14. März 2012

US-Präsidentschaftswahlen 2012 (23): Santorums Überraschungssieg. Romney bleibt Favorit. Warum Gingrich weitermacht. Der eigentliche Sieger ist Obama

Es war die spannende Wahlnacht, die Sie erwarten konnten, wenn Sie meinen gestrigen Vorbericht gelesen haben. Auf den ersten Blick sieht das Ergebnis klar und einfach aus: Rick Santorum hat triumphiert. Newt Gingrich konnte nicht einmal - wie es ein CNN-Kommentator gestern sagte - in his own backyard gewinnen, in seinem eigenen Hinterhof. Mitt Romney hat über alle Erwartungen schlecht abgeschnitten.

Zuerst rief CNN in der vergangenen Nacht in Alabama Rick Santorum als den Sieger aus. In Mississippi dauerte es länger, bis auch dort sein Sieg feststand. In beiden Staaten hat sich dann im Lauf der weiteren Auszählung sein Vorsprung noch vergrößert. Es sind jetzt jeweils 99 Prozent der Stimmbezirke ausgezählt. Das Ergebnis:

In Alabama gewinnt Santorum mit 35,3 Prozent. Es folgen in deutlichem Abstand, und faktisch gleichauf liegend, Gingrich mit 29,9 Prozent und Romney mit 29,7 Prozent. Ron Paul ist mit 5,1 Prozent abgeschlagen.

In Mississippi ist Santorums Sieg nicht ganz so deutlich. Hier erreicht er 33,2 Prozent. Gingrich folgt mit 31,6 Prozent und Romney mit 30,7 Prozent. Auch hier bleibt Paul mit 4,5 Prozent weit hinter den anderen zurück.

Das Muster ist damit in den beiden benachbarten Staaten exakt dasselbe:

Santorum hat - entgegen allen Umfragen, wie er in seiner Rede in der Wahlnacht betonte - souverän gesiegt. Gingrich und Romney wurden gleichermaßen gedemütigt. Wer mehr, ist schwer zu sagen - Romney, weil er der Favorit gewesen war? Gingrich, weil er in diesen beiden Staaten des Tiefen Südens unbedingt hatte gewinnen müssen, um sich noch Hoffnungen auf die Nominierung machen zu können?

An der Oberfläche ist es also ein simples Bild; und man ist versucht, es simpel zu interpretieren: Gingrich ist aus dem Rennen. Romney ist angeschlagen und hat seinen Favoritenrolle hinter sich. Rick Santorum ist seit gestern ein aussichtsreicher Kandidat für die Nominierung, wenn nicht bereits der neue Favorit.

Aber so ist es nicht. Sehen wir genauer hin.



In der Wahlnacht sagte ein Mitarbeiter Romneys, man sei mit dessen Abschneiden eigentlich ganz zufrieden. Viel mehr als ein Drittel habe man in diesen beiden Südstaaten nicht erwarten können; und Romney habe immerhin weitere Delegierte gewonnen. (Nach den Berechnungen von CNN werden es 9 aus Alabama und 12 aus Mississippi sein; exakt so viele erhält Gingrich. Der Sieger Santorum bekommt 18 Delegierte aus Alabama und 13 aus Mississippi).

Natürlich war diese Aussage von Romneys Mitarbeiter die übliche Schönfärberei nach einer verlorenen Wahl. Aber so ganz falsch ist das nicht. Wenn es Romney irgendwo besonders schwer hat, dann im Tiefen Süden; er, der ehemalige Gouverneur des liberalen Ostküstenstaats Massachussetts, der Mann, der seine konservative Seite erst im jetzigen Wahlkampf entdeckt hat.

