30. Oktober 2012

Zitat des Tages: "Ein vor Selbstbewusstsein, wenn nicht Selbstherrlichkeit strotzender türkischer Ministerpräsident". Zu Erdogans Besuch in Berlin

Mit Recep Tayyip Erdogan kommt ein vor Selbstbewusstsein, wenn nicht Selbstherrlichkeit strotzender türkischer Ministerpräsident zu Besuch nach Berlin. (...) Einer der Berater des charismatischen Regierungschefs verkündete kürzlich, die Zeiten, da die Weltpolitik von westlichen Mächten nach deren Maßstäben und Werten bestimmt wurde, seien ein für allemal vorbei. (...) Die Türkei fühlt sich berufen, die dadurch entstandene historische Lücke zu füllen.
Richard Herzinger in "Welt-Online" über den türkischen Ministerpräsidenten, der heute zur Einweihung der neuen türkischen Botschaft nach Berlin kommt.

Kommentar: Es wird Zeit, daß Europa in Bezug auf die Türkei umdenkt; daß gerade auch Deutschland mit seinen zahlreichen Einwanderern aus der Türkei die Veränderungen in dem Land zur Kenntnis nimmt.

Wir hatten uns über die Jahrzehnte an das Bild einer Türkei gewöhnt, deren sehnlichster Wunsch es zu sein schien, als ein Teil Europas anerkannt und in die Gemeinschaft der Europäer aufgenommen zu werden; ein unterentwickeltes Land mit einem Reservoir an Arbeitskräften, von denen viele in Europa ein besseres Leben suchten. Eine Türkei auch, in der dank der Reformen des als Atatürk verehrten Kemal Pascha der Einfluß der Religion geringer war als in anderen Staaten mit moslemischer Bevölkerung; die noch dazu als Nato-Staat fest an der Seite des Westens stand und ein Verbündeter Israels war.

Alles das ist dabei, sich zu ändern oder doch jedenfalls neue Formen anzunehmen. Ich empfehle Ihnen die Lektüre von Herzingers Artikel, der diese neue Türkei treffend schildert.

Unserem Bild von der rückständigen Türkei an der Peripherie Europas hatte die historische Dimension gefehlt; die Erinnerung daran, daß die heutige Türkei ja nur das Kernland eines einstigen Reichs ist, das bis zum Ersten Weltkrieg zu den Großmächten gehört hatte; wenn auch als "Kranker Mann am Bosporus" ähnlich im Niedergang begriffen wie die beiden anderen damaligen Vielvölkerstaaten, das Zarenreich und das Habsburger Reich.

Die Türken haben das nie vergessen. Erdogan knüpft an diese Tradition an. Die Umbrüche in der arabischen Welt haben die Perspektive einer türkischen Vormachtstellung im Nahen Osten eröffnet; so, wie der Zerfall der Sowjetunion dem Land die Möglichkeit gab, traditionelle Verbindungen zu den Turkvölkern in seinem Norden zu reaktivieren.

Aus europäischer Sicht hat das immerhin den Vorteil, daß für eine aufstrebende Großmacht Türkei in der EU kein Platz ist. Das Problem wird zunehmend nicht mehr sein, daß die Türkei nach Europa will, sondern was die Türkei von Europa will. Herzinger:
Die Perspektive eines EU-Beitritts der Türkei wird in dieser Gemengelage immer mehr ad absurdum geführt – zumal die EU derzeit mehr als genug mit sich selbst und ihrem Zusammenhalt beschäftigt ist.

Doch die erstarkende Türkei aus europäischen Angelegenheiten herauszuhalten wird so oder so nicht gelingen. Schon deshalb nicht, weil ihr übermächtiger Ministerpräsident daran festhalten wird, Lippen­bekennt­nisse zur Integration in Westeuropa lebender Türkischstämmiger zu zollen, tatsächlich aber deren großtürkisches Nationalbewusstsein zu schüren.



An den meisten deutschen Medien ist diese Entwicklung lange Zeit vorbeigegangen. Man befaßte sich mit der Gespensterdebatte, ob die Türkei "reif" für eine Aufnahme in die EU sei; man grübelte darüber nach, ob Erdogan wohl noch immer ein Islamist sei oder jetzt zum Demokraten geläutert. Die sich wandelnde machtpolitische Konstellation wurde kaum zur Kenntnis genommen.

In diesem Blog konnten Sie erstmals vor fast vier Jahren darüber einen längeren Artikel lesen:
  • "Es ist unvermeidlich, daß die Macht der Türkei wächst". Erdogans Ausbruch in Davos. Dessen Hintergrund, analysiert von Stratfor-Chef George Friedman; ZR vom 3. 2. 2009
  • Seither habe ich kontinuierlich über dieses Thema berichtet:
  • Zitat des Tages: "Diese Region hat das Potential, die Welt zu gestalten". Erdoğan über die imperialen Pläne der Türkei; ZR vom 13. 1. 2011

  • Aufruhr in Arabien (20): Israel zwischen der Machtpolitik der Türkei und einem instabilen Ägypten; ZR vom 15. 9. 2011

  • Zitat des Tages: "Die Türkei ist so einflußreich wie die ganze EU zusammen". Abdullah Gül zeigt keine falsche Bescheidenheit; ZR vom 19. 9. 2011

  • Ahmet Davutoğlus Ideologie und die aufstrebende islamistische Großmacht Türkei; ZR vom 6. 12. 2011

  • "Die Türkei ist auf dem Weg zur Großmacht". George Friedman über die Neuorientierung der Türkei; ZR vom 22. 4. 2012

  • Aufruhr in Arabien (29): Im Machtspiel des Nahen Ostens beginnt mit der Wahl Morsis eine weitere Runde. Eine neue strategische Option für Erdogan; ZR vom 27. 6. 2012
  • Über alle seine machtpolitischen Pläne im Nahen Osten wird aber Erdogan Deutschland mit seinen - wie er es sieht - 2,5 Millionen Landsleuten nicht vernachlässigen. Die neue Botschaft an der Tiergartenstraße, die er jetzt einweiht, gilt als das weltweit größte Bauprojekt der Türkei im Ausland und die größte türkische Vertretung in irgendeinem Land der Welt.
    Zettel



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