15. November 2012

Marginalie: Tempo 30 - Mal wieder das Spiel über die Bande

Wieder einmal findet das bekannte Spiel über die Bande statt: Was Öko-Bewegte auf nationaler Ebene nicht erreichen können, das versuchen sie über die EU. Per EU-Direktive kommt es dann zurück auf die nationale Ebene. Diesmal geht es um Tempo 30 in allen Städten.

Nachdem sich die Einrichtung von "Umweltzonen" zwecks Verringerung von Feinstaub weitgehend als Schlag ins Wasser erwiesen hat, ist jetzt Tempo 30 die neue Schraube, an der man gern drehen möchte, um den Leuten das Autofahren zu vermiesen, am besten ganz zu vergällen.

Wäre Renate Künast bei den letzten Wahlen in Berlin, wie sie das eine Zeitlang hatte hoffen dürfen, Regierende Bürgermeisterin geworden, dann hätte Tempo 30, flächen­deckend, Berlin wahrscheinlich bevorgestanden (Deutschland im Öko-Würgegriff (24): In Berlin pulsiert demnächst das Leben mit Tempo 30. Falls die Sozialarbeiterin die Regierende wird; ZR vom 24. 11. 2010).

Daraus ist damals erst einmal nichts geworden. Den Berlinern, die dafür bekannt sind, daß sie Trödeln im Verkehr hassen ("Nu mach ma, jriener wird's nüsch"), blieb es erspart, in dieser Hinsicht Vorreiter zu werden; oder sagen wir besser: Vorschleicher.

Aber das Spiel über die Bande könnte funktionieren. Das "Handelsblatt" beispielsweise schreibt heute in seiner Online-Ausgabe:
Bei vielen Menschen in der Autofahrer-Nation Deutschland dürften sich bei diesem Vorschlag die Nackenhaare aufstellen: Statt 50 könnte in der Stadt bald 30 gefahren werden. (...) Die EU-Kommission hat ein von der Europäischen Bürgerinitiative "30 km/h macht die Straßen lebenswert!" angeführtes Bürgerbegehren nun offiziell zugelassen.
Die Initiative sammelt jetzt Unterschriften:
Sie beabsichtigt nun innerhalb eines Jahres, eine Million Unterstützungserklärungen für das Tempo-30-Begehren aus sieben oder mehr Mitgliedsländern der EU zu sammeln.

Dann kann die Europäische Bürgerinitiative nach ihren Angaben direkten Einfluss auf die Gesetzgebung der EU nehmen.
Mit vermutlich einer Direktive ("Richtlinie"), die dann in nationales Recht umgesetzt werden müßte.



Die flankierenden Maßnahmen der Medien sind bereits angelaufen. Das ZDF hatte das Thema, ebenso die "Tagesschau". Und natürlich beteiligt sich auch "Zeit-Online". Der heute erschienene Artikel von Matthias Breitinger läßt, wie anders, deutlich Sympathie für die Initiative erkennen; auch wenn die Argumente der Gegner von Tempo 30 nicht ganz verschwiegen werden.

Bei den Argumenten der Befürworter, die der Artikel ausführlich würdigt, fällt ein seltsamer Widerspruch auf. Zum einen nämlich schreibt Breitinger, bezogen auf solche Tempobegrenzungen in einigen britischen Städten:
Zu welchen Erkenntnissen gelangten die britischen Städte? Ramsauers Klagen über zähen Verkehrsfluss lassen sich danach jedenfalls nicht halten. Auch großflächige Tempo-30-Bereiche verlängern die durch­schnitt­lichen Fahrzeiten nur um 40 Sekunden. Gemeinsames Langsam­fahren verbessert den Verkehrs­fluss, zeigen Untersuchungen des britischen Verkehrs­minis­teriums.
Nun gut, nehmen wir einmal an, das stimmt. Dann kann man ja beruhigt weiter Auto fahren. Aber später in dem Artikel heißt es:
Ein niedrigeres Tempolimit macht Radfahren und zu Fuß Gehen attraktiver. In Bristols Tempo-20-Bezirken wurden 20 Prozent mehr Strecken mit dem Fahrrad zurückgelegt und 23 Prozent mehr zu Fuß.
Ja warum denn wohl, wenn man mit Tempo 30 per Auto fast genauso schnell ans Ziel kommt wie beim bisherigen Tempo 50?

Tempo 20 in Meilen entspricht ungefähr Tempo 30 in Kilometern. Die entsprechende Initiative in England heißt folglich 20's Plenty, "20 ist genug". Und wie erklären sich die Leute von 20's Plenty, daß so viele Menschen bei Tempo 20 aufs Rad umsteigen oder lieber gleich zu Fuß gehen, wo man doch mit dem Auto vorgeblich fast genauso schnell ans Ziel kommt wie ohne diese Begrenzung? Breitinger:
Das Tempolimit nehme vielen Bürgern die Angst, als Radfahrer oder Fußgänger gegen die Autos zu bestehen, folgert Semlyen von 20's Plenty.
Die armen Hascherl, die zuvor hatten Auto fahren müssen, weil sie gegen die Autos als Radfahrer oder Fußgänger nicht hätten bestehen können.

Rührend. Die naheliegende Erklärung, daß die Leute lieber zu Fuß gehen oder das Fahrrad nehmen, weil sie mit dem Auto auch nicht mehr schneller vorankommen, darf ja nicht stimmen.
Zettel



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