1. September 2011

Warum eigentlich keine Kabinettsumbildung? Das Problem Westerwelle, der "Koalitionsvertrag" und unsere verkrustete Demokratie

Wenn eine Regierung in Schwierigkeiten ist, dann gibt es die Möglichkeit der Kabinettsumbildung, eines sogenannten Revirements. Es kann sehr unterschiedlich umfangreich ausfallen. Sein Kennzeichen ist, daß der Regierungschef (in einigen Ländern der Staatschef) Herr des Verfahrens ist. Es werden Ressorts getauscht; erfolglose Minister werden entlassen, Politiker aus dem Nachwuchs werden vom Regierungschef neu ins Kabinett geholt.

Ein Beispiel ist die Kabinettsumbildung in Frankreich vom 13./14. November 2010. Der Premierminister François Fillon demissionierte mit seinem gesamten Kabinett und gab damit Staatspräsident Sarkozy freie Hand. Dieser berief ihn erneut; und in Absprache mit Sarkozy stellte Fillon sein neues Kabinett zusammen (siehe Ende der Regierung Fillon? Nicht unbedingt. Anmerkungen zu Verfassung und Verfassungswirklichkeit der Fünften Republik; ZR vom 14. 11. 2010).

Die erste große Kabinettsumbildung dieser Art fand in der Bundesrepublik im Oktober 1956 statt. Der "Spiegel" berichtete am 24. 10. 1956:
Am Dienstagnachmittag vergangener Woche begab sich Bundeskanzler Konrad Adenauer in Begleitung des Bundespressechefs Felix von Eckardt aus dem Fraktionssaal der CDU/CSU über die verschlungenen Pfade des Bonner Bundeshauses in das Parlaments-Studio des Westdeutschen Rundfunks. In seiner Rocktasche steckte das Manuskript einer Rundfunkansprache, die Felix von Eckardt verfaßt hatte und die am Abend über alle westdeutschen Sender verbreitet werden sollte.

In dieser Rede an die Bundesbürger teilte Konrad Adenauer den Abschluß der ersten Kabinetts-Umbildung in seiner siebenjährigen Kanzlerschaft mit. Prominenteste Opfer dieser Reform sind Verteidigungsminister Theo Blank, der seinen schlichten Abschied erhielt, und Außenminister Heinrich von Brentano, dem der Vizekanzlerposten verwehrt wurde. (...)

Bundespräsident Theodor Heuss hatte auf Vorschlag des Bundeskanzlers Bundesverteidigungsminister Theo Blank (CDU), Bundesjustizminister Fritz Neumayer (FVP) sowie die Sonderminister Waldemar Kraft (CDU) und Hermann Schäfer (FVP) entlassen. Bundesratsminister Hans-Joachim von Merkatz übernahm zusätzlich das Justizministerium; Bundespostminister Balke, der einstweilen seine alten Geschäfte nebenbei noch weiterführen wird, wurde zum Atomminister ernannt, und der bisherige Atomminister Franz-Josef Strauß trat als neuer Verteidigungsminister an die Spitze der deutschen Bundeswehr.
Solche Kabinettsumbildungen gab es danach immer wieder; beispielsweise am 21. April 1989, als Wolfgang Schäuble im Amt des Innenministers Friedrich Zimmermann ablöste und Gerhard Stoltenberg vom Finanz- ins Verteidigungs-ministerium wechselte, wo er Nachfolger von Rupert Scholz wurde.

Neuer Finanzminister wurde Theo Waigel; neuer Chef des Bundeskanzleramts an Stelle des ins Innenministeriums gewechselten Wolfgang Schäuble wurde Rudolf Selters. Wenig erfolgreiche Minister wurden ersetzt; so der Bauminister Oscar Schneider durch Gerda Hasselfeld und im Ressort Entwicklungshilfe Hans Klein durch Jürgen Warnke.

Das alles geschah jeweils an einem einzigen Tag; durch Entscheidung des Bundeskanzlers. Natürlich gehen solchen Entscheidungen Konsultationen voraus. Der Kanzler kann nicht allein nach Erfolg und Erfolglosigkeit der amtierenden Minister entscheiden; er muß auch den Proporz der Parteien, die Machtverhältnisse innerhalb der Parteien usw. berücksichtigen. Aber er ist es, der die Kabinettsumbildung vornimmt, indem er dem Bundespräsidenten die Entlassung bestimmter Minister und die Ernennung anderer vorschlägt.



Ich schreibe das im Präsens. Vielleicht sollte ich es eher in der Vergangenheitsform schreiben. Denn es scheint, daß seit Beginn der rotgrünen Koalition von 1998 solche Revirements nicht mehr möglich sind; jedenfalls hat seither keines stattgefunden.

Die Regel ist es inzwischen, daß ein einmal durch einen "Koalitionsvertrag" etabliertes Kabinett steht und steht und steht. Ihm kommen Minister abhanden, wenn sie gehen müssen. Aber von sich aus wechselt der Kanzler seine Minister nicht mehr aus.

Manchmal sind es viele, die durch Abgang abhanden kommen. Im ersten Kabinett Schröder beispielsweise saßen in vier Jahren gleich drei Bauminister; nämlich Franz Müntefering, Reinhard Klimmt und Kurt Bodewig. Aber die Wechsel kamen nicht auf Initiative des Kanzlers zustande. Müntefering mußte als Bundesgeschäftsführer der SPD einspringen, als Ottmar Schreiner von diesem Amt zurückgetreten war; Klimmt trat wegen Finanzgeschäften zurück.