Daß man ihm mehr zugetraut hatte, lag allein an den Umfragen. Und hier ist an Nate Silvers Analyse zu erinnern: Umfragen sind in den Südstaaten notorisch unzuverlässig. Daß sie offenbar Santorum systematisch unterschätzt haben, würde zu Silvers Hypothese eines social desirability bias passen: Im Tiefen Süden bekennt man sich nicht gern öffentlich zu einem Katholiken. Ein weiterer Faktor mag gewesen sein, daß Santorum seine Wähler besser mobilisieren konnte als Romney. In dessen Hochburgen war die Wahlbeteiligung ungewöhnlich schlecht. Bei einer Präsident­schafts­wahl wäre das anders.

Romney ist also nicht der große Verlierer. Er ist wieder einmal mit einem blauen Auge davongekommen; wie schon Ende Februar nach den Vorwahlen in Michigan und Arizona (siehe "Als der Dampf sich nun erhob, sieht man Romney, der gottlob ...; ZR vom 29. 2. 2012).

Verloren hat er allerdings auf der psychologischen Ebene; so, wie Rick Santorum vor allem auf dieser Ebene gewonnen hat.

2.286 Delegierte werden Ende August in Tampa, Florida, über die Nominierung entscheiden. Davon hat gestern Romney 21 gewonnen und Santorum 31. Was Santorums Chancen in Tampa angeht, macht diese Differenz von zehn Delegierten kaum einen Unterschied. Aber er hat jetzt erneut Schwung bekommen, das momentum, das ihm für die bevorstehenden Vorwahlen und Caucuses (in Missouri, Puerto Rico, Illinois und Louisiana) nützlich sein wird.

Ist er damit zu einem ernsthaften Konkurrenten Romneys geworden, vielleicht gar schon zum neuen Favoriten? John King hat das in der Wahlnacht mit der Gründlichkeit untersucht, die seine Analysen kennzeichnet. Er ist Staat für Staat durchgegangen, wo Primaries oder Caucuses noch ausstehen, und hat - auf der Basis der Umfragedaten, aufgrund der Demographie und des bisherigen Wahlverhaltens - die Chancen der Kandidaten abgeschätzt.

Rechnet man das in Delegiertenstimmen um, dann reicht es für Santorum nicht; selbst wenn man für jeden Staat die für ihn jeweils günstigsten Annahmen macht. Während John King diese Rechnung anhand seiner Magic Wall darlegte, war er mit einem Mitarbeiter Santorums verbunden. Dieser kommentierte Kings Ausführungen mit der Bemerkung, er habe noch nie in einem Satz so viele "Wenns" gehört. Schon möglich, erwiderte King - aber es seien alles "Wenns" zugunsten von Santorum gewesen.

Warum wird es Santorum kaum möglich sein, Romney noch einzuholen? Eine wesentliche Rolle spielt der neue Delegiertenschlüssel, der in diesem Jahr erstmals in vielen Staaten eingeführt wurde.

Bisher war es so wie bei der Wahl des Präsidenten: Winner takes all. Wer die meisten Stimmen hat, der "holt" (carries) diesen Staat mit allen ihm zustehenden Delegierten. Jetzt aber hat man in vielen Staaten eine Art Verhältniswahlrecht eingeführt, das auch den Unterlegenen einen Teil der Delegierten zuerkennt (siehe Dieser Super Tuesday wird vermutlich alles offenlassen. Über die komplizierte Arithmetik von Vorwahlen; ZR vom 6. 3. 2012).

Auch wenn Santorum künftig, beflügelt durch den gestrigen Erfolg, etliche Staaten holen sollte, die ihm nicht zugetraut worden waren, so wird dort doch in der Regel auch Romney einen Teil der Delegierten für sich gewinnen. Santorum sammelt Delegierte, aber Romney bleibt ihm immer voraus. Es ist ein wenig wie beim Hasen und dem Igel.



Und Gingrich? Er scheint durch die Niederlage in zwei Staaten, die er unbedingt hätte gewinnen müssen, so gut wie aus dem Rennen geworfen zu sein.

Für die Nominierung gilt das in der Tat. Diese kann er seit gestern abschreiben. Aber paradoxerweise hat gerade der unerwartete Sieg Santorums ihm eine andere Chance eröffnet; und ein Motiv, doch im Rennen zu bleiben.

