19. Januar 2014

Gedanken über moralische Politik und politische Moral. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht

Was ist Moral? - Der Mensch ist meiner Auffassung nach ein spirituelles Wesen, welches ohne einen sinnstiftenden geistigen Überbau nicht sein kann. Diesen Überbau kann man Religion nennen. Eigentlich immer ist er mit einem Gott, einem höheren Wesen verbunden, das nur manchmal anders genannt wird. Eine „säkularisierte“ Gesellschaft glaubt zum Beispiel lieber an so etwas wie „Mutter Erde“ ,das „Primat der Natur“ oder (frei nach Schiller) dass alle Menschen Brüder werden müssen.
Dieser (ich nenne es einmal) geistige Überbau der Menschen, ist der Ursprung ihrer Moral – denn logischer Weise sollte der „größte geistige Wert“ eines sozialen Gefüges auch darüber entscheiden was „gut“ und was „böse“ ist. Und die Entscheidung über „gut“ und „böse“ prägt das, was wir als Kultur verstehen ganz wesentlich. In dieser Logik ist für mich dann auch, nebenbei bemerkt, selbstverständlich, dass es absolut unsinnig ist zu versuchen, Kultur und Religion getrennt sehen zu wollen.
­Doch welchen Zweck hat eine Moral? Oder in meiner angeführten Logik anders gefragt, welchen Zweck kann es haben, dass der Mensch einen spirituellen Kern in sich trägt, der nach außen drängt? Ich denke, es ist ein Ergebnis der Evolution, die den Menschen schließlich dazu befähigte, sein soziales Miteinander, sein Zusammenleben zu regeln. In dieser Sicht scheint es dann auch selbstverständlich, dass Moral in der Politik eine Rolle spielen muß. Die Art und Weise, wie sie das heute tut, was ich daran kritisch sehe und wie sie es vielleicht anders tun könnte, soll Gegenstand meiner Gedanken sein.

Grundsätzlich gibt es dabei zwei völlig unterschiedliche Arten, wie eine Moral, also Begriffe von „gut“ und „böse“ unser Zusammenleben organisieren können. Auf der einen Seite die teleologische Ethik, auf der anderen die deontologische. Sehr vereinfacht ausgedrückt, entscheidet im ersten Fall das Ziel, welches man verfolgt, über die moralische Wertung der Handlung (frei übersetzt: „Der Zweck heiligt die Mittel"), in zweitem Fall steht die Wertung der Handlung an sich im Vordergrund, die notwendig ist ein Ziel zu erreichen.

Es gibt eine kleine Parabel aus der Zeit nach dem Zusammenbruch der Weimarer Republik:
Auf dem Berliner Alexanderplatz steht 1933 ein Mann und hält ein Schild hoch. Auf dem Schild steht zu lesen: "An dem Unglück der Welt sind die Juden und die Radfahrer schuld." Ein Passant läuft vorüber, liest das Schild und fragt den Mann: "Warum die Radfahrer?"


Dieser Passant hat ganz gewiss die Verbrechen des Dritten Reiches nicht zu verantworten. Aber diese Verbrechen hatten ihr Fundament auf einer Moral, die in „(Ziel)Zuständen“ dachte und die auch er als selbstverständlich erachtete, die gesellschaftlich "common sense" war. Einer Gruppe von Menschen wurde ein moralisches Korsett übergestülpt, in dem ein (beliebiges) Axiom an diesen Menschen moralisch gewertet wurde und damit wurden sie schließlich als Ganzes moralisch bewertet. Im Weiteren trat die Moralität des Handelns immer mehr in den Hintergrund.

Auch heute ist in meinen Augen ein (Ziel)zustandsorientierter Moralbegriff Gang und Gäbe, um als Kriterium für die Notwendigkeit politischer Entscheidungen herzuhalten. Mir erscheint das gefährlich.

Ich übertreibe? Wahrscheinlich hätte man seinerzeit auch denjenigen der Übertreibung bezichtigt, der dem oben genannten Passanten ein gefährliches Weltbild unterstellt hätte. Vielen Menschen scheint die Phantasie zu fehlen, die richtigen Schlüsse aus dem Offensichtlichen zu ziehen. Dass diese Phantasie fehlt, ist in Teilen sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass der Wohlstand in unserer Gesellschaft viel zu hoch ist, als dass aus radikalen Gedanken in der Breite, radikale oder faschistische Taten werden könnten. Solange wir in einer Gesellschaft leben, in der man Armut statistisch definieren muß, damit sie existiert, gibt es immer noch viel zu viel zu verlieren als dass man leichtfertig alle Brücken hinter sich abbrechen würde. Doch dieser Zustand könnte sich ändern und damit dieses Hemmnis entfallen.

