7. März 2012

US-Präsidentschaftswahlen 2012 (21): "Das Rennen läuft und läuft". Kein Tag der Entscheidung. Glauben Sie Nate Silver und CNN, nicht "Spiegel-Online"

"This race is going on and on" - "Dieses Rennen läuft und läuft und läuft". Das war so etwas wie das Leitmotiv der Moderation Wolf Blitzers bei CNN in dieser Wahlnacht. Denn auch nach dem Super Tuesday bleibt alles offen.

Es ist so gekommen, wie Sie es wußten, wenn Sie gestern meinen Vorbericht gelesen haben (Dieser Super Tuesday wird vermutlich alles offenlassen; ZR vom 6. 3. 2012). Es hat nicht das gegeben, was "Spiegel-Online" gestern phantasierte: einen "Tag der Entscheidung".

Wenn Sie diese Serie regelmäßig lesen, dann sind Sie über das, was im amerikanischen Vorwahlkampf vorgeht, gut informiert. Wenn Sie sich aus Quellen wie "Spiegel-Online" informieren, dann werden Sie sehr oft mit Behauptungen versorgt werden, die schon bald durch die Zahlen widerlegt sind.

Wie kommt das? Es ist denkbar einfach: Man braucht nicht den Apparat, der "Spiegel-Online" zur Verfügung steht, um gute Vorhersagen zu bekommen und um die Situation richtig zu beurteilen. Man braucht nur wenige, exzellente Quellen und ein Urteil, das nicht durch politische Voreingenommenheit verzerrt ist.



Für die aktuelle Berichterstattung vertraue ich CNN, das sich durchweg als zuverlässig erwiesen hat - auch und gerade dadurch, daß man dort nichts berichtet, das nicht eindeutig bestätigt ist. Den "Sieger" in einem Staat ruft CNN beispielsweise oft später aus als MSNBC und FoxNews, weil man wartet, bis ein hartes statistisches Kriterium erreicht ist.

In dieser Wahlnacht hat sich das wieder einmal bewährt: Den ganzen Abend über lag in Ohio Rick Santorum vor Mitt Romney. CNN hat bis zuletzt davor gewarnt, ihn deshalb schon als den Sieger zu sehen. Als 85 Prozent ausgezählt waren, lag Santorum noch vorn. Dann wurde es immer enger. Am Ende gewann Romney knapp.

Besonders zuverlässig sind die nachgerade atemberaubenden Analysen, die bei CNN John King liefert - ein Mastermind, wenn es denn so jemanden bei einem Nachrichtensender gibt. Er hat von den Staaten, in denen jeweils gewählt wird, die Bevölkerungsstruktur aller Wahlkreise im Kopf; er ist in der Lage, das blitzschnell mit den aktuell einlaufenden Ergebnissen zu kombinieren und dann zu analysieren, was diese jeweils für das wahrscheinliche Ergebnis bedeuten.

Im Fall Ohio hat King immer wieder darauf aufmerksam gemacht, daß die Ergebnisse aus den großen Zentren um Columbus, Cincinatti und Cleveland als letzte eintreffen und alles noch im letzten Augenblick ändern können. CNN hatte eine Reporterin vor Ort - Dana Bash, übrigens mit John King verheiratet -, die sich die kritischen Daten schon besorgte, bevor sie an die Agenturen gingen. Damit und mit Hilfe seiner Mathematiker konnte CNN den knappen Sieg von Romney schon ankündigen, als fast überall sonst noch Santorum als der Sieger gesehen wurde.

John King war übrigens auch einer der ersten Journalisten, die erkannten, welche Möglichkeiten das bietet, was heute jedes Tablet hat - die Fähigkeit, durch Wischen eine Grafik zu verschieben, zu vergrößern, sie mit einer anderen zu kombinieren usw. Als er das vor vier Jahren an großen Bildschirmen bei CNN einführte, war es noch so neu, daß es Magic Wall hieß, die Zauberwand.



Bei den Vorhersagen hat sich mir der Blog der New York Times (NYT) FiveThirtyEight immer wieder als zuverlässiger erwiesen als alles das, was man in den großen Medien lesen kann. Betrieben wird er - inzwischen mit Hilfe von Mitarbeitern - von Nate Silver, einem mathematischen Statistiker, der ihn als privaten Blog gegründet hatte; seit August 2010 wird er von der NYT angeboten.

Nate Silver hat mich bereits in den Monaten vor den Wahlen 2008 durch die Genauigkeit seiner Analysen beeindruckt (siehe zum Beispiel Von Bush zu Obama (1): Warum hat Barack Obama gewonnen? Eine Wahlanalyse auf fünf Ebenen; ZR vom 6. 11. 2008). Inzwischen ist seine Qualität weithin erkannt worden; 2009 wurde er - damals 31 Jahre alt - von Time Magazine in einer Liste der 100 einflußreichsten Menschen der Welt aufgeführt.