Ähnlich war es bei allen späteren Wechseln in der Leitung der Ressorts, bis hin zum kürzlichen Rücktritt des Verteidigungsministers zu Guttenberg.

Wir haben es hier mit einer bemerkenswerten, im internationalen Vergleich ganz ungewöhnlichen Verkrustung in Deutschland zu tun. Hat ein Kanzler erst einmal nach Bundestagswahlen sein Kabinett gebildet, dann hängt es ihm wie ein Mühlstein am Hals. Er agiert wie ein Flickschneider, der nur Löcher ausbessern darf; nicht wie der Maßschneider, der bei Bedarf einen neuen Anzug schneidert.

Warum ist das so? Die Antwort liegt auf der Hand: Es liegt an einer Institution, die in der Verfassung überhaupt nicht vorgesehen ist, die aber immer mehr wucherte und die inzwischen für unsere Verfassungswirklichkeit größere Bedeutung hat als die meisten Institutionen und Regelungen der Verfassung: dem "Koalitionsvertrag" samt dem über seine Einhaltung wachenden "Koalitionsausschuß".

Er ist das schlechthinnige Verkrustungsmittel. Schon bevor ein Kanzler überhaupt mit dem Regieren anfängt, bevor der Bundestag seine neue Legislaturperiode beginnt, haben von niemandem außer dem jeweiligen Parteiapparat legitimierte "Verhandlungskommissionen" haarklein alles festgelegt - welche Gesetze beabsichtigt sind, wie die Ressorts verteilt werden.

Und nicht nur die Ressorts, sondern auch noch deren personelle Besetzung. In einer nachgerade grotesken Umkehrung der von der Verfassung vorgesehenen Verhältnisse hat 2009 Michael Glos, der nicht mehr Wirtschaftsminister sein wollte, nicht etwa die Kanzlerin oder den Bundespräsidenten, sondern seinen Parteivorsitzenden Seehofer gebeten, ihn von diesem Amt zu entbinden (siehe Glos reicht seinen Rücktritt ein. Bei wem? Beim Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern und Vorsitzenden der CSU!; ZR vom 7. 2. 2009).

Das war nur konsequent. Koalitionsverträge sehen heutzutage vor, daß die Parteien selbst entscheiden, wenn sie ins Kabinett "entsenden". Der Kanzler ist nur noch der Nickaugust.

Wo kommt das her? Ich habe einmal untersucht, wie diese seltsame Einrichtung "Koalitionsvertrag" in die Welt gekommen ist. Falls es Sie interessiert: "Der Koalitionsvertrag ist nur eine Absichtserklärung". - Ja, was denn sonst?; ZR vom 25. 10. 2009. Es geschah beiläufig, fast unbemerkt, im Jahr 1961. Damals war alles noch harmlos; aber dann begann ein Wuchern, das zu den heutigen verkrusteten Verhältnissen führte.



Die Causa Westerwelle ist verfahren.

Guido Westerwelle ist ein verdienstvoller Politiker; einer, auf den die FDP nicht verzichten sollte. Es hat sich nun aber so ergeben, daß er in ein Amt gelangt ist, das ihm nicht liegt; das er nicht kann (siehe Guido Westerwelle sollte seinen Hut nehmen. Aber nicht wegen Libyen; ZR vom 29, 8. 2011).

Sein Ministeramt aufzugeben würde für ihn, nachdem er schon den Vorsitz der FDP verloren hat, den Absturz bedeuten. Also klammert er sich an dieses Amt, verständlicherweise. So daß ihn nun, wenn man den Berichten glauben will, schon seine eigene Partei aus diesem Amt herausmobben möchte. Majid Sattar gestern in der FAZ über die Parteiführung der FDP:
Dieses doppelte Spiel, einerseits die Debatte über Westerwelle öffentlich für beendet zu erklären und diese andererseits halböffentlich selbst zu befeuern, gehört zu einer Zermürbungsstrategie, mit der man Westerwelle zur Selbstaufgabe zwingen möchte, um sich selbst nicht die Hände schmutzig zu machen.
So ist Politik, aber Guido Westerwelle hat das nicht verdient.

Gäbe es die Möglichkeit eines Revirements, dann könnte er in ein anderes Ressort wechseln; eines, das seinen Fähigkeiten und Interessen entsprechen würde. Dann könnte die Kanzlerin auch manches andere in diesem Kabinett ins Lot bringen. Aber das wird nicht stattfinden in dieser Republik, in der die Parteien immer weiter über die Rolle der "Mitwirkung" an der politischen Willensbildung hinausgewachsen sind, die ihnen das Grundgesetz zugewiesen hat.

Wie weit das bereits geht, zeigt eine andere Facette der Causa Westerwelle. Noch einmal die FAZ:
Zur Gesamtbotschaft hatte sich am Dienstagabend, zu Beginn der Fraktionsklausur in Schloss Bensberg, Philipp Rösler (...) geäußert: "In außenpolitischen Fragen habe ich klar nochmals in der letzten Woche als Parteivorsitzender die Linie der FDP, der Liberalen, vorgegeben. Der Bundesaußenminister ist dieser Linie auch ebenso klar gefolgt."
Nicht mehr der Kanzler bestimmt die Richtlinien der Außenpolitik. Nicht der Minister leitet sein Ministerium in eigener Verantwortung. Sondern die Linie gibt der Chef einer Partei vor, aus deren Reihen der Außenminister zufällig kommt.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Faksimile der Verkündigungsformel des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949. Gemäß § 5 Abs.1 UrhG in der Public Domain.