31. Oktober 2013

Randnotiz: die praktische Vernunft unserer Urahnen. Gastbeitrag von Frank Böhmert

Was zahlreiche rund 3.000 Jahre alte Felsgravuren in Ostanatolien zu bedeuten haben, konnten sich Archäologen lange nicht erklären. Man nahm an, bei den tief eingegrabenen, gerundeten geometrischen Formen, die an insgesamt 17 Orten gefunden wurden, würde es sich um Schriftzeichen oder kultische Schutzsymbole handeln.

Im Jahre 2006 dann kam der türkische Archäologe Erkan Konyar erstmals auf eine ganz andere Idee: Die Urartäer, von denen diese eigentümlichen Felsrillen stammen, hatten bis zum Zusammenbruch ihres Reiches unter dem Ansturm der Assyrer um 600 v.Chr. beständig Abwehrkriege führen müssen – könnte es sein, dass es sich bei den runden Gravuren schlicht um Pressformen für die Räder ihrer Streitwagen gehandelt hat?

Recherchen im größten Kutschenmuseum der Türkei scheinen ihm recht zu geben. Historischen Fachleuten zufolge gab es zwei verschiedene Produktionsweisen für Wagenräder: Repräsentative Gefährte für die Oberschicht wurden von Schreinern in Einzelarbeit gefertigt. Benötigte man aber in kurzer Zeit eine Vielzahl von Wagenrädern, die ruhig schmucklos sein durften, so fertigte man steinerne Pressformen an, in denen das Holz mit kochendem Wasser geschmeidig gemacht und zu passenden Einzelteilen gebogen wurde, die sich anschließend mit Eisenklammern zusammenfügen ließen.

Noch ist nicht bewiesen, dass die Felsgravuren tatsächlich für eine solche Massenfertigung im Altertum getaugt haben könnten; Konyar bereitet gegenwärtig ein entsprechendes ethnoarchäologisches Experiment vor: Er will mit seinem Team vor Ort unter Benutzung der Felsgravuren einen urartäischen Streitwagen nachbauen.

Dennoch lässt sich eines schon jetzt sagen: Wieder einmal ist für etwas, das bislang nur das unverständliche Relikt eines irrationalen Kultes zu sein schien, eine schlichte und gänzlich vernünftige Erklärung gefunden worden.


Dies geschieht, wie gesagt, nicht zum ersten Mal. Und es braucht auch nicht zu verwundern: Frühere Zeitalter sind zwar offensichtlich gewalttätiger gewesen, auch geprägter von Hunger- und Seuchenerfahrungen, doch von solchen sich durchaus auch zu Ritualen verfestigenden Traumatisierungen abgesehen galt es für unsere Urahnen nicht viel anders als für uns, ihre kleinen, handhabbaren Lösungen für alltägliche Probleme zu finden. Dazu braucht es praktische Vernunft und nicht finstere Kulthandlungen, die wir Heutigen wohl allzu oft auf sie projiziert haben.

Mein Aha-Erlebnis in dieser Hinsicht stellte vor bald zwanzig Jahren die Lektüre eines Buches des französischen Höhlenforschers Louis-René Nougier dar, DIE WELT DER HÖHLENMENSCHEN. Nougier beschreibt darin unter anderem die „Verstümmelten Hände von Gargas“, weit über zweihundert sogenannte Handnegative, denen Fingerglieder fehlen – oft gleich mehrere. (Handnegative entstehen, indem man die Hand auf die Felswand auflegt und dann mit Farbe ummalt oder umsprüht.) Jahrzehntelang wurde wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass es sich hierbei um die Dokumentation von grausigen rituellen Verstümmelungen handelte.

Erst Ende der 1960er Jahre kam Ali Sahly, damals Doktorand an der Universität Toulouse, zu einer gänzlich anderen Interpretation: Die Handnegative könnten von Menschen angefertigt worden sein, bei denen Infektionen, etwa nach Erfrierungen, zu einem Verlust von Fingergliedern geführt haben.

Eine gründliche Untersuchung der Verstümmelungen zeigt deutlich, daß die Glieder „abgefallen“ sind und nicht von irgendeinem „hohen Priester“ abgetrennt wurden

schreibt Nougier in seinem Buch,

die vernarbten Wülste gehen über den Rand hinaus und umringen den Stumpf. […]

Eine letzte Bestätigung wurde schließlich durch Abdrücke verstümmelter Finger (vor allem Zeigefinger) im Lehm erbracht, die in einfacher oder doppelter Reihe aufeinander folgten. Die Abgüsse der Hohlräume dieser Abdrücke zeigen, daß es sich um verstümmelte Finger handelt […] Warum wurden die amputierten Finger auf diese Weise senkrecht in den Lehmboden hineingepresst? Warum? Ein weiteres blutiges Ritual? Könnte es sich nicht um eine einfache therapeutische Bewegung, eine Bewegung zur Blutstillung handeln, um die Hand, die eben ein Glied verloren hat, zu beruhigen und zu pflegen, ein Glied, das nach einer Erfrierung höchsten Grades abgefallen ist?

Auch hier bleibt von grauer, grauser Vorzeit nicht mehr als eine frühe Vernunfthandlung. In Nougiers präzisen, eindrücklichen Worten:

Dies war gewiß die therapeutische Rolle von Gargas: nicht eine Höhle blutiger Rituale, sondern eine Schutzgrotte zu sein. Ein Stamm […], Opfer dieser extremen Erfrierungen, sucht bei eiskaltem, sehr feuchtem und windigem Wetter Schutz. Seine Rituale: die Blutungen stillen, die Schmerzen lindern, die Wunden der Glieder, die abfallen, vernarben lassen, die Stummel in den weichen Lehm hineinpressen, die verletzten Hände mit dem lindernden Lehm einreiben.

Gewiss, die Geschichte des Menschen hat genug blutige Kapitel zu bieten; allzu global sind die Belege für Menschenopfer, öffentlich praktizierte Folter und andere Scheußlichkeiten. Und doch: Offensichtlich hat sich auch die Vernunft von Anfang an ihren Weg gebahnt. Ich bin mir sicher, je genauer Archäologen hinsehen, desto mehr Belege für den besonnen vor sich hin arbeitenden, gutnachbarschaftlichen Urahn werden sie finden – unscheinbar zwischen all den grausigen, grellbunten Zeugnissen, aber doch vorhanden.


Weiterführende Lektüre:

  • Hakan Baykal, „Streitwagen aus dem Fels“, Bild der Wissenschaft 8/2013, S. 54-61, online hier
  • Alex Hooper, „Further Information on the Prehistoric Representations of Human Hands in the Cave of Gargas“, Medical History, 24/1980, p. 214-216, online hier
  • Louis-René Nougier, DIE WELT DER HÖHLENMENSCHEN, Deutsch von Verena E. Müller, Zürich und München 1984, nur noch antiquarisch erhältlich
Frank Böhmert

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