13. Januar 2012

Ist Anders Breivik schuldunfähig? Über den Unterschied zwischen einer paranoiden Schizophrenie und einer paranoiden Persönlichkeitsstörung

Eine Marginalie mit dem Titel "Ist Anders Behring Breivik schuld­unfähig?" konnten Sie in ZR schon einmal lesen; am 30. November 2011, als das Gutachten der beiden norwegischen Psychiater Sørheim und Husby bekanntgeworden war, demzufolge der Massenmörder Anders Behring Breivik an einer paranoiden Schizophrenie leidet und somit schuldunfähig ist (früher hieß das im deutschen Strafrecht "zurechnungsunfähig"; umgangssprachlich hat sich die Bezeichnung "unzurechnungs­fähig" eingebürgert).

Ich habe damals vorsichtige Zweifel an der Eindeutigkeit dieser Diagnose geäußert und Beispiele für politische Attentäter genannt, bei denen die Diagnose "Paranoide Schizophrenie" aufgrund einer eindeutigen Symptomatik zu Recht gestellt worden war:
  • Dieter Kaufmann, der 1990 das Attentat auf Wolfgang Schäuble verübte;

  • Jared Loughner, der vor einem Jahr, am 8. Januar 2011, in Tucson (Arizona) auf die Abgeordnete der demokratischen Partei Gabrielle Giffords schoß und sie schwer verletzte; inzwischen ist sie weitgehend genesen (siehe zu diesem Fall, der auf infame Weise politisch ausgeschlachtet worden war, Was hat Sarah Palin mit der Bluttat von Tucson zu tun? Exakt nichts; ZR vom 11. 1. 2011, sowie Aktuelles zum Attentat von Tucson; ZR vom 26. 5. 2011).
  • Bei diesen Tätern waren, wie auch bei der Attentäterin Adelheid Streidel, die 1990 Oskar Lafontaine mit einem Messer angriff, die klassischen Symptome einer Schizophrenie gefunden worden: Bizarre Wahnvor­stellungen, ungeordnete und wirre Gedanken, Halluzinationen. Vor allem Halluzinationen sind für die Diagnose einer Schizophrenie kritisch; sie treten dort typischerweise in Form von Stimmen auf, die der Kranke hört und die ihm oft Befehle erteilen oder sein Handeln kommentieren (Näheres weiter unten).

    Wie die Welt eines paranoiden Schizophrenen beschaffen ist, habe ich vor einem Jahr aus einem Bericht des "Spiegel" über Dieter Kaufmann zitiert:
    Im Kaffee, der während seiner Haftzeit im Mannheimer Gefängnis ausgeschenkt wurde, "war Speed", der Tee enthielt "halluzinogene Essenzen", auch im Tabak wähnte der Häftling "Psychodrogen".

    Und dann der Staatsterror: Das lief über "elektrische Wellen auf den Körper", über quälende "Lauttechnik", über "elektrolytisch erhebliche Schmerzen", die dem ehemals Drogenabhängigen, wie er angab, "im Zwölffingerdarm und im Kopf" zugefügt wurden. "Unter anderem hat der Staat auch versucht, mich sexuell zu erregen."
    Über die Gutachten zu dem Attentäter Jared Loughner schrieb die New York Times (meine Übersetzung):
    Dr. Pietz führte 12 Gespräche von insgesamt neun Stunden mit Loughner. Sie fand, daß seine Gedanken ungeordnet und wirr sind, daß er an Wahnvorstellungen leidet und auf ihre Fragen unsinnige Antworten gab. Sie diagnostizierte eine Schizophrenie.

    Ähnlich fand Dr. Carroll nach fünf Gesprächen von insgesamt sieben Stunden Dauer, daß Loughner Wahnvorstellungen, bizarre Gedanken und Halluzinationen hat und daß er - sagte der Richter - an einer paranoiden Schizophrenie leidet.
    Als das Gutachten von Sørheim und Husby über Breivik bekannt wurde, habe ich in den Berichten darüber vergeblich nach derartigen Symptomen gesucht. In meinem damaligen Kommentar schrieb ich deshalb:
    Aber Breivik? Liegt bei ihm eine Schizophrenie vor, gekennzeichnet durch bizarre Wahnvorstellungen? Oder ist er vielmehr ein paranoider, zur Empathie unfähiger und narzißtischer Psychopath? Sind seine Wahnvorstellungen weniger abwegig als beispielsweise die Adolf Hitlers? Hat er weniger gefühlskalt und grausam gehandelt?

