18. Juli 2012

Das Land der Griechen mit der Seele suchend. Das Griechenland in unseren Köpfen - wie real ist es?

Ausgerechnet Griechenland!

Stellen Sie sich vor, wir hätten eine Bulgarien- oder eine Rumänienkrise. Das wäre ein ökonomisches, vielleicht auch ein politisches Problem. Aber eine Griechenland-Krise ist mehr. Sie ist auch ein psychologisches - oder sollte man gar sagen: ein philosophisches? - Problem für uns. Für uns Deutsche, für andere Europäer.

Denn es gibt dieses Griechenland in unseren Köpfen. Das antike Griechenland, sich mischend mit dem modernen, dem Urlaubs-Griechenland. Halb Iphigenie auf Tauris, halb diese entzückende kleine Pension auf der pittoresken Insel mit Blick auf das endlose Blau des Ägäischen Meers.

An der "Iphingenie auf Tauris" hat Goethe acht Jahre lang gefeilt; von der ersten Prosafassung 1779 bis zur endgültigen Fassung in fünffüßigen Jamben, die er 1787 in Rom beendete. Mit den Zeilen im Eingangsmonolog der Iphigenie:
Denn ach mich trennt das Meer von den Geliebten,
Und an dem Ufer steh' ich lange Tage
Das Land der Griechen mit der Seele suchend
Dieses "Das Land der Griechen mit der Seele suchend" ist zum geflügelten Wort geworden.

Sie suchten das Land der Griechen mit der Seele, die Deutschen; erst in der Weimarer Klassik und dann, als Griechenland Anfang des 19. Jahrhunderts mit seinem Unabhängigkeitskampf Philhellenen ("Griechenfreunde") überall in Europa begeisterte. 1823 übernahm der von Goethe hochgeschätzte englische Dichter George Byron, der "Lord Byron", gar das Kommando über die Armee der griechischen Freischärler.

1832 war es dann so weit: Im Vertrag von Konstantinopel entließ das Osmanische Reich Griechenland in die Unabhängigkeit; man könnte auch sagen: überantwortete es Europa. Denn seither ist Griechenland kein europäisches Land wie die anderen. Es war und ist das Ziehkind, das Sorgenkind und irgendwie auch das Wunderkind Europas.

Es ist ein Land, das sich seit seiner Gründung von einem Staatsbankrott in den nächsten begab, immer irgendwie aufgefangen von Europa (siehe Griechenland - seit seiner Geburt ein Ziehkind Europas. Über den historischen Hintergrund der griechischen Schuldenmacherei; ZR vom 28. 10. 2011). Aber aber es ist für uns Europäer eben auch das Land Homers; das Geburtsland der Philosophie, der Kunst Europas, der Wissenschaften.

Durch das ganze 19. Jahrhundert zog sich diese Begeisterung für Griechenland. Auch noch Nietzsche, selbst im vergangenen Jahrhundert noch Heidegger suchten auf ihre jeweilige Art das Land der Griechen mit der Seele. Bis ins 20. Jahrhundert hinein hatte der gebildete Deutsche Griechisch auf dem Gymnasium gelernt; wenigstens bis zur Lektüre des Xenophon.

Viele machten sich im 19. Jahrhundet auf, das mit der Seele gesuchte Land auch physisch zu besuchen; wie der französische Dichter Edmond About, der 1852 nach Griechenland reiste. Und der dort freilich nicht nur Antikes entdeckte, sondern beispielsweise auch (sein Reisebericht erschien 1855) die Steuermoral der Griechen:
Die Beamten hören sich die Steuerpflichtigen erst einmal an. Wenn man sich dann duzt und verbrüdert, gibt es immer einen Weg, sich zu verständigen.
Was die Steuereinnahmen eher nach unten drückt. Edmond About:
Deshalb stellten die Finanzminister bis 1846 immer zwei Einnahme-Budgets auf. Das eine, das amtliche Budget, verzeichnete die Summen, die die Regierung im Jahr einnehmen sollte und auf die sie einen Rechtsanspruch hatte; das andere, das Verwaltungsbudget, verzeich­nete die Summen, die die Regierung einzunehmen hoffte.
Da haben wir es, dieses andere, dieses leichtlebige und lebensfrohe Griechenland, das auch in unseren Köpfen ist, ebenso wie dasjenige Homers und Platons; das Griechenland von "Zorba dem Griechen" und von Melina Mercouri in "Sonntags nie".



Wie real ist es, dieses Griechenland in unseren Köpfen?

Folgt man dem, was kürzlich für die FAZ Jan Grossarth aus Griechenland berichtete, dann ist es nur allzu real. Er war mit dem Parlamentarischen Staatssekretär im Arbeitsministerium, Hans-Joachim Fuchtel, nach Kastoria gereist, einer Stadt im Nordwesten Griechenlands, nahe der albanischen Grenze. Fuchtel ist Koordinator der sogenannten "Deutsch-Griechischen Versammlung"; eines Projekts so ganz im Geist der historischen Bemühungen Europas um das Ziehkind Griechenland.

