30. Dezember 2011

Einmal grundsätzlich gefragt: Wie steht es eigentlich um Deutschland?


Zum Jahreswechsel darf man einmal grundsätzlich werden. Ja das Grundsätzliche gehört zu ihm, zum Rückblick und Vorausblick; wie das Feuerwerk und der Sekt und die guten Vorsätze. Also, einmal grundsätzlich gefragt: Wie steht es eigentlich um Deutschland?

Man kann das für die Situation zu diesem Ende des Jahres 2011 fragen; man kann auch den zeitlichen Bogen weiter spannen. Die Antworten könnte man unterschiedlich gliedern; etwa nach Bereichen - die Wirtschaft, unsere geistige Verfaßtheit, die Lage der Gesellschaft und die Stabilität des politischen Systems usw. - oder nach der Dringlichkeit der Probleme.

Ich will die simpelste aller Gliederungen wählen: Was war und ist gut, was schlecht?



Was ist gut?

Die Bundesrepublik Deutschland ist der beste Staat, den es je auf deutschem Boden gegeben hat, und sie ist einer der besten Staaten der Welt. Das gilt für nahezu alle Lebensbereiche - die Rechtsstaatlichkeit, die Demokratie, die erfolgreiche Wirtschaft, den sozialen Frieden.

Es gilt, entgegen einer Propaganda, die uns das Gegenteil einreden will, auch für die soziale Gerechtigkeit. Niemand in Deutschland ist, wie man im Amerikanischen sagt, left behind; also von der Solidargemeinschaft der Bürger Deutschlands im Stich gelassen. Wer in Not ist, dem wird geholfen. Jeder kann in diesem Land anständig leben, auch wenn er alt, hilflos oder aus einem anderen Grund arbeitsunfähig ist.

Und jeder hat die Möglichkeit zum Aufstieg; ob im Geschäftsleben, in der Politik, in der Wissenschaft oder sonst einem Bereich. Menschen in den höchsten Staatsämtern, an der Spitze der Wirtschaft, der Kirchen, der Universitäten stammen aus kleinen und kleinsten Verhältnissen. Jeder kann es schaffen, der das will und der die erforderliche Begabung hat. Gerechter kann eine Gesellschaft überhaupt nicht sein.

Ein derart erfolgreicher Staat war keineswegs zu erwarten gewesen, als mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 24. Mai 1949 die Bundesrepublik Deutschland entstand. Die Zukunft sah damals für die meisten düster aus. Die Furcht vor einem Dritten Weltkrieg war weit verbreitet. Von der Einführung der D-Mark und der Aufhebung der Zwangsbewirtschaftung im Juni 1948 erwarteten viele nur Preissteigerungen und Massenarmut. Im November 1948 riefen die Gewerkschaften zu einem Generalstreik gegen die Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards auf.

Es kam aber das Wirtschaftswunder. Es entwickelte sich ein Staat mit einer erstaunlichen politischen Stabilität; mit einem liberalkonservativen und einem linksliberalen Lager, die einander in der Regierungsverantwortung ablösten. Der Rechtsstaat festigte sich; nicht zuletzt dank der starken Stellung des Bundesverfassungsgerichts. Die Klassen-schranken fielen weitgehend; zwei Jahrzehnte nach Gründung der Bundesrepublik wurde der uneheliche Sohn einer Verkäuferin deutscher Bundeskanzler.

Dieser Staat war im Jahr 1990 derart erfolgreich und gefestigt, daß er die gewaltigen Herausforderung meistern konnte, die verarmte, geistig verkrüppelte und politisch korrumpierte DDR zu absorbieren. Innerhalb von nur zwei Jahrzehnten ist es gelungen, aus diesem failed state, diesem in jeder Hinsicht mißlungen Staat DDR einen Teil der Bundesrepublik zu machen, in dem es sich ähnlich gut leben läßt wie in der alten Bundesrepublik.



Was ist schlecht?

Es gibt da eine Asymmetrie: Das Gute an diesem Staat, das Erfolgreiche hat sich kontinuierlich entwickelt. Es ist gewissermaßen als der Charakter dieses Landes entstanden; etwas, das sich - wie Goethe es im Tasso die Leonore sagen läßt - "in dem Strom der Welt" gebildet hat. Das Schlechte hat eher die Merkmale vorübergehender Störungen; von Unarten gewissermaßen auf dem Hintergrund eines doch in seinen Grundeigenschaften guten Charakters.

Fast alle diese Störungen, diese Irritationen haben etwas mit Freiheit zu tun. Es gab anfangs zu wenig davon, dann eine Phase überbordender Freiheitsforderungen. Jetzt leben wir wieder in einer Zeit, in der unsere Freiheit nicht nur durch den Staat eingeschränkt wird; sondern wo auch starke gesellschaftliche Gruppierungen versuchen, allen Bürgern ihre eigene Ideologie zu oktroyieren.