Hätte gestern Romney gesiegt, dann wäre ihm die Nominierung kaum noch zu nehmen gewesen. Er hätte dann bewiesen, daß er faktisch überall siegen kann - nicht nur in seinem heimatlichen Neuengland, sondern ebenso im Mittleren Westen und nun sogar im Tiefen Süden. Gingrich hätte dann wohl ausscheiden müssen. Nun aber hat er eine neue Chance; und zwar in der Rolle des Königsmachers.

Denn wenn es auch unwahrscheinlich ist, daß Santorum noch Romney überholt, so sind gestern doch andererseits die Aussichten Romneys geschmolzen, in Tampa eine absolute Mehrheit der Delegierten zu haben. Jeder der beiden könnte deshalb für die Nominierung auf die Delegierten Gingrichs (und auch Ron Pauls) angewiesen sein.

Gingrich wäre dann in Tampa ein "mächtiger Mann", wie es einer der CNN-Kommentatoren formulierte. Er gilt als ein Ehrgeizling, der nicht verlieren kann. Scheidet er jetzt aus, dann als Verlierer, wenn nicht Versager. Bleibt er im Rennen, dann kann er in Tampa zur zentralen Figur werden. Also wird er im Rennen bleiben.

Das ist eines der wesentlichen Ergebnisse dieser Vorwahlen: Hätte Romney gestern gewonnen, dann hätte er vermutlich keinen Königsmacher gebraucht, und Gingrichs Ausscheiden wäre wahrscheinlich gewesen. Jetzt klang er so - und seine Mitarbeiter bekräftigten das -, als sei er entschlossen, auf jeden Fall bis zum Schluß durchzuhalten.



Wenn am 27. August der Parteitag in Tampa beginnt, ohne daß Romney oder Santorum eine absolute Mehrheit hat, dann ist das aber nicht nur eine Chance für Gingrich. Es ist vor allem eine glänzende Ausgangssituation für Barack Obama in dem dann einsetzenden eigentlichen Wahlkampf.

Denn egal, wer dann das Rennen macht - Romney, Santorum oder möglicherweise jemand, der sich bisher gar nicht beworben hat, der aber aus der dann verfahrenen Situation heraus "einberufen" (drafted) wird - , in jedem Fall würde es ein schwacher Kandidat sein; der Kandidat einer zerstrittenen Partei. Er würde es gegen einen mit der Würde des Präsidentenamts bekleideten, von seiner Partei nahezu geschlossen unterstützten Obama sehr schwer haben; zumal die Wirtschaftsdaten der USA auf eine Erholung im Lauf des Jahres hindeuten.

Hinzu kommt, daß sowohl Romney als auch Santorum eine entscheidende Schwäche haben, die sich in den dann anstehenden Debatten gegen Obama negativ auswirken dürfte: Santorum wirkt zwar ehrlich und persönlich überzeugend, aber er läßt wenig Sachkompetenz erkennen. Romney wird als ein erfolgreicher Macher wahrgenommen, aber es fehlt ihm an Ausstrahlung.

Santorum glaubt man, daß er mit Überzeugung für seine Sache eintritt. Romney glaubt man, daß er kompetent und smart genug ist, seine Ziele durchzusetzen. Obama glauben seine Anhänger beides. Und möglicherweise auch genug der noch Unentschlossenen, um seinen Sieg am 6. November wahrscheinlich zu machen. Jedenfalls dann, wenn er dem Kandidaten einer zerstrittenen Partei gegenüberstehen sollte. Die GOP hätte dann eine große Chance verspielt, das Land auf einen neuen Weg zu bringen.­
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Das Lansdowne-Porträt von George Washington, gemalt von Gilbert Stuart (1796). National Portrait Gallery der Smithsonian Institution. Das Porträt zeigt Washington, wie er auf eine weitere (dritte) Amtszeit verzichtet. Links zu allen Beiträgen dieser Serie finden Sie hier. Siehe auch die Serie Der 44. Präsident der USA von 2008.