    Die Differentialdiagnose ist in solchen Grenzfällen (borderline trifft es) äußerst schwierig. Eine Psychose ist eben nicht etwas, das man "bekommt" wie einen Schnupfen. Sie ist eine Funktionsstörung des Gehirns, die ganz unterschiedlich schwer sein kann. Die Grenze vom noch nicht Psychotischen zur Psychose ist gerade bei paranoiden Symptomen oft kaum zu ziehen.



    Als ich das schrieb, gab es noch nicht die kritischen Stimmen auch aus der norwegischen Psychiatrie, die seither Zweifel an dem Gutachten geäußert haben; man mußte also vorerst den einzigen Fachleuten vertrauen, die Breivik untersucht hatten. Ich habe deshalb meinen Kommentar damals zurückhaltend formuliert und nur angedeutet, daß das Gutachten auch eine Bedeutung für die norwegische Gesellschaft haben könnte:
    Aber die mit der Begutachtung beauftragten Psychiater mußten nun einmal eine Entscheidung treffen. Es gibt bisher keinen Grund zum Zweifel daran, daß sie diese professionell und nach bestem Wissen und Gewissen getroffen haben. Breivik selbst hat noch einmal gesagt, daß er sich für voll schuldfähig hält. Sollte er an einer paranoiden Schizophrenie leiden, dann wird gerade diese Diagnose ihn in seinem Wahn bestärken.

    Wie werden die Norweger reagieren? Norwegen ist ein Land, das Breiviks Verbrechen als sich nicht zugehörig, als etwas sozusagen dieser freundlichen, solidarischen Kultur Fremdes angesehen hat. Wenn nun entschieden werden sollte, daß Breivik einfach nur ein Geisteskranker ist, dann entlastet das. Die Welt ist dann wieder mehr in Ordnung.
    Inzwischen also gibt es Kritik in Norwegen; und zwar von fachlich kompetenter Seite. Gerald Traufetter hat das heute in einem ausgezeichneten Artikel in "Spiegel-Online" zusammengefaßt, dem allerdings die Redaktion einen gewohnt flapsig-agitatorischen Titel gegeben hat. Nicht "der Wahnsinnige soll gesund werden", sondern in einem diagnostischen Grenzfall mehren sich die Zweifel daran, daß es sich um eine paranoide Psychose und nicht vielmehr um den Fall einer narzißtisch-paranoiden Persönlichkeit handelt.



    Laien ist oft nicht klar, daß es zwei psychiatrische Diagosen gibt, die man beide mit dem Kürzel "Paranoia" versehen kann: die paranoide Schizophrenie, eine Geisteskrankheit; und die paranoide Persönlichkeits­störung.

    Menschen mit Persönlichkeitsstörungen (personality disorders) wurden in der deutschen Psychiatrie im Anschluß an den Psychiater Kurt Schneider als Psychopathen bezeichnet. Inzwischen wird diese Diagnose meist in einer engeren, an die angelsächische Terminologie angelehnten Bedeutung verwendet; als Bezeichnung für einen speziellen Fall von Persönlichkeitsstörung, gekennzeichnet durch Gefühlskälte, Egozentrik, Gewissenlosigkeit und eine mangelnde Fähigkeit zur Einfühlung in andere.

    Der Oberbegriff "Persönlichkeitsstörung" bezeichnet, in der Formulierung der von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegebenen Klassifikation ICD (International Classification of Deseases),
    ... extreme or significant deviations from the way in which the average individual in a given culture perceives, thinks, feels and, particularly, relates to others. Such behaviour patterns tend to be stable and to encompass multiple domains of behaviour and psychological functioning. They are frequently, but not always, associated with various degrees of subjective distress and problems of social performance.

