11. April 2012

Statt mehr Transparenz eine Stärkung der Eigenverantwortung und des Parlamentarismus. Ein Gastbeitrag von Erling Plaethe

Die Forderung nach mehr Transparenz wird üblicherweise nicht im zwischenmenschlichen Miteinander erhoben. Was jemand preisgibt, soll ihm zum Vorteil gereichen; das gestehen wir einander zu. Kommt doch einmal etwas heraus, das man besser für sich hätte behalten sollen, dann schliesst sich meist der hoffnungsvolle Versuch der Abnahme des Versprechens an, es nicht weiter zu sagen; oder er geht sogar voraus.

Jeder hat Leichen im Keller; und weil dies alle wissen, dient die Preisgabe, dient die Weitergabe derartiger persönlicher Informationen nicht der vertrauensvollen Zusammenarbeit, sondern eher der verbalen Kriegsführung.



Wir bringen einander Vertrauen entgegen. Dieses persönliche Vertrauen ist eine wichtige Grundlage für Verträge. Die andere Grundlage ist das Vertrauen in die Gültigkeit der Gesetze für jedermann, für juristische Personen und für den Staat.

Aber je größer die Gruppe der Menschen wird, die einen Vertrauensvorschuss wünschen, desto schwächer wird die Bereitschaft, ihn zu gewähren. Kann das fehlende Vertrauen nicht durch Kontrolle ersetzt werden, wird die Forderung nach Transparenz erhoben. Die totale Transparenz - diejenige, die natürlich am besten und reibungslosesten funktionieren würde - bestünde darin, daß alle Karten auf den Tisch gelegt werden.

Nun haben aber nicht nur Personen Leichen im Keller, sondern auch Firmen und Verwaltungen. Bei ihnen gibt es, wie beim einzelnen Menschen, Widerstand gegen eine solche totale Transparenz. Eine Firma, die sich völliger Transparenz verpflichten würde, wäre innerhalb kürzester Zeit von Wettbewerbern erledigt; oder von ihren Kunden, die das Offenlegen von Schwächen im günstigsten Fall mitleidig zur Kenntnis nehmen würden.

Bei Staaten sind die Konsequenzen weitaus drastischer. Kunden werden ihnen bei einer Offenlegung aller ihrer Geheimnisse zwar nicht weglaufen; aber die Wettbewerber würden profitieren - andere Staaten nämlich; vor allem solche, die kaum allgemeingültige Gesetze kennen. Ein so offenherziger Staat würde sich und seine Geheimdienste zum Gespött der Welt machen.



Also lohnt sich vielleicht ein erneuter Blick auf die Teile des Ganzen.

Statt der Forderung nach Transparenz könnte auch diejenige nach Rückgabe der Eigenverantwortung in den Mittelpunkt gestellt werden. An die Stelle des Versuchs, fehlendes oder verloren gegangenes Vertrauen durch Kontrolle zu ersetzen, könnte die vehemente Ablehnung von Gängelung und Bevormundung treten. Und anstatt Forderungen nach mehr Gerechtigkeit zu formulieren, könnten die Persönlichkeits­rechte dort gestärkt werden, wo dies die Privatsphäre ausbaut und erweitert.

Wer vom Staat erwartet, dass er seinen Bürgern ihre Sorgen und Nöte abnimmt und das ihm anvertraute Geld so gerecht wie nur irgend möglich verteilt, muss, so fürchte ich, freilich damit leben, dass dieser Staat ständig auf der Suche nach neuen Einkommensquellen ist; und daß er des weiteren so viel wie möglich über seine Bürger in Erfahrung bringen will, damit er sich nicht dem Vorwurf aussetzt, ungerecht verteilt zu haben.

Die notwendige Stärkung der Verantwortung der Volksvertreter gegenüber ihren Auftraggebern, den Wählern, kann nicht durch mehr Transparenz ersetzt werden.

Transparenz und direkte Demokratie werden, indem sie Mitbestimmung ohne Verantwortung ermöglichen, Spielwiesen für Gegner des technologischen Fortschritts. Stuttgart 21, so mancher schwindelerregend teure Autobahnkilometer und jede neue Stromtrasse belegen, dass jahrelange Planfeststellungsverfahren und Transparenz nicht unbedingt zu mehr Akzeptanz, zur effektivsten oder auch überhaupt nur zu einer Lösung von anstehenden Problemen führen. Das Atommüllendlager Gorleben ist ein eklatantes Beispiel.

Die Forderung nach mehr Transparenz steht im Zusammenhang mit jener nach mehr direkter Demokratie. Die Bürger sollen stärker am demokratischen Prozess beteiligt werden, indem sie sich mit Detailfragen des parlamentarischen Alltags auseinandersetzen und über diese abstimmen; dabei gegebenenfalls auch das Parlament überstimmen können.

Es gibt viel zu kritisieren an der Parteiendemokratie, auch am Wahlrecht. Aber eine Institution, die seit der Magna Charta von 1215 funktioniert, die auch nach verheerendsten Diktaturen noch jede Gesellschaft in wachsenden Wohlstand führte, stellt man nicht deshalb in Frage, weil es jetzt das Internet gibt.

Eine stärkere Bürgerbeteiligung muss mit einer Stärkung des Parlaments einhergehen, nicht mit seiner Schwächung; sonst spielt man den Souverän gegen sich selbst aus. Eine reine Mitbestimmung, ohne gewählt zu sein und ohne Verantwortung übernehmen zu müssen, geht den Weg in eine dogmatische Demokratie.

Dagegen sollten die Abgeordneten gestärkt werden; und zwar durch ein Mandat, welches sie sich im direkten Kontakt mit dem Bürger gegen ihre Konkurrenten erkämpfen und nicht über einen Listenplatz erhalten. Durchgehend namentliche und veröffentlichte Abstimmungen im Parlament können zur Informiertheit des Bürgers beitragen. Die Bürger sollten wissen, wie ihr Abgeordneter abgestimmt hat, um ihn zur Rechenschaft ziehen zu können.



Der demokratische Rechtsstaat ist nicht intransparent. Durch das Internet hat jeder Bürger einen nie dagewesenen Zugang zu Informationen; auch und gerade, was die Institutionen des Staates anbelangt. Aber es gibt Grenzen. Vielleicht sollten diese klarer gezogen werden. Für den Staat, für den Bürger.

Die Intransparenz des DDR-Regimes war möglich, weil die Bürger für den Staat nahezu völlig transparent waren. Denjenigen, welche die Macht des Staates teilen und begrenzen wollten, hat man damals die Leichen aus dem Keller gezerrt. Wurde man nicht fündig, dann hat man ihnen Leichen in den Keller gelegt.

Die friedliche Revolution in der DDR war die Rückeroberung der Privatheit und die Aufhebung dieser Art von Transparenz. Es fand eine Verschiebung statt: Weniger Transparenz beim Bürger und dafür mehr beim Staat.

Nach meiner Auffassung ist auch in einer offenen Gesellschaft nur eine Verschiebung möglich. Dafür müssen die Bürger mehr Privatheit zurückerlangen. Man nennt das auch Individualismus. ­
Erling Plaethe



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