17. Dezember 2012

Referendum in Ägypten: Woher kommen die "Ja"-Stimmen? Nicht unbedingt von den Religiösen. Geringe Wahlbeteiligung. Eine Bevölkerung, die Stabilität will

Erstaunlich schnell konnte die Online-Ausgabe der ägyptischen Zeitung Al Ahram bereits in der Nacht zum gestrigen Sonntag das Ergebnis des ersten Teils der Abstimmung melden.

Sie konnten diese Zahlen gestern in ZR lesen. Al Ahram nennt sie unverändert in seiner aktuellen Berichterstattung: 56,5 Prozent "Ja"-Stimmen und 43,5 Prozent "Nein"-Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von nur 33 Prozent. (Zu einer Diskrepanz bei der Berechnung der Wahlbeteiligung siehe diese Anmerkung in Zettels kleinem Zimmer).

Wer sind diese 4,6 Millionen, die mit "Ja" gestimmt haben? Die Antwort "Die Anhänger Morsis und der Moslembrüder" wäre zu einfach. Das zeigen zwei Berichte, einer in Al Ahram und einer in Egypt Independent. Journalisten beider Blätter haben am Samstag die vor den Wahllokalen Schlange Stehenden nach ihren Motiven gefragt, mit "Ja" oder mit "Nein" zu stimmen.

Egypt Independent berichtet aus dem Gouvernement Assiut; Sie finden es auf der Karte in meinen gestrigen Artikel ungefähr in der Mitte als "Asyut" (für eine vergrößerte Ansicht bitte zweimal auf die Karte klicken). Das ist eine dicht bevölkerte, ländliche und touristische Gegend im Niltal.

76 Prozent haben in diesem Gouvernement mit "Ja" gestimmt. Ist dies also eine Hochburg der Moslembrüder? Keineswegs.

Zum einen haben von 2.127.688 Wahlberechtigten nur 590.675 abgestimmt; das sind 27,8 Prozent. Mit "Ja" gestimmt haben 449.431 Personen; das sind gerade einmal 21,1 Prozent der Wahlberechtigten. Nur gut jeder fünfte Wahlberechtigte hat also diesem Verfassungsentwurf der Moslembrüder seine Zustimmung gegeben. Eine Hochburg dieser Bewegung sähe anders aus.

Und warum haben diese 21 Prozent für die Verfassung gestimmt? Noch bei der Präsidentschaftswahl im Frühsommer hatte in Assiut im ersten Wahlgang Ahmed Shafiq die meisten Stimmen erhalten, der letzte Premierminister Mubaraks. In der Stichwahl gewann dann dort aber Morsi mit 60 Prozent.

Was die Reporter von Egypt Independent immer wieder von den Wartenden hörten, das war das Wort "Stabilität".

Die Moslembruderschaft hat unter diesem Schlagwort Wahlkampf gemacht. Viele derer, die sagten, sie würden mit "Ja" stimmen, nannten als Begründung, daß sie sich ein Ende der Unruhen und der Gewalt erhofften; auch bessere Lebensbedingungen. Man erwartet von Morsi, daß er vor allem etwas für die Bauern und die Arbeiter tun wird.

Die Opposition, in der sich demokratisch orientierte Kräfte und Nasseristen vereint haben, wird dagegen als eine abgehobene Elite gesehen; das seien Egoisten, die ihre eigenen Interessen über diejenigen der Masse der Bevölkerung stellen würden.

Egypt Independent zitiert zahlreiche Wähler. Keiner von denen, die angaben, mit "Ja" zu stimmen, erwähnte auch nur die Religion.

Natürlich ist eine solche Befragung nicht repräsentativ. Aber Egypt Independent (in der arabischen Hauptausgabe Al-masry Al-youm) ist eine der seriösesten ägyptischen Zeitungen, der FAZ oder der "Welt" vergleichbar (für Näheres zu ihr siehe Folterung von Gefangenen durch die ägyptische Polizei und Moslembrüder?; ZR vom 7. 12. 2012). Man darf annehmen, daß die Stimmen, die in dem Artikel zitiert werden, das repräsentieren, was die Reporter insgesamt gehört haben.



Der Bericht in Al Ahram bestätigt das Bild, daß die mit "Ja" Stimmenden zu jedenfalls einem erheblichen Teil soziale und nicht religiöse Motive hatten.

Die Reporter dieser Zeitung befragten Wählende in Kairo. Am Anfang des Artikels wird der Taxifahrer Karim zitiert. Er fährt Taxi, weil er als junger Mann mit abgeschlossenem BWL-Studium keinen Job findet.

Karim hat bei der Präsidentschaftswahl sowohl im ersten als auch im zweiten Wahlgang für den Mubarak-Mann Shafiq gestimmt. Von der Revolution hatte er nichts gehalten. Jetzt hat er mit "Ja" gestimmt.

Er habe die Revolution gehaßt, sagte Karim, weil sie nur Unruhe brachte. Er hat mit "Ja" gestimmt, ohne sich aber um die Debatte zur Verfassung zu kümmern; gelesen hat er deren Text auch nicht. Mit seinem Votum will er Morsi eine Chance geben, "die Dinge in Ordnung zu bringen".

Das hörten die Reporter von Al Ahram immer wieder. Andererseits haben viele mit "Nein" gestimmt oder gar nicht gewählt, weil sie sich von Morsi keine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse erwarten.

Al Ahram zitiert ausführlich den Busfahrer Kadri, der für die Revolution gegen Mubarak gewesen war, weil er sich von einer Änderung der Verhältnisse ein besseres Leben versprach. Nichts davon sei eintreten. Alle Politiker hätten nur ihre eigenen Interessen im Auge. Jetzt ist Kardi gar nicht zur Abstimmung gegangen.



Eine zunehmend unzufriedene Bevölkerung, die aber ihre Unzufriedenheit nicht mehr durch Demonstrationen ausdrückt, sondern durch resigniertes Nichtwählen; dazu die Hoffnung, daß nach der Annahme der Verfassung wenigstens Ruhe und Ordnung einkehren werden - das ist die Lage, die diese beiden Berichte erkennen lassen. Ein müdes, enttäuschtes Volk, das genug hat von der Revoluzzerei.

Spielt also die Religion überhaupt keinen Rolle? Gewiß ist sie für eine Minderheit religiöser Eiferer von Bedeutung. Und mancher sieht auch einen Zusammenhang zwischen Religion und Stabilität.

Der taxifahrende Betriebswirt Karim, der den säkularen Kandidaten Shafiq gewählt hatte, begann sich nach der Wahl Morsis mehr für Religion zu interessieren. Vielleicht sei ja diese Wahl ein Fingerzeig Allahs gewesen, meint er. Karim hört jetzt keine Pop-Musik mehr, sondern folgt Lesungen aus dem Koran.
Zettel



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