    ... extreme oder bedeutsame Abweichungen von der Art, in welcher im Durchschnitt Menschen der betreffenden Kultur wahrnehmen, denken, fühlen und vor allem Beziehungen zu anderen haben. Solche Verhaltensmuster haben die Tendenz, stabil zu sein und zahlreiche Bereiche des Verhaltens und seelischer Abläufe einzubeziehen. Sie gehen oft, aber nicht immer mit subjektivem Leiden und Problemen im sozialen Umgang einher.
    Der letzte Satz entspricht bis auf die Einschränkung "nicht immer" Kurt Schneiders Definition von Psychopathen als Menschen, die an ihrer Abnormität [also Abweichung vom Durchschnitt] leiden, oder an deren Abnormität die Gesellschaft leidet.

    Eine der Unterformen der Persönlichkeitsstörungen ist die paranoide, die in der ICD so gekennzeichnet wird:
    Personality disorder characterized by excessive sensitivity to setbacks, unforgiveness of insults; suspiciousness and a tendency to distort experience by misconstruing the neutral or friendly actions of others as hostile or contemptuous; recurrent suspicions, without justification, regarding the sexual fidelity of the spouse or sexual partner; and a combative and tenacious sense of personal rights. There may be excessive self-importance, and there is often excessive self-reference.

    Persönlichkeitsstörung, die durch Überempfindlichkeit gegenüber Mißerfolgen und die Unfähigkeit gekennzeichnet ist, Beleidigungen zu vergeben; durch Mißtrauen und eine Tendenz, die Erfahrung zu verzerren, indem neutrale oder freundliche Handlungen anderer als feindselig oder gering­schätzig fehlgedeutet werden; durch ständige Verdächtigungen ohne Rechtfertigung, was die sexuelle Treue des Ehegatten oder Sexualpartners angeht; sowie durch eine aggressive und hartnäckige Stellung zu den eigenen Rechten. Hinzukommen kann ein überhöhtes Selbstwertgefühl, oft findet sich eine übermäßige Beschäftigung mit der eigenen Person.
    Das ist eine gute Kennzeichnung von Anders Breivik, soweit man ihn aus den Presseberichten kennt. Es fehlt allerdings ein wichtiger Aspekt; und dieser mag es gewesen sein, der Sørheim und Husby dazu veranlaßte, sich nicht für diese Diagnose zu entscheiden: Breiviks Vorstellungen von einer islamistischen Bedrohung Europas und seine Selbststilisierung zum "Tempelritter", der berufen sei, gegen diese mit mörderischer Konsequenz zu Felde zu ziehen.

    Ist das schon wahnhaft im Sinn einer Schizophrenie, oder ist es nur eine abwegige politische Ideologie, vergleichbar Adolf Hitlers Antisemitismus? Sørheim und Husby haben, so scheint es jedenfalls, bei der Abfassung ihres Gutachtens diese Ideen für derart wahnhaft gehalten, daß sie in ihnen die Symptome einer Schizophrenie zu erkennen meinten.

    Das ist eine sehr problematische Wertung; wie deutlich wird, wenn man sich ansieht, wie ICD die paranoide Schizophrenie beschreibt:
    The schizophrenic disorders are characterized in general by fundamental and characteristic distortions of thinking and perception, and affects that are inappropriate or blunted. Clear consciousness and intellectual capacity are usually maintained although certain cognitive deficits may evolve in the course of time.

    The most important psychopathological phenomena include thought echo; thought insertion or withdrawal; thought broadcasting; delusional perception and delusions of control; influence or passivity; hallucinatory voices commenting or discussing the patient in the third person; thought disorders and negative symptoms. (...)

    Paranoid schizophrenia is dominated by relatively stable, often paranoid delusions, usually accompanied by hallucinations, particularly of the auditory variety, and perceptual disturbances. Disturbances of affect, volition and speech, and catatonic symptoms, are either absent or relatively inconspicuous.

    Die schizophrenen Störungen sind allgemein durch grundlegende und charakteristische Verzerrungen des Denkens, der Wahrnehmung und der Affekte gekennzeichnet, die unangemessen oder abgestumpft sind. Das klare Bewußtsein und die geistigen Fähigkeiten sind meist erhalten; allerdings können sich im Lauf der Zeit bestimmte kognitive Defizite herausbilden.