Seine Arbeitsweise ist sehr komplex und umfaßt einerseits aufwendige mathematische Modelle, andererseits die lückenlose und ständig aktualisierte Erfassung aller verfügbaren Umfragedaten, die er mit anderen (demographischen, ökonomischen usw.) Informationen verknüpft. Ich habe das im Einzelnen in einer früheren Folge dieser Serie beschrieben (Gingrichs Triumph. "Noch nie gab es ein solches Auf und Ab". Obama, Wählbarkeit und Rückkopplung; ZR vom 22. 1. 2007).

Wenn man bei Silver nachsieht, hat man stets alle Informationen zu den Vorwahlen, optimal ausgewertet. Alle aktuellen Umfragedaten findet man bei RealClearPolitics. Weitere Quellen braucht man nicht. Das ersetzt den ungleich größeren Aufwand, den Medien wie "Spiegel-Online" bei ihrer Berichterstattung über die US-Vorwahlen treiben können; es ersetzt ihn nicht nur, sondern das Ergebnis ist besser.

Es ist auch deshalb besser, weil CNN und Silver sich allein der Wahrheit verpflichtet fühlen, ohne eine politische Wirkung erzielen zu wollen. "Spiegel-Online" und inzwischen viele andere deutsche Medien sind im Gegensatz dazu unfähig (und/oder nicht willens), ihre Berichterstattung von der politischen Meinung ihrer Redakteure zu trennen. Das führt zu mitunter grotesken Fehlurteilen (siehe zum Beispiel "Es ist zum Verzweifeln". Wie "Spiegel-Online" über die Lage der Kandidaten im US-Vorwahlkampf desinformiert; ZR vom 10. 1. 2012).



Auch für die gestrigen Vorwahlen des Super Tuesday hat Nate Silver wieder verschiedene Vorhersagen berechnet; zum einen für die Prozentwerte der Kandidaten in den 10 Staaten, zum anderen für die Verteilung der Delegierten (Darüber habe ich gestern berichtet).

Wenn Sie sich das im einzelnen ansehen wollen, dann finden sie es hier. Ohne dieses Zahlenmaterial jetzt aufzurollen, möchte ich Ihnen die Qualität der Vorhersagen von Nate Silver nur an einem groben Kriterium zeigen: Der Reihenfolge der vier Kandidaten in den einzelnen Staaten. Sie können das mit einer Viererwette beim Pferderennen vergleichen.

Im folgenden die Ergebnisse nach dem derzeitigen Stand der Auszählung (6.30 Uhr MEZ) und die jeweilige Vorhersage Nate Silvers. Aus Alaska gibt es derzeit noch keine Ergebnisse. Für die Staaten mit Caucuses lagen Silver keine Umfragedaten vor. Hier habe ich (in Klammern) die Daten verwendet, die er aufgrund anderer Quellen für die Delegiertenzahlen vorhergesagt hat:
  • Georgia
    Gingrich - Romney - Santorum - Paul
    Gingrich - Romney - Santorum - Paul
  • Idaho
    Romney - Paul - Santorum - Gingrich
    (Romney)
  • Massachusetts
    Romney - Santorum - Paul - Gingrich
    Romney - Santorum - Paul - Gingrich
  • North Dakota
    Santorum - Paul - Romney - Gingrich
    (Romney - Santorum - Paul - Gingrich)
  • Ohio
    Romney - Santorum - Gingrich - Paul
    Romney - Santorum - Gingrich - Paul
  • Oklahoma
    Santorum - Romney - Gingrich - Paul
    Santorum - Romney - Gingrich - Paul
    Tennessee
    Santorum - Romney - Gingrich - Paul
    Santorum - Romney - Gingrich - Paul
  • Vermont
    Romney - Paul - Santorum - Gingrich
    (Romney - Paul)
  • Virginia
    Romney - Paul
    Romney - Paul
  • Wegen des komplizierten und von Staat zu Staat verschiedenen Delegiertenschlüssels lassen sich aus diesen Ergebnissen noch nicht die genauen Delegiertenzahlen vorhersagen.

    Fest steht aber schon: Es ist so gekommen, wie es aufgrund der Berechnungen von Silver zu erwarten gewesen war: Romney hat seinen Vorsprung bei den Delegierten ausgebaut. Santorum hat einen guten zweiten Platz erreicht und sieht sich vor allem durch seinen Fast-Sieg in Ohio gestärkt. Gingrich hat in Georgia souverän gewonnen und wird weitermachen. Ron Paul hat, wie immer, respektabel, aber nicht glänzend abgeschnitten. Daß er weitermachen würde, stand ohnehin fest.

    Der "Tag der Entscheidung" fand nur in Medien wie "Spiegel-Online" statt; nicht in der Realität.
    ­
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Das Lansdowne-Porträt von George Washington, gemalt von Gilbert Stuart (1796). National Portrait Gallery der Smithsonian Institution. Das Porträt zeigt Washington, wie er auf eine weitere (dritte) Amtszeit verzichtet. Links zu allen Beiträgen dieser Serie finden Sie hier. Siehe auch die Serie Der 44. Präsident der USA von 2008.