23. März 2013

Feu tricolore (2): Wenn zwei Verfassungsorgane dem Präsidenten auf die Finger klopfen


Die Einführung einer "Reichensteuer" für Arbeitseinkommen ab 1 Million Euro war die Erfüllung eines vielbeachteten Wahlkampfversprechen François Hollandes. Wie auch hierzulande ausführlich berichtet, hat diese fiskalische Neuregelung mit dem einigermaßen euphemistischen Titel Contribution exceptionnelle de solidarité („Solidaritätsbeitrag mit Ausnahmecharakter“) den Schauspieler Gérard Depardieu in die offenen Arme des russischen Präsidenten Wladimir Putin getrieben.
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Dass sich der Groll des Mimen über die exzessive pekuniäre Inanspruchnahme durchaus juristisch untermauern lässt, zeigte eine Entscheidung des Conseil constitutionnel, des Verfassungsrates, vom 29. Dezember letzten Jahres (hier die Pressemitteilung): Darin wurde der den besagten „Solidaritätsbeitrag“ festlegende Artikel 12 der Loi de finances pour 2013 aufgehoben, allerdings nicht wegen des erklecklichen Steuersatzes, sondern weil er entgegen den Prinzipien des französischen Einkommensteuerrechts nicht pro Haushalt, sondern pro natürliche Person erhoben werden sollte; hierin erblickte der Verfassungsrat einen Verstoß gegen die égalité devant les charges publiques, die Gleichheit vor den öffentlichen Abgaben. Denn zwei Ehepartner mit Arbeitseinkünften von jeweils etwas weniger als einer Million Euro wären nicht unter die Regelung gefallen, im Gegensatz zum oder zur Familienalleinernährenden mit einem knapp über der genannten Schwelle liegenden Erwerbseinkommen.

Zum anderen und zunächst einmal unabhängig von dieser Frage erachtete das Höchstgericht in demselben Erkenntnis den Steuersatz von 75 % bei einer insbesondere auf leitende Angestellte zugeschnittenen betrieblichen Zusatzrente (umgangssprachlich retraite chapeau, also „Hutrente“ genannt) als übermäßig; dagegen ließen les Sages („die Weisen“, so die in den Medien häufig verwendete Bezeichnung der Verfassungsrichter) den für diese Einkünfte zuvor geltenden Satz von 68 % unbeanstandet.

  
Um allen diesen konstitutionellen Vorgaben zu entsprechen und dennoch das fiskalische Vorzeigeprojekt verwirklichen zu können, wandte sich die Regierung hinsichtlich der Zukunft der "Reichensteuer" an den Conseil d’État (Staatsrat). Diese für den deutschen Betrachter äußerst ungewöhnliche Institution berät einerseits die Regierung bei der Erarbeitung von Gesetzesvorlagen, erfüllt aber zugleich die Aufgaben eines obersten Verwaltungsgerichts.

Die Vollversammlung des Staatsrates hat nun am Donnerstagnachmittag ihre Empfehlungen für das weitere Schicksal des "Solidaritätsbeitrages" beschlossen. Das Gutachten des Gremiums stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar (und kann auf den Seiten 2 bis 6 einer seit gestern vorliegenden Pressemitteilung des Wirtschafts- und Finanzministeriums nachgelesen werden):
  • Beschränkung des maximalen Grenzsteuersatzes auf 66,66 % (statt - wie im aufgehobenen Gesetz - 75 %), und zwar nicht nur für Erwerbseinkünfte, sondern für das gesamte Einkommen, damit die Abgabenlast nicht einen verfassungswidrigen caractère confiscatoire, also Enteignungscharakter, annehme. Der impôt de solidarité sur la fortune („Solidaritätsvermögenssteuer“) gelte dabei nicht als Abgabe vom Einkommen, weil er sich vom Kapital selbst und nicht von dessen Erträgen bemesse.
  • Erhebung des „Solidaritätsbeitrages“ nicht beim Empfänger der steuerpflichtigen Einkünfte, sondern (zumindest im Falle von Arbeitnehmern) per Abzug an der Quelle; das heißt, dass etwa Unternehmen die Abgabe für Rechnung ihrer Top-Manager direkt ans Finanzamt abführen müssten. Damit soll der von der Regierung gewünschte Individualbesteuerungseffekt erhalten bleiben und - was dem Verfasser dieser Zeilen ziemlich fragwürdig erscheint - zugleich das vom Conseil constitutionnel gerügte Problem der Ungleichbehandlung von mono- und biaktiven Paaren (so der französische Juristenjargon) umschifft werden. Jedenfalls würde die Gestaltung des "Solidaritätsbeitrages" als Abzugssteuer dessen ideologische Symbolkraft schmälern, die sich insbesondere daraus nährte, dass wohlhabende Bürger unmittelbar zur Kasse gebeten worden wären.
Folgen Regierung und Parlament diesen Anregungen (wozu sie nicht verpflichtet sind), entwickelt sich Frankreich natürlich nicht zur Steueroase. Signalwert hat jedoch die Feststellung des Staatsrates, dass es eine unter dem ursprünglich geplanten Spitzensteuersatz liegende Schmerzgrenze des fiskalischen Zugriffs gebe, die im Hinblick auf die erwähnte Entscheidung des Conseil constitutionnel nicht überschritten werden dürfe. Einhellige Meinung ist diese naheliegende Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in den höchsten Kreisen der Republik nämlich nicht. Der Co-Vorsitzende des Parti de gauche (zu Deutsch: "Linkspartei"), Jean-Luc Mélenchon, sprach schon bei Bekanntwerden der ersten Gerüchte vielmehr von einem „schlechten Scherz“ (mauvaise plaisanterie) des Conseil d’État und wetterte gegen den Begriff eines niveau confiscatoire, der
une invention de bourgeois et de la propagande de droite
sei, also

eine Erfindung der Bourgeoisie und der rechten Propaganda.

Die budgetär letztlich unbedeutende Maßnahme – der Einnahmenmehrbetrag hätte in der ursprünglichen Fassung jährlich nur etwa 210 Millionen Euro ausgemacht – würde durch die Vorschläge des Staatsrates also einen gewissen Teil ihres klassenkämpferischen Appeals einbüßen. Dieser bestand ja vor allem darin, dass eine Mehrheit der Bürger einer Minderheit – im vermeintlichen Namen der Gerechtigkeit, aber ohne Rücksicht auf die Eigentumsgarantie und ohne Maß und Ziel – in die Tasche gegriffen hätte.

Trotz allem bleibt die Hollande’sche "Reichensteuer" auch in ihrer wahrscheinlichen neuen Gewandung ein Akt der ökonomischen Selbstschädigung. Auf den Punkt bringt dies der Vorsitzende des Finanzausschusses der Nationalversammlung, Gilles Carrez, Abgeordneter der konservativen UMP:
Pour une centaine de millions d'euros de recettes espérée, on risque de perdre dix, vingt fois plus à cause des délocalisations pour raisons de fiscalité française confiscatoire. 
Wegen circa 100 Millionen Euro an erhofften Einnahmen drohen aufgrund der [Unternehmens- und Vermögens-]Verlagerungen infolge des enteignerischen französischen Steuerwesens Verluste in Höhe des Zehn-, Zwanzigfachen.
Man darf gespannt sein, ob und gegebenenfalls wie in Berlin und Karlsruhe von den Vorgängen im großen Nachbarland Notiz genommen wird.
 
Noricus


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