    Die wichtigsten psychopathologischen Phänomene bestehen im Gedankenecho [man hört seine eigenen Gedanken; Zettel], dem Einbringen oder Entziehen von Gedanken; Gedankensendungen [der Kranke meint, ihm würden fremde Gedanken eingepflanzt oder eigene entzogen; Gedanken könnten gesendet werden; Zettel], Wahrnehmungs- und Kontroll­täuschungen [der Kranke sieht die Welt verzerrt und meint, unter fremder Kontrolle zu stehen]; Beeinflussung oder Passivität [der Kranke fühlt sich von fremden Mächten bestimmt und unfähig, sich dagegen zu wehren]; halluzinierte Stimmen, die in der Dritten Person über den Patienten diskutieren und ihn kommentieren; wirre Gedanken und negative Symptome [Verluste an normalen Fähigkeiten; Zettel]. (...)

    Die paranoide Schizophrenie wird von relativ stabilen, oft paranoiden Wahnvorstellungen beherrscht, die in der Regel von Halluzinationen vor allem des Gehörssinns sowie Wahrnehmungsstörungen begleitet sind. Störungen im Bereich der Affekte, des Willens und der Sprache sowie katatone Symptome [gestörte, vor allem verkrampfte Körperhaltung; Zettel] fehlen entweder oder sind relativ unauffällig.
    Wir alle haben unser Bild von Anders Breivik nur aus den Berichten, die ihn beschreiben; vor allem aus Artikeln und Sendungen zu seiner Biografie und den Vorbereitungen zu den beiden Massenmorden. Es liegt auf der Hand, daß dieses Bild von Breivik der klinischen Charakterisierung einer paranoiden Persönlichkeitsstörung viel näher kommt als dem, was an Symptomen vorliegen müßte, um eine Schizophrenie zu diagnostizieren.

    Wenn Sørheim und Husby gleichwohl zu der Diagnose einer Schizophrenie gekommen sind, dann kann das entweder daran liegen, daß die beiden Psychiater - so habe ich es bei meiner damaligen Kommentierung vorausgesetzt - bei der Untersuchung Breiviks Symptome wie Halluzinationen, Stimmenhören, Einbringen und Entziehen von Gedanken und andere Charakteristika einer Schizophrenie gefunden haben, die dieser bis dahin hatte verbergen können. Oder aber ihr Gutachten wäre in der Tat überaus fragwürdig.



    Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung sind - so jedenfalls ist es die herrschende Meinung - für ihr Handeln voll verantwortlich. Es wird vorausgesetzt, daß sie über die erforderliche Steuerungsfähigkeit verfügen, um etwaigen Impulsen, etwas Unrechtes zu tun, widerstehen zu können. Für Menschen mit einer Psychose wie der Schizophrenie gilt das nicht.

    Ob Psychopathen und Menschen mit ähnlichen Störungen wirklich über diese Selbstkontrolle verfügen, ist eine schwierige Frage, die ins Philosophische hineinreicht. Falls Sie dieses Thema interessiert - ich habe vor einigen Jahren einmal darüber geschrieben (Gibt es einen freien Willen, ja oder nein? Bitte entscheiden Sie sich für eine Antwort, bevor Sie diesen Artikel lesen!; ZR vom 25. 3. 2008). Es hat dazu damals eine lesenwerte Diskussion in "Zettels kleinem Zimmer" gegeben. In einem weiteren kurzen Artikel anläßlich eines seinerzeit aktuellen Falls habe ich das Thema kurz danach noch einmal aufgegriffen ("Ich bin ein Mensch, dem jedes Fühlen fehlt"; ZR vom 28. 3. 2008).
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Das 1923 erschienene, nur 96 Seiten umfassende Standardwerk von Kurt Schneider "Die psychopathischen Persönlichkeiten". Foto von dessen Autor H.-P.Haack unter Creative Commons Attribution 3.0 Unported-Lizenz freigegeben. Für eine vergrößerte Ansicht bitte auf die Abbildung klicken.