9. Mai 2013

Meckerecke: Die Schuldvermutung

­ Durch die Befangenheitsanträge der Verteidigung ist eine Zwangspause eingekehrt - nicht nur für die NSU-Prozessbeteiligten, sondern auch für die Medien. Diese haben sich nach nur einem Prozesstag neben den Geschehnissen im und vor dem Gerichtssaal vor allem für das Privat- und Seelenleben und auch für die äußere Erscheinung der Angeklagten interessiert und sich dabei mit Spekulationen gegenseitig übertroffen.


Die Medien - so erfuhr man rund um die Verfassungsbeschwerde eines nicht ausgelosten Journalisten - leiten ihre wichtige Rolle direkt aus Artikel fünf des Grundgesetzes, in dem festgelegt wird, dass die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film zu gewährleisten sind, ab. Dies ist eine der tragenden Säulen des demokratischen Rechtsstaats.

Eine weitere tragende Säule ist die Unschuldsvermutung. Jeder Angeklagte hat bis zu einem Schuldspruch als unschuldig zu gelten. Das heißt nicht nur, dass die Anklage verpflichtet ist, die Schuld des Angeklagten zu beweisen und nicht umgekehrt der Angeklagte seine Unschuld. Es heißt auch, dass er bis dahin so behandelt werden muss, als sei er unschuldig. Mit den gleichen Ehrenrechten ausgestattet, die ihn vor Straftaten wie Beleidigungen, übler Nachrede etc. schützen, und, natürlich noch fundamentaler, mit der Menschenwürde gemäß Art. 1 GG, die ihm auch nach einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe niemals abzuerkennen ist.

Die deutschen Medien, die sich dem demokratischen Rechtsstaat verpflichtet sehen, bekennen sich in ihren Publizistischen Grundsätzen, vulgo "Pressekodex", zur Unschuldsvermutung:
Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse.
Soweit das Ideal. Wer am ersten Prozesstag auch nur an einem Zeitungskiosk vorbeigegangen ist oder den Fernseher eingeschaltet hat, konnte wahrnehmen, dass es sich dabei tatsächlich nur um Theorie handelt. Denn nicht nur konnte man im Subtext und bisweilen sogar explizit lesen, dass zahlreiche Journalisten die Angeklagte Beate Zschäpe für alles andere als unschuldig halten und sich das sprichwörtlich gewordene mutmaßlich häufig verkniffen haben.

Viel auffälliger war, dass auch die Achtung vor der Menschenwürde von Frau Zschäpe ausgesetzt schien. "Der Teufel hat sich schick gemacht", lautete die gewohnt reißerische BILD-Schlagzeile, und auch andere Medien warfen mit "Nazi-Braut" und ähnlichen Invektiven um sich.

Zudem legten mehrere Autoren - salopp formuliert - geradezu einen Seelenstriptease hinsichtlich ihrer persönlichen Befindlichkeiten aufs journalistische Parkett.

Aus ihrer Emotionalität machen die Journalisten keinen Hehl, sie wird als das Gebot der Stunde wahrgenommen. Die journalistische professionelle Distanz wird über Bord geworfen. Warum? Die Antwort gibt ein richtiggehend ungeheuerliches Zitat der WELT-Autorin Hannelore Crolly.

Crolly ist die WELT-Beauftragte für große Prozesse. Sie hat den Kachelmann-Prozess verfolgt und das Ganze in einem ebenfalls äußerst befindlichkeitsgetriebenen Artikel zusammengefasst. Trotzdem lässt sich der Artikel - wenn auch aus der rückblickend sich als richtig erweisenden Perspektive - als durchaus differenziertes Plädoyer für die Unschuldsvermutung lesen, und sie beschreibt ausführlich, wie sie mit ihren eigenen Vorurteilen während der Wendungen im Prozess umgegangen ist.

Nun ist Frau Crolly wiederum für die WELT in der Causa Zschäpe im Einsatz und schreibt - neben der eingangs schon verlinkten und ziemlich abfällig klingenden Charakterstudie der Angeklagten - einen Artikel über die Rolle von Frauen in Neonazi-Kreisen, der mit folgenden Worten endet:
Die hohe Gewaltbereitschaft von Frauen ist immer noch stark tabuisiert. Beate Zschäpe, dem Gesicht des Terrors, das adrette, nette Mädel abzunehmen, das nur seine beiden Jungs bekochen wollte, würde diesen Irrtum verfestigen. Das wäre ein zweiter und endgültiger Verrat an den Opfern des NSU.
Damit bekennt sie sich nicht nur selbst zu ihrer Vorverurteilung, sie fällt auch das schlimmstmögliche moralische Urteil über alle diejenigen, die die Unschuldsvermutung aufrecht erhalten. Also auch über den Richter, der im Falle eines Freispruchs nicht etwa nach den Gesetzen und seinem Sachverstand handeln und damit den Prinzipien des Rechtsstaats zur Geltung verhelfen würde, sondern sich vom adretten Auftreten der Angeklagten blenden ließe und einen endgültigen Verrat an den Opfern beginge.

Die Stärke des Rechtsstaates zeigt sich darin, dass er eben keine Schauprozesse veranstaltet und die Urteile vor der Beweisaufnahme noch nicht feststehen. Das unterscheidet ihn von dem, was Nazis auf deutschem Boden errichtet haben und Neonazis wieder errichten wollen. Wer der Meinung ist, es den Mordopfern schuldig zu sein, die Unschuldsvermutung auszuhebeln, verlässt rechtsstaatliches Terrain. Bis jetzt hat sich der Vorsitzende Richter Götzl trotz des Medienwirbels um die Platzvergabe als souveräner Vertreter des Rechtsstaates gezeigt, und ich vermute, dass er den Befangenheitsantrag überstehen wird. Gäbe es Befangenheitsanträge gegen Journalisten, Hannelore Crolly und viele ihrer Kollegen hätten keine Chance.
Meister Petz


© Meister Petz. Titelvignette: De Gerechtigheid. Kupferstich von Maarten van Heemskerck (1556, Original im Frankfurter Städel). Gemeinfrei. Für Kommentare bitte hier klicken.