Die Adenauerzeit war nicht so "bleiern" gewesen, wie manche sie im Rückblick schildern. Aber es gab doch ein Defizit an Freiheit. Homosexuelle litten besonders darunter, Atheisten, Künstler. Frauen waren benachteiligt.

Wer aktiv homosexuell war, der war ständig von strafrechtlicher Verfolgung bedroht. Atheisten hatten in vielen Bundesländern keine Wahl, als ihre Kinder in eine Konfessionsschule zu schicken. Die Kunst war durch die damaligen Moralvorstellungen vor allem der Katholischen Kirche eingeschränkt; ein aus heutiger Sicht nachgerade jugendfreier Film wie Ingmar Bergmans "Das Schweigen" führte noch 1963 zu mehr als 100 Strafanzeigen wegen Unsittlichkeit.

Das alles änderte sich fast über Nacht mit den Umbrüchen, die heute meist mit dem Jahr 1968 verbunden werden (siehe in diesem Blog die Serie "Wir Achtundsechziger"). Sie waren das Aufbegehren einer jungen Generation gegen die Normen ihrer Eltern und Großeltern.

Diese hatten die Zeiten des Ersten und des Zweiten Weltkriegs, der Inflation und der Weltwirtschaftskrise, die Jahre der Hungerwinter nach 1945 überstehen müssen. Das konnte ihnen nur mit jenen "Sekundärtugenden" gelingen, die bei den im Jahr 1968 Jungen nun in Verruf gerieten - Fleiß, Disziplin, Gehorsam, Selbstbescheidung.

Diese Jungen, die 1968 meist zwischen 18 und 25 waren - geboren also zwischen 1943 und 1950 -, hatten als das prägende Erlebnis ihrer Biografie die Erfahrung gemacht, daß alles immer besser wurde; daß das Leben fast nur aus angenehmen Seiten bestand. Also konnten sie mit diesen Tugenden ihrer Eltern und Großeltern nichts mehr anfangen. Sie rebellierten dagegen und benahmen sich dabei wie die verzogenen Kinder, die sie in diesen Jahren des Wirtschaftswunders in der Tat geworden waren. Sie wollten alles, und zwar sofort. Sie wollten grenzenlose Freiheit ohne Verantwortung.

Aus dieser Rebellion wurde der "Lange Marsch durch die Institutionen". Ein ungemein erfolgreiches Unternehmen, das die einstigen Revoluzzer in die höchsten Positionen von Staat und Gesellschaft und vor allem auch der Medien beförderte.

Brachten sie uns dort mehr Freiheit? Überhaupt nicht. Denn diejenigen, die als Achtundsechziger nach totaler Freiheit gerufen hatten, waren ja überwiegend keine Anhänger des demokratischen Rechtsstaats gewesen. Sie wollten Freiheit für sich, für ihre GenossInnen. Freiheit war für sie die Erlaubnis, sich - ein Schlüsselwort dieser Zeit - "selbst zu verwirklichen"; nicht ein Prinzip des Zusammenlebens aller.

Freiheit in dem Sinn, daß auch Andersdenkende denselben Respekt verdienen wie man selbst; daß niemand das Recht hat, der Gesellschaft seinen ideologischen Stempel aufzudrücken; daß es nicht die Aufgabe des Staats ist, weltanschauliche Werte durchzusetzen - diese Art von Freiheit wollten sie nicht, die meisten derer, die damals rebellierten und die heute regieren.

Ja, die heute regieren. Sie und mittlerweile bereits die Generation ihrer Schüler sitzen an den Schalthebeln der Macht im Deutschland des Jahreswechsels auf 2012. Damit ist unsere Freiheit jetzt mehr bedroht als zur Zeit Konrad Adenauers. Die Art, wie mit dem unbequemen Mahner Sarrazin umgegangen wurde, die kollektive Besoffenheit des "Ausstiegs aus der Atomenergie" haben schlagartig beleuchtet, welche nahezu unbegrenzte Macht diese Ideologen inzwischen in Deutschland gewonnen haben.

Gestern habe ich darauf hingewiesen, daß aus diesem Grund die FDP als die einzige liberale Partei im gegenwärtigen Deutschland so wichtig ist wie eh und je (Zitat des Tages: "Die FDP hat keine Daseinsbegründung mehr". Eine kluge These. Nur ist sie falsch; ZR vom 29. 12. 2011). Morgen, zum Jahreswechsel, wird in ZR zum Thema "Freiheit" ein Gastbeitrag von Rayson zu lesen sein.
Zettel



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