14. November 2012

Marginalie: "Die Intellektuellen haben nur gejammert". Vor zehn Jahren kam Erdogan an die Macht

Im Wall Street Journal hat gestern der Nahost-Experte Daniel Pipes einen Artikel zur Entwicklung der Türkei im vergangenen Jahrzehnt publiziert, den man vollständig auf seiner WebSite lesen kann.

Pipes, Präsident des Middle East Forum, ist ein amerikanischer Arabist und Islamwissenschaftler, der an verschiedenen Universitäten gelehrt hat und gegenwärtig Visiting Fellow in Stanford ist. Er ist ein Konservativer, der aus einer profunden Kenntnis des Islam heraus die Entwicklung in den islamischen Ländern kritisch analysiert.

In dem Artikel macht Pipes darauf aufmerksam, daß die grundlegende Umgestaltung der Türkei seit dem Wahlsieg Erdogans am 3. November 2002 im Westen noch immer kaum zur Kenntnis genommen wird. Damals verließ das Land den Weg, den es seit Kemal Pascha ("Atatürk") eingeschlagen hatte.



Vorausgegangen war - so Pipes - ein Jahrzehnt politischer Ineffizienz mit einem Wechsel zwischen schwachen Regierungen der linken und der rechten Mitte; mit Skandalen, die beispielsweise Verbindungen der Regierung mit der Mafia enthüllten; mit einem Militärputsch gegen den ersten gewählten islamistischen Premier Necmettin Erbakan; mit der Unfähigkeit der damaligen Regierung beim Erdbeben von 1999.

Das alles führte zum Aufstieg der alternativen Partei AKP, die man weniger wegen ihres Islamismus als wegen ihrer Unabhängigkeit vom politischen Establishment wählte. Das türkische Wahlrecht, das eine 10-Prozent-Klausel hatte, verhalf der AKP 2002 mit nur 34 Prozent der Stimmen zu 66 Prozent der Mandate.

In den folgenden Wahlen konnte die AKP ihren Stimmenanteil stetig steigern - 47 Prozent 2007; 50 Prozent 2011. Die Grundlage dafür war, daß es Erdogan gelang , ein Wirtschaftswachstum chinesischen Ausmaßes in Gang zu setzen. Er schaffte es auf dem Hintergrund seiner dadurch erlangten Popularität, das Militär kaltzustellen, das seit Atatürk über die säkulare Verfassung gewacht hatte.

Die Gegenwehr der säkular und westlich orientierten Kräfte war und ist schwach, schreibt Pipes:
The almost complete collapse of anti-Islamist forces—Atatürkist, socialist, Westernizing, military and other—is the most surprising development of the past decade. Opposition leaders did little more than say "no" to AKP initiatives, offering few positive programs and often adopting positions even worse than those of the AKP (such as promoting pro-Damascus and pro-Tehran policies). Likewise, intellectuals, journalists, artists and activists carped and complained but failed to propose an alternative, non-Islamist vision.

Das fast vollständige Zusammenbrechen der antiislamistischen Kräfte - Atatürkisten, Sozialisten, westlich Orientierte, das Miltitär und andere - ist die überraschendste Entwicklung des vergangenen Jahrzehnts. Die Führer der Opposition haben sich damit begnügt, zu den Maßnahmen der AKP nein zu sagen. Sie haben kaum positive Programme geboten und haben oft noch schlimmere Positionen als diejenigen der AKP eingenommen (beispielsweise das Eintreten für eine Pro-Damaskus- und Pro-Teheran-Politik). Und so nörgelten und jammerten Intellektuelle, Journalisten, Künstler und Aktivisten; aber sie konnten keine alternative, nichtislamistische Perspektive entwickeln.
Aber Erdogan könnte es übertreiben, meint Daniel Pipes. Er sei dabei, zu weit zu gehen - in der Außenpolitik, bei der Staatsverschuldung, bei der Durchsetzung der Scharia, beim Vorgehen gegen Militärs.

Was wird Erdogan tun, wenn er bei Wahlen unterliegt? Pipes bescheinigt ihm eine "proto-diktatorische Mentalität". Er zitiert Erdogans bekannte Aussage: Die Demokratie ist wie eine Straßenbahn. Wenn man die Haltestelle erreicht hat, steigt man aus.

Bei der nächsten Krise könnte Erdogan aussteigen. Der Westen solle endlich von der Vorstellung Abschied nehmen, die Türkei sei noch das Land Atatürks, resümiert Professor Pipes.



Soweit ich - vor allem aufgrund der Analysen von Stratfor - die Lage in der Türkei beurteilen kann, erscheint mir die Wertung von Pipes realistisch. Die Vorstellung, dieses Land könne Mitglied der EU werden, ist nachgerade absurd. Ebenso könnte man erwägen, Weißrußland in die EU aufzunehmen.

Auch Pipes anerkennt die beeindruckenden Erfolge Erdogans. Er ist in der Tat ein großer und ein skrupelloser Staatsmann, vergleichbar Putin.

Solche entschlossenen Machtpolitiker bringen Demokratien nur selten hervor. Es sind Menschen, die im Grunde nicht in eine Demokratie passen.

Wahlen bringen sie nach oben. Sie wissen es im allgemeinen zu verhindern, daß sie nach Wahlen die Macht abgeben müssen.
Zettel



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