17. November 2012

Deutschland im Öko-Würgegriff (36): Vervespert. Wie wir unsere Zukunft verspielen

Am vergangenen Donnerstag und Freitag gab es in Hamburg und Kiel zwei Auftritte, in denen es um Energie und Umwelt ging.

Spät am Donnerstag Abend hielt der EU Kommissar für Energie Günther Oettinger einen Vortrag vor Unternehmern auf einer Versammlung des Wirtschaftsrats der CDU/CSU. Am Freitag teilte in Kiel die hessische Umweltministerin Lucia Puttrich das Ergebnis zweitägiger Beratungen der Umwelt­minister­konferenz mit. Wie aus der betreffenden dpa-Meldung hervorgeht, hat man sich zwei Tage lang offenbar hauptsächlich mit der Zukunft der deutschen Erdgas­förderung befaßt:
Die Umweltministerkonferenz lehnt das umstrittene Fracking-Verfahren zur Erdgas-Gewinnung ab, "solange die Risiken nicht geklärt sind". (...) "Eine Genehmigung dieser Art der Erdgasgewinnung ist derzeit nicht verantwortbar", sagte Puttrich.
Auf das Zusammentreffen dieser Erklärung mit dem Vortrag Oettingers hat gestern in "Welt-Online" Ulrich Exner aufmerksam gemacht. Er berichtet über die folgende Äußerung Oettingers:
Deutschland "vervespere" derzeit einen Teil seines Wohlstands. Mit der Energiewende ebenso wie mit den Auseinandersetzungen um Stuttgart 21, den Verzicht auf neue Landebahnen für die Flughäfen Frankfurt und München. Durch Gerichtsbeschlüsse, die die Vertiefung der Elbe verzögerten. Und durch die ablehnende Haltung zum Abbau von Schiefergas durch das "Fracking".
Das Fracking - der Abbau von Erdgas und auch Erdöl in Schiefergestein mittels eines hydraulischen Verfahrens - ist eine Technik, mit der sich in großem Umfang Erdgas aus bisher nicht erschlossenen Vorräten gewinnen läßt. In den USA hat es bereits zu einem Boom der Erdgasförderung mit einem drastischen Preisrückgang geführt; eine ähnliche Entwicklung beim Erdöl steht dort bevor ("Ein außerordentliches Wachstum bei der Erzeugung von Erdöl und Erdgas in den USA". Reindustriealisierung der USA. Deindustriealisierung Deutschlands?; ZR vom 13. 11. 2012).

Auch in Deutschland könnte Fracking in großem Umfang zur Gewinnung von Erdgas eingesetzt werden (Die deutschen Erdgasvorräte sind zehnmal so groß wie bisher angenommen; ZR vom 27. 6. 2012).

Aber ob das passiert oder nicht, darüber entscheidet in diesem Land nicht die Industrie, die am besten beurteilen kann, ob ein solcher Abbau rentabel wäre.

Und auf der Regierungsseite ist in diesem Land nicht, wie überall sonst auf der Welt, das Wirtschafts- oder ein Energieministerium zuständig; sondern hier liegt die faktische Kompetenz für Energiepolitik weitgehend bei den Umwelt­ministerien.



"Deutschland schafft sich ab" hieß das erste Buch von Thilo Sarrazin; Untertitel: "Wie wir unsere Zukunft verspielen". Oettinger spricht von einem "Vervespern" eines Teils des deutschen Wohlstands; also - wenn ich die Metapher richtig deute - davon, daß wir an diesem Wohlstand nicht nur knabbern, sondern kräftige Stücke von ihm abbeißen.

Sarrazin hat bei seiner Analyse vor allem den gesellschaftlichen Wandel in den Blick genommen; die ungünstige demographische Entwicklung, die sich verschlech­ternde Bildung und Ausbildung.

Zu dem "Verspielen unserer Zukunft", das er befürchtet, gehört aber ebenso die Ideologisierung immer breiterer Bereiche von Gesellschaft und Politik.

Die Stromversorgung ist in diesem Land bereits wesentlich der Umweltpolitik untergeordnet; der Umwelt- und nicht der Wirtschaftsminister wird als federführend bei der "Energiewende" betrachtet. Jetzt wird die Entscheidung über Fracking der Umweltpolitik untergeordnet werden.

Alles, was Oettinger sonst noch aufführt - Stuttgart 21, der Verzicht auf neue Landebahnen, die Verzögerung der Vertiefung der Elbe - folgt dem selben Muster: Nicht wirtschaftliche, nicht technische, nicht verkehrspolitische Vernunft entscheidet, sondern über dem allen steht als das regulierende Prinzip der Schutz der Umwelt. (Und wenn es einmal nicht die Umwelt ist, die es zu schützen gilt, dann ist es die Gesundheit; siehe als jüngstes Beispiel Tempo 30 - Mal wieder das Spiel über die Bande; ZR vom 15. 11. 2012).

In Deutschland werden wie in kaum einem anderen Land der Welt Entscheidungen immer weniger unter den üblichen Gesichtspunkten getroffen, was rentabel ist, was der wirtschaftlichen Entwicklung dient, den Wohlstand fördert, die Zukunft des Landes sichert. Das tritt zurück hinter den Schutz der Umwelt.

Wenn das Denken und Entscheiden einer Gesellschaft von einem einzigen, derart dominanten übergeordneten Gesichtspunkt beherrscht wird, der alle Bereiche durchdringt, dann ist diese Gesellschaft ideologisiert.

Ideologisierung ist nicht nur ein Phänomen auf der Ebene dessen, was Marx den "Überbau" genannt hat - eine Gängelung des Denkens. Sie ist im Zeitalter der Globalisierung auch ein massiver Nachteil im Wettbewerb mit den anderen Ländern, die rational entscheiden.

Wenn Deutschland aus der Atomenergie "aussteigt", wenn es darauf verzichtet, wichtige Flughäfen auszubauen und sich auf die Zeit der großen Containerschiffe einzustellen; wenn es teures Erdgas aus Rußland importiert, statt die eigenen Vorkommen auszubeuten - dann kann das alles der Welt herzlich egal sein. Den Nachteil wird allein Deutschland haben.

Der eine mehrt eben seinen Wohlstand, der andere verfrühstückt oder vervespert ihn. Kein anderes Industrieland wird bis Mitte des Jahrhunderts derart wirtschaftlich zurückfallen wie Deutschland, ergab eine aktuelle Untersuchung der OECD.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen bisherigen Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Schiffe sinken im Sturm. Gemälde von Ludolf Backhuysen (ca 1630).