ich habe sie nämlich nicht in einem Lokalblättchen von Bosc-Roger-en-Roumois, von Elbeuf oder Rouen gefunden. Sondern es handelt sich um eine Meldung der nationalen französischen Nachrichtenagentur AFP, die man derzeit, redaktionell bearbeitet, auf der WebSite des Nouvel Observateur lesen kann, mit einem zugehörigen Teaser auf dessen Startseite.

Dort, auf der Startseite, ist das einer von nicht weniger als sieben Artikeln, die sich mit dem diesjährigen baccalauréat beschäftigen, dem Abitur; meist als bac abgekürzt oder auch bachot genannt.

Wenn in Deutschland Abiturprüfungen stattfinden, dann werden Sie selten in der überregionalen Presse etwas über das Ereignis lesen (es sei denn, es kommt zu einer Panne wie kürzlich in NRW); geschweige denn, daß man sich dort mit den Themen der schriftlichen Arbeiten oder dem Abschneiden der einzelnen Kandidaten befaßt. In Frankreich aber ist das bac ein nationales Thema; Jahr für Jahr im Frühsommer.



Frankreich ist darin so anders als Deutschland, daß ich über dieses französische Abitur mehrfach berichtet habe:
  • Über den Ablauf dieser Prüfung, ihre Bedeutung für die Gesellschaft und ihre Resonanz in der französischen Öffentlichkeit; nebst Anmerkungen zum französischen Verständnis von Datenschutz, das sehr verschieden von dem in Deutschland ist (Gedanken zu Frankreich (16): Concours, Abitur, Datenschutz; ZR vom 3. 7. 2007.

  • Über die Themen, die (das bac ist ja ein Zentralabitur, identisch in ganz Frankreich) den Schülern im Fach Philosophie gestellt wurden; dies als Illustration der Ansprüche, die französische Abiturienten erfüllen müssen (Gedanken zu Frankreich (24): Sartre, Schopenhauer, Kant. Was französische Abiturienten wissen müssen; ZR vom 25. 6. 2008; sowie Gedanken zu Frankreich (31): "Ist es absurd, das Unmögliche zu erstreben?" In Frankreich tobt das Abitur. Und Politiker denken mit; ZR vom 19. 6. 2009.
  • In beiden Artikeln habe ich die Themen für die Abituraufsätze des betreffenden Jahrs im Detail aufgelistet. Das hat damals zu interessanten Diskussionen in Zettels kleinem Zimmer geführt, zu denen Sie gelangen, wenn Sie wie gewohnt auf den Link am Ende des jeweiligen Artikels klicken. - Alle drei Artikel gehören zu der Serie "Gedanken zu Frankreich", deren mittlerweile 38 Folgen Sie hier verlinkt finden.



    Noch einige Erläuterungen zu dem Zitat:
  • ZEP ist die Abkürzung für Zone d'éducation prioritaire, Schulzone mit Vorrang. Es handelt sich dabei um Schulen, die - über das ganze Land verteilt - finanziell besonders gefördert werden; zum Beispiel ist dort das Lehrer-Schüler-Verhältnis günstiger als im Schnitt aller Schulen. ZEPs wurden meist in Problemgegenden eingerichtet, so daß das Abschneiden von Anthony Rougier besonders bemerkenswert ist. Tatsächlich ist er nicht der einzige Abiturient, der 20 Punkte geschafft hat; von den diesjährigen 654.548 Teilnehmern waren es rund ein Dutzend.

  • "20 von 20 möglichen Punkten": Anthony hatte nicht in allen Fächern die Höchstnote erhalten, sondern in Mathematik nur 18 und in Philosophie nur 19 Punkte. Auf den Schnitt von 20 Punkten kam er dadurch, daß er zusätzlich zu den Pflichtfächern freiwillige Wahlfächer belegt hatte, die Extrapunkte einbringen.

    Um zu verstehen, was dieses Abschneiden bedeutet, muß man wissen, daß bereits ein Schnitt von mehr als 12 Punkten ein Prädikatsexamen ist (12,0 bis 13,9 Punkte cum laude; 14,0 bis 15,9 Punkte magna cum laude; mehr als 16,0 Punkte summa cum laude bzw. die französischen Äquivalente; für mehr als 16,0 Punkte wird in einem Teil der Schulbezirke eine Prämie zuerkannt). In diesem Jahr sind übrigens je nach Zweig zwischen einem Drittel und einem Viertel der Kandidaten durchgefallen.

  • "... schon 2010 in der mündlichen und schriftlichen Französisch-Prüfung": Das Abitur findet nicht sofort nach Beendigung der Abschlußklasse (première) statt, sondern erst im Jahr darauf. In der Zeit dazwischen bereiten sich die Kandidaten auf das bac vor, oft mit Hilfe von Tutoren. Die Französisch-Prüfungen finden jedoch teilweise schon kurz nach Abschluß der Schule statt; für das Abitur 2011 waren sie dann also schon im Jahr 2010.

  • "... in Paris für den naturwissenschaftlichen Vorbereitungskurs eingeschrieben". Wer ein ausgezeichnetes Abitur geschafft hat, der darf sich Hoffnung auf einen der begehrten Studienplätze an einer Grande École machen, einer der Elitehochschulen. Auch ein glänzendes Abitur reicht dazu aber noch lange nicht aus, sondern man muß eine Aufnahmeprüfung (concours) bestehen. Zur Vorbereitung auf diese Prüfung dienen die Vorbereitungskurse (classes préparatoires). Das Lycée Henri IV, an dem der Spitzenabiturient Antony Rougier sich vorbereiten will, ist das angesehendste Gymnasium Frankreichs.
  • Ich nenne diese Details, weil sie zeigen, wie verschieden die Anforderungen des französischen Bildungssystems von denen in Deutschland sind.

    In Frankreich ist man nie - auch nicht nach dem Mai 1968 - auf dem Gedanken gekommen, daß eine Elite etwas Schlechtes, nicht Erstrebenswertes sein könnte. In die Grandes Écoles führt ein gnadenloses System der Auslese der Besten; übrigens ganz ohne Ansehen der sozialen Herkunft. Wer eine Grande École durchlaufen hat, dem ist allerdings auch eine glänzende Karriere sicher.
    Zettel



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