Es gibt viele Themen, zu denen sich in unserer heutigen Zeit sachliche Auseinandersetzungen verbieten, weil  es die definierte Moral des Zielzustands verbietet. Damit wird gleichzeitig auch das moralische Urteil über die Menschen gefällt, das „moralische Korsett“ für die Menschen konstruiert, die diesen Zielzustand (warum auch immer) nicht für richtig halten. Eine sachliche Diskussion, in deren Verlauf dann die einzelnen Handlungen bewertet werden müßten, die möglicherweise ein ganz anderes Licht auf die zugrunde liegende Ethik werfen würde, findet nicht mehr statt. „Richtig“ und „falsch“ wird in Sachfragen, sogar in wissenschaftlichen Sachfragen zu „Gut“ und „Böse“ umdefiniert. Als Beispiel seien die Gentechnik oder die Atomkraft genannt. Bildung ist per politischem Beschluß in einem Fall verboten, im anderen Fall könnte man wohlwollend sagen, leicht eingefärbt. Der Klimawandel, bei dem bereits ganz konkret zwischen "guten" und "bösen" Wissenschaftlern (separiert durch konträre Auffassung zu Sachfragen) unterschieden wurde, ist hier ebenfalls zu nennen.

Es gab eine Zeit, da habe ich innerlich gegrinst, wenn mir (als Physiker) ein Sozialpädagoge, der nicht einmal die drei Arten des radioaktiven Zerfalls kannte, erklärte, dass ich im besten Fall ahnungslos, im schlimmsten Fall "des Teufels" bin, wenn ich eine sachliche Diskussion zum Thema Kernkraft einforderte -- ohne dabei eine Position bezüglich des Ausgangs der Diskussion zu beziehen.

Mittlerweile ist mir das Grinsen allerdings vergangen. Weil mir das Selbstverständnis klar wurde, mit der zur Sache völlig ahnungslose Sozial- und Geisteswissenschaftler öffentlich akzeptierte Deutungshoheit in naturwissenschaftlichen Bildungs- und Sachfragen haben. Dies ist deswegen möglich, weil ein ideologisch geprägter Moralbegriff für Zielzustände Sachdiskussionen verdrängt. Als Ergebnis erhält man Wahrheiten die nicht aufgrund von Dialektik, sondern aufgrund einer ideologisch motivierten Ethik entstehen. Und das ganze beschränkt sich leider nicht auf die drei gerade angesprochenen Themen oder nur die Wissenschaft. Es zieht sich wie ein roter Faden durch alle Bereiche unserer Gesellschaft. Ideologie prägt Zeitgeist, Zeitgeist definiert die Ethik eines Ziels und diese erzeugt den „moralischen Imperativ“. Das Ziel, dem sich alles Handeln zu beugen hat.


Was an den "Ewiggestrigen" ist per definitionem schlimmer als an den "ewig Zeitgeistgläubigen"? Diese Frage würde niemand stellen. Warum nur? Wenn mir jemand eine gute, begründete Antwort geben kann, immer her damit. Es lohnt sich über diese einfache Frage nachzudenken. Die Schlüsse, welche sich aufdrängen, sind erschütternd. Wie groß muß Irrsinn werden, dass er sich nicht mehr unter dem Deckmantel der "Selbstverständlichkeit einer Moral" verbergen kann?


So ist wohl der Lauf der Zeit. Die sich immer in bestimmten Mustern wiederholende Geschichte. Die Generation, welche die letzte Katastrophe Europas erlebt hat und mit zu verantworten hatte, welche an eigenem Leib erlebte welche Repression fehlender individueller Freiheit folgen kann, machte Platz für ihre Kinder. Kinder denen aufgrund der Tatsache, dass sie niemals ein Leben in individueller Freiheit entbehren mußten, die Phantasie fehlt, sich ein Leben ohne individuelle Freiheit vorzustellen. Und so gewinnen Ideologen wieder einmal die Deutungshoheit in "Sachen Moral".

Man stelle sich folgende kleine Geschichte vor, die man sich vielleicht in hundert Jahren erzählen könnte:
Auf dem Berliner Alexanderplatz steht 2013 ein Mann und hält ein Schild hoch. Auf dem Schild steht zu lesen: "An dem Unglück der Welt sind die Klimaleugner und die Radfahrer schuld." Ein Passant läuft vorüber, liest das Schild und fragt den Mann: "Warum die Radfahrer?"


Bevor man sich jetzt empört:
Ich setze nicht 1933 mit 2013 gleich und ich möchte auch nichts dabei werten. Dazu sind die Umstände viel zu unterschiedlich. Ich Vergleiche nur das Selbstverständnis eines moralischen Zustandes. Den man im historischen Fall unsäglich findet und in heutigem Fall eben selbstverständlich.


Warum ist das so?

Weil wir die Folgen im historischen Fall so unsäglich finden und nicht weil wir glauben, dass die Haltung, Gruppen in einem „moralischen Korsett“ zusammenzufassen und darüber zu bewerten, eine große Gefahr in sich trägt.
Ersteres ist zu kurz gedacht. Letzteres wäre richtig, würde aber unser heutiges Selbstverständnis in vielen Bereichen stark erschüttern, weil unser gesamter politischer Apparat (über Politiker bis hin zu Medien), möglicherweise ein Großteil unserer ganzen Ethik, leider genauso funktioniert. Die Rollen von „Gut“ und „Böse“ sind über einfach definierte Zielzustände klar verteilt.


