29. Mai 2013

Von letzten Dingen. Und von Vorletzten.

Am vergangenen Sonntag habe ich einen Friedhof besucht. Genauer gesagt die letzte Ruhestätte eines Bekannten. Es war eine sehr schöne Friedhofsanlage, eigentlich mehr ein Park.  Der Ruhe solcher Orte kann ich mich nur schwer entziehen; eine gewisse Entschleunigung innerer Prozesse stellt sich dann bei mir fast automatisch ein. Und manchmal stellt sich dann die Frage nach den letzten (und den vorletzten) Dingen.
Ich habe beruflich bisweilen mit Menschen zu tun, deren zeitliche Lebensperspektive nach vorne hin begrenzt ist. Alte Menschen, kranke Menschen.

Wenn ich diesen Menschen zuhöre, wenn sie über ihr Leben sprechen oder gar Bilanz ziehen, dann fällt mir oft ein Bedauern, manchmal sogar Reue, in ihren Schilderungen auf.

Was aber bedauern Menschen, die nicht mehr lange zu leben haben?

­Bemerkenswert erscheint mir zunächst, was sie im Gegenteil in aller Regel nicht bedauern: sie sagen eigentlich nie "Ich hätte so gerne mehr Zeit bei der Arbeit verbracht". Nie sagen sie "Hätte ich mich bloß öfter mit meiner Frau gestritten." Sie fragen sich nicht "Was sollen bloß die Nachbarn denken, wenn ich demnächst tot bin?".

Wohingegen genau dies oft genug die Sorgen und Themen waren, mit denen man sich "im Leben", als die eigene Endlichkeit noch kein Thema gewesen war, geplagt hatte.

Dagegen formulieren Menschen, die nicht mehr lange zu leben haben, häufig dergleichen wie "Ich hätte so gerne mehr Zeit mit den wenigen wichtigen Menschen in meinem Leben, mit meiner Familie, meinen Freunden, verbracht."
Entweder Sterbende verlieren den Sinn für das wirklich Wichtige im Leben oder wir Nichtsterbende haben ihn noch nicht gefunden, diesen Sinn.

Ach ja, die Sinnfrage. Depressiv erkrankte Menschen stellen sich diese Frage mit selbstquälerischer Beharrlichkeit. Gemeint ist dann meist ein irgendwie "höherer" Sinn, oft auch der Wunsch "Bleibendes", das über den eigenen Tod hinausweist, schaffen zu wollen. Dies nicht geschafft zu haben wird dann zum Kristallisationskern depressiver Grübelei.  Bleibendes zu schaffen ist aber nur sehr  wenigen Menschen vergönnt. Einem Johann Sebastian Bach vielleicht. Oder einem Michelangelo Buonarroti. Letztlich vergehen aber auch deren Werke; am Ende wird buchstäblich alles verflogen sein. 

Das letzte, das dereinst aller Wahrscheinlichkeit nach von uns bleiben wird, sind die Raumsonden Voyager und Pioneer auf ihrem Weg durch die Galaxie, mit ihren Plaketten und Schallplatten, wenn die Erde bereits ein toter, lebensfeindlicher Ort sein wird. Die NASA gibt die Haltbarkeit der "Golden Records" auf den beiden Voyagersonden mit 500 Millionen  Jahren an. Nicht sonderlich lange für kosmische Dimensionen. Seit dem Urknall, der Geburt des Universums, sind immerhin geschätzte 13,7 Milliarden Jahre vergangen. Aktuell haben Voyager 1 und 2, seit 1977 auf ihrer Reise, nicht einmal das Sonnensystem ganz verlassen. Die Wahrscheinlichkeit, daß eine der Sonden jemals von außerirdischen Lebensformen gefunden und die Voyager-Schallplatten abgespielt werden, liegt nur unwesentlich über Null. Am Ende bleibt wohl überhaupt nichts von der Menschheit, nicht einmal Bachs Brandenburgisches Konzert Nr. 2 auf der "Golden Record".

Aber warum sollten wir uns darüber grämen? Haben wir nicht genug damit zu tun, die kurze Lebensspanne diesseitig und anständig zu füllen?

Also was bedauern Kranke und Sterbende denn nun am meisten?

Es sind die Entscheidungen, die sie nicht getroffen haben, weil sie gezögert oder die Konsequenzen gefürchtet haben; weil sie das Risiko gescheut haben. Oder weil sie es immer wieder aufgeschoben haben. So, als wäre dieses Leben nur die Generalprobe, und sie hätten noch ein Zweites, in dem sie endlich alles das tun könnten, was sie jetzt vor sich her schieben oder vermeiden.

"Damals, 1978, da hatte ich die Gelegenheit, mich als Handwerksmeister selbständig zu machen, aber ich zögerte und ließ die Gelegenheit verstreichen, aus Angst es nicht zu schaffen; pleite zu gehen." Der unterlassene Versuch wird bedauert, nicht das eventuelle Scheitern: etwas wie "Hätte ich mich damals bloß nicht selbständig gemacht, fünf Jahre später habe ich Konkurs anmelden müssen" höre ich so gut wie nie von Menschen, die nicht mehr lange zu leben haben; schließlich war das Leben ja doch irgendwie immer weiter gegangen. Tiefschläge werden in aller Regel überstanden, der nagende Zweifel, etwas Wichtiges nicht getan zu haben, endet jedoch nie.
Es ist nicht das Scheitern, das wir dereinst bedauern, sondern der unterlassene Versuch; das Scheuen des Risikos also.

Ich frage mich, ob wir Deutschen uns nicht in einer ähnlichen Situation befinden.  Wie viele technische und wissenschaftliche Neuerungen haben wir in der Vergangenheit verstreichen lassen, aus Angst vor deren Folgen? Da waren die Gentechnik und die Stammzellenforschung. Der Transrapid war am Ende zu teuer. Die Technik des Schnellen Brüters, mit der man das Thema um den Atommüll weitgehend hätte erledigen können. Die Kernenergie überhaupt. Aktuell sorgt man sich um die Folgen von Fracking als Energielieferant der Zukunft und wird wohl auch diese Gelegenheit für eine größere Energieautarkie der Bundesrepublik ungenutzt verstreichen lassen. In Marburg steht eine hochmoderne Ionenkanone zur Krebstherapie ungenutzt herum. Man mag in Deutschland keine Bahnhöfe mehr bauen und ist unfähig, einen Flughafen auch nur ansatzweise rechtzeitig  fertigzustellen. Die German Angst lähmt uns und klebt wie Mehltau auf diesem Land, so scheint es.

Dabei kann es ja tatsächlich schnell vorbei sein mit der Menschheit. Durch kosmische Ereignisse wie einen Meteoriteneinschlag etwa. Oder einen Gammastrahlenblitz.  Oder durch irdische Ereignisse wie dem Ausbruch eines Supervulkans. Oder durch ein mutiertes Hantavirus. Wir leben wie der eingebildete Kranke, der jahrzehntelang fürchtet, an Krebs zu erkranken und dann mit Herzversagen tot vom Fahrrad fällt.

Dies, so in etwa, waren die Gedanken, die ich mir auf jenem berückend schönen Friedhof am vergangenen Sonntag gemacht habe.



Andreas Döding


© Andreas Döding. Titelbild gemeinfrei aus NASA-Bilddatenbank. Künstlerische Darstellung der Voyager-Sonde. Für Kommentare bitte hier klicken.