Was bezweckt sie, diese "Versammlung"? Grossarth:
Sie soll Bürger, Vereine und Kommunen vernetzen, damit sich diese selbst helfen, nachdem Subventionen und Fördermillionen die Probleme nicht gelöst haben (...) Fuchtel war schon vier Mal in Griechenland. Er merkte schnell, dass es nicht nur an guten Ideen fehlt. Es gibt Widerstand gegen jede Reform.
Fuchtels Reise, mit dem Journalisten Grossarth im Troß, galt diesmal der Rettung eines ökologischen kranken Sees; er hatte auch Fachleute für Gewässer dabei.

In der griechischen Presse kann man, so Grossarth, dazu lesen, Fuchtel sei so etwas wie der Kanzlerin Merkel "Minister für Nordgriechenland"; Amtssitz in Thessaloniki.

Griechenland, das Ziehkind und das Sorgenkind Europas. Wie in ein Entwicklungsland reisen die deutschen Experten dorthin, um den Griechen zu erklären, wie sie mit griechischen Problemen fertig werden können. Und sie scheinen sich ja auch selbst als das Mündel zu sehen, die Ziehkinder. Grossarth:
Der Reiseunternehmer Nikolaos Tsinas (...) sagt, er halte viel von der Deutsch-Griechischen Versammlung; irgendetwas müsse man tun. Denn die Griechen seien von Brüssel zehn Jahre wie in ein Aquarium gesetzt worden, in dem sie nur den Mund hätten öffnen müssen, und schon sei ihnen ein Fisch hinein geschwommen. Jetzt schwimme plötzlich kein Fisch mehr im Wasser, die Leute merkten, dass alles eine Illusion gewesen sei und bekämen Panik: "Sie haben ja nie gelernt zu angeln."



Sehen sich alle Griechen so, sehen alle ihr Land so? Natürlich nicht. In "Zeit-Online" hat Andreas Koutsopoulos, ein derzeit in Deutschland lebender Grieche, ein ganz anderes Bild seines Landes gezeichnet. Aus seiner Sicht besteht das Griechen­land in unseren Köpfen aus "Mythen", fern der Realität des Landes.

Die Griechen hätten, beispielsweise, gar nicht über ihre Verhältnisse gelebt:
Fast nie wurde über Fakten gesprochen, zum Beispiel über das Durchschnittsgehalt, das schon vor der Krise nur 820 Euro betrug. Dabei sind die Preise von vielen Waren in Griechenland höher als in Deutschland. Die Griechen arbeiten mehr Stunden pro Woche als die Menschen in allen anderen OECD-Staaten und sie gehen im Schnitt später in Rente als die Deutschen (...) Auch die Sozialleistungen in Griechenland sind erbärmlich.
Erstaunlich. Ich habe das nicht nachgeprüft. Jedenfalls paßt es in der Tat nicht zu dem Bild, das unsere Medien verbreiten.

So, wie auch nicht zu diesem Bild paßt, wie Koutsopoulos die Folgen der bisherigen Sparpakete schildert: Ein Abschwung, "wie ihn die Welt in den vergangenen 80 Jahren nicht gesehen hat". Pleiten, Selbstmorde, ja eine Hungerwelle:
Die griechische Bevölkerung verhungert im wahrsten Sinne des Wortes, damit die europäischen Banken gerettet werden. Trotzdem werden die Griechen als faul und undankbar beschimpft.
Stellt da einer die brutale Wahrheit den Illusionen entgegen, die das Griechenland in unseren Köpfen ausmachen? Vielleicht. Eher kommt es mir so vor, daß Koutsopoulos unserer narrative seine eigene narrative, unseren Denkschemata seine eigenen gegenüberstellt. Auch sie Bilder im Kopf.

Er sieht die Griechen als die armen Opfer. Die Frage, wer denn verantwortlich für die Zustände ist, die er schildert, stellt Koutsopoulos nicht. Er argumentiert gegen die Rettung; aber er argumentiert nicht gegen die ja schließlich von den Griechen selbst gewählten Regierungen - sozialistische wie konservative -, deren Politik Griechenland in seine jetzige Situation geführt hat. Er fragt nicht, warum denn die Einkommen so niedrig und die sozialen Verhältnisse so schlecht sind, wie er es schildert. Ja gewiß nicht wegen der Rettungspakete.

Falsches Handeln wirft Koutsopoulos nur den anderen vor, nicht den Griechen selbst. Es ist, als sähe er nur die Staaten der EU als Erwachsene, die man zur Verantwortung ziehen kann, die Griechen aber als unmündig.

So verschieden sind sie also insofern doch gar nicht, das Bild Griechenlands in unseren Köpfen und dasjenige in den Köpfen von Griechen wie Andreas Koutsopoulos.­
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Die Venus von Milo. Foto vom Autor mzopw in die Public Domain gestellt.