Wir schütteln heute den Kopf über die Auswüchse der Hexenverfolgung, über den Widerstand der Kirche gegen den wissenschaftlichen Fortschritt im Mittelalter, über das Verhalten der Deutschen im dritten Reich und machen uns dabei nicht klar, dass auch hier die handelnden Menschen ihrem Weltbild, der Moral ihrer Ziele folgten – zu der wir heute eine komplett andere Auffassung haben. Sie sahen nur das, was sie sehen wollten und konnten – nicht das was wir heute für wichtig halten. Sie maßen die Moralität ihres Handelns an ihren Zielen, die für sie durch und durch moralisch waren. Wir sehen heute die Ethik ihres Handelns und uns graust.

Wer sagt uns, welche Auffassung zukünftige Generationen zu unserem heutigen Handeln haben? Was sollte uns sicher machen, dass die Moralität unserer Ziele eine absolute ist, die andere immer teilen werden?

Grundsätzlich scheint es sich hier um den Widerstreit zwischen teleologischer und deontologischer Ethik zu handeln. Unsere heutige Gesellschaft basiert ihre (politische) Willensbildung immer mehr über Zielzustände, der sie eine höhere, innewohnende Moral zuschreibt als anderen Zuständen. Die Art und Weise mit welchen Mitteln man diese Ziele zu erreichen gedenkt wird selten einer moralischen Prüfung unterzogen. Sie verfolgt also mehr einen teleologischen Ansatz.

Ein besonders groteskes Beispiel, war eine „Wahlkampfaktion“ der Linken aus dem Bundestagswahlkampf 2013: Die  Umfairteilungsmaschine. Das moralische Ziel, „materielle Absicherung für alle“, zusammen dargestellt mit der moralischen Wertung derer die sich aus eigener Sicht dagegen stellen und wie man mit ihnen zu verfahren gedenkt.


Wer jetzt anmerkt dies sei nur Satire, stelle sich das Medienecho vor wenn dies ein Wahlkampfstand einer Partei am anderen Rand des politischen Spektrums gewesen wäre, mit anderen betroffenen Gruppen als „Armen“ und „Reichen“.

Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass es in unserer Zeit Not tut, mehr den deontologischen Ansatz in den Vordergrund zu rücken. Zum einen, weil ich glaube dass die Wahl der zulässigen Mittel grundsätzlich mehr über die Ethik eines Menschen aussagt, als seine Ziele. Zum anderen, weil ich glaube dass in einer Welt, in der fast nur noch die Ziele im Zentrum des Interesses stehen, ein Kontrapunkt gesetzt werden sollte, denn Einseitigkeit ist immer mit Vorsicht zu genießen.

Ich selbst habe Zettel leider nicht mehr kennenlernen dürfen, weil ich erst nach seinem Tod in seinen Blog fand. Doch ich habe viele seiner Beiträge seither gelesen und viel über sie nachgedacht. Einige Beiträge haben dabei direkt einen Platz in meinen Bookmarks gefunden, weil ich sie aus irgendeinem Grund als besonders beachtenswert empfand. So auch diesen kurzen Beitrag, der in Zettels kleinem Zimmer sehr kontrovers aufgenommen wurde. Viele verstanden nicht wie er nur so die Contenance verliere konnte ob des Wahlsiegs eines politischen Gegners.

Ich kann leider nur spekulieren was ihn damals umtrieb, was ihn zu einer so heftigen Reaktion trieb. Meine Vermutung ist, dass ihn genau dieses Paradebeispiel teleologischer Ethik und seiner möglichen Auswirkung so erschütterte. Ein Ziel (der Atomausstieg) alleine reichte aus das Wahlvolk unter bestimmten Umständen genügend zu emotionalisieren, um das Handeln, seine Folgen und sonstige Überzeugungen bei vielen Menschen völlig in den Hintergrund treten zu lassen. Zugegebenermaßen ist ein Grüner Wahlsieg in Baden-Württemberg nichts an sich Besorgniserregendes. Ich bin mir sicher, das hat auch Zettel so gesehen. Aber die Wucht, mit der auch heute noch ein moralisiertes Ziel alles andere (vor allem Fakten und sachliche Diskussionen) in den Hintergrund drängen kann, mit der es letztendlich eine inhaltliche Opposition aus unserer kompletten Parteienlandschaft eliminiert hat, mag ihn erschüttert haben; erschütterte zumindest mich nach einigem Nachdenken.


Letztendlich ist meine Vermutung, dass ihn damals etwas ähnliches bewegt hat, was mich heute bewegt, wenn ich die beiden Parabeln von 1933 und 2013 auf mich wirken lasse.


Meine Großmutter hat mich den Satz gelehrt:
„Was du nicht willst dass man dir tu‘, dass füg auch keinem anderen zu.“

Dieser Satz ist keine philosophische Definition einer zulässigen Ethik. Solange ich aber keinen besseren ethischen Kompass habe, erscheint er mir durchaus als solcher geeignet. Auch glaube ich nicht, dass eine Welt in der sich alle an diesem Grundsatz orientieren eine wirklich schlechte werden kann. Er stