22. Februar 2012

Marginalie: Huber und Gauck, Käßmann und Göring-Eckardt als Kandidaten für die Nachfolge Wulffs - eine Renaissance des deutschen Protestantismus?

Bemerkenswert ist das schon: Von dem guten halben Dutzend Namen von Kandidaten für die Nachfolge Wulffs, die in den letzten Tagen kursierten, bevor am Sonntag die überraschende Entscheidung für Gauck fiel, waren vier die Namen von evangelischen Theologen; von zwei ehemaligen Bischöfen (Huber und Käßmann), einem Pfarrer im Ruhestand (Gauck) und mit Katrin Göring-Eckardt der Name der Frau, die gegenwärtig das Amt des Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland innehat; auch sie hat Theologie studiert.

Zum Teil ist das sicherlich Zufall; Gaucks Popularität hat nichts damit zu tun, daß er in der DDR Pfarrer war, sondern basiert auf seiner Persönlichkeit, seinen Ansichten und seiner Bekanntheit aus der Zeit als Leiter der Stasi­unterlagen-Behörde. Aber auffällig ist diese Häufung doch. Was könnten die Ursachen sein?

Eine naheliegende Ursache ist die Rolle, welche die Evangelische Kirche in der DDR im Widerstand gegen den Kommunismus und dann in der Zeit um die Wende und danach beim Aufbau der Demokratie in den Neuen Ländern gespielt hat. Dem Kabinett, das Lothar de Maizière nach den einzigen freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 bildete, gehörten ein Pfarrer als Außenminister und ein Pfarrer als Verteidigungsminister an; Markus Meckel und Rainer Eppelmann. Es dürfte außer dem Vatikanstaat wenige Staaten auf der Welt geben, in deren Regierung von den fünf klassischen Ressorts zugleich zwei durch Geistliche besetzt waren.

Diese (überwiegend; es gab auch andere Tendenzen) positive Rolle, welche die Kirche in der DDR und in der Zeit des Übergangs spielte, hat nach meinem Eindruck dem Ansehen des Protestantismus in Deutschland außerordentlich gutgetan. Dem Ansehen, wohlgemerkt. Mit einer Zunahme der Besucher von Gottesdiensten ging das nicht einher. Aber Viele verbinden heute in Deutschland Protestantismus mit Demokratie und Freiheit; zuvor war die Evangelische Kirche oft eher als zu obrigkeitsnah wahrgenommen worden.

Vorbehalte auch bei Nichtprotestanten gegen Menschen, die kirchlich engagiert sind, dürften damit geringer geworden sein. Ein ehemaliger Bischof, eine ehemalige Bischöfin als Bundespräsident - das wäre selbst zur Adenauerzeit den meisten Deutschen als eine eigenartige Vorstellung erschienen. Jetzt, in der Diskussion der vergangenen Tage, wurde das kaum thematisiert.



Ein zweiter Faktor könnte das gewesen sein, was man eine Transformation des Spirituellen ins Gesellschaftliche nennen könnte. Wenn protestantische Geistliche oder auch kirchlich engagierte Laien heute beispielsweise von Gerechtigkeit sprechen oder predigen, dann meinen sie fast stets nicht das, was theologisch unter der Gerechtigkeit Gottes verstanden wird, sondern banal und handfest soziale Gerechtigkeit.

Wolfgang Huber beispielsweise, der jetzt zu den Kandidaten für die Nachfolge Wulffs gehörte und der sich als Theologe besonders mit Ethik befaßt, sagte in einem Interview vom 9. Juli 2010:
Die Kirchen haben 1997 mit ihrem Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage klargemacht, wie maßgeblich das Leben der Menschen durch die Entwicklung der Wirtschaft bestimmt wird. In der evangelischen Kirche fragten wir dann, wie es um Reichtum und Armut in unserer Gesellschaft steht, und haben die Beteiligungsgerechtigkeit als Schlüsselbegriff eingeführt. Daran schlossen sich die Unternehmer­denkschrift und unsere Erklärung zur Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise an.
Erstaunlich weltliche Äußerungen eines Geistlichen in Bezug auf seine Kirche; der Vertreter einer politischen Richtung hätte dasselbe für seine Partei sagen können.

Über die Weihnachtspredigt 2009 der damals noch als Bischöfin amtierenden Theologin Margot Käßmann, auch sie jetzt als Kandidatin für die Nachfolge Wulffs genannt, berichtete die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" (HAZ):
Mit eindringlichen Worten hat die Vorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann, in ihrer Weihnachtspredigt zu mehr Mut für Gerechtigkeit und Frieden aufgerufen. "Wir brauchen Menschen, die ein mutiges Friedenszeugnis in der Welt abgeben, gegen Gewalt und Krieg aufbegehren", sagte die Landesbischöfin in einem Gottesdienst am Heiligabend in Hannover. Käßmann setzte sich für mehr soziale Gerechtigkeit, weniger Egoismus, entschlossenes Handeln für den Klimaschutz und in Zeitungsinterviews auch für einen Rückzug der deutschen Soldaten aus Afghanistan ein.
Nicht wahr - das könnte Wort für Wort auch eine Meldung über die Stellungnahme eines Politikers der SPD, der Grünen oder der Partei "Die Linke" sein. Geistliches kam in der Predigt der Bischöfin, jedenfalls soweit von der HAZ gemeldet, nicht vor.

Auch wenn Käßmann ein besonders extremer Fall sein mag - der deutsche Protestantismus ist heute ungleich politischer als in der alten Bundesrepublik. Und wenn Theologen sich derart massiv politisch äußern, wie Käßmann das tut, wie es etwas leiser auch Wolfgang Huber tut, dann gewinnt ihr möglicher Wechsel in die Politik etwas nachgerade Selbstverständliches. Sie wechseln dann ja nicht mehr ihr politisches Engagement; nur noch die berufliche Position, in der sie es realisieren.



Vielleicht ist das alles; vielleicht gibt es nur diese beiden Gründe. Vielleicht zeigt ein Blick über den Atlantik aber auch noch einen dritten Aspekt.

Dort wird der Vorwahlkampf zur Präsidentschaft gegenwärtig zu einem nicht unerheblichen Teil auf dem Feld der Theologie ausgetragen.

Den Anfang machte Präsident Obama, als er seine Pläne für Steuererhöhungen biblisch zu untermauern trachtete (siehe den Artikel von Herr: Wäre Jesus für höhere Steuern? – Obama und die Bibel; ZR vom 3. 2. 2012).

Mittlerweile liegt bei den Kandidaten der Republikaner der überzeugte Katholik Rick Santorum immer besser im Rennen (siehe US-Präsidentschaftswahlen 2012 (16): Minnesota, Missouri, Colorado - die Wende für Rick Santorum?; ZR vom 8. 2. 2012; jetzt hat Santorum bereits einen Vorsprung von zehn Prozentpunkten vor Romney). Und damit hat sich ein Streit darüber entwickelt, was eine christliche Grundlegung der Politik ist und was nicht. Obama, so wirft ihm Santorum vor, gründe seine politischen Ziele nicht auf die Theologie der Bibel, sondern auf eine phoney theology - eine falsche, eine unechte, eine erfundene Theologie.

Gewiß, das ist Amerika, wo die Religion traditionell stärker in die Politik hineinspielt als in Europa. Aber auch in den USA wären solche theologischen Debatten im Wahlkampf zur Zeit von Kennedy und Nixon, oder auch in der Ära Clinton, kaum möglich gewesen. Das Pendel schwingt in den USA derzeit in eine Richtung hin zu mehr Religion in der Politik.

Das muß für Deutschland nichts bedeuten. Aber historische Entwicklungen verlaufen selten mit monotoner Tendenz; meist eher zyklisch. Wir haben seit der Adenauerzeit, in der die Religion in der Politik eine bedeutende Rolle spielte, in Deutschland eine Entwicklung weg von dieser Bedeutung gehabt. Das kann sich auch wieder umkehren. Amerika könnte auch hier, wie sie oft, einen Zeitgeist erleben, der bei uns mit einer gewissen Phasenverschiebung auftritt - man denke an das Umweltthema, an den Hedonismus von Hippies und Haschisch oder an die Politische Korrektheit.

Daß jetzt gleich vier evangelische Theologen ernsthaft als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten im Gespräch waren, mag ein Vorbote einer solchen Entwicklung sein. Vielleicht.­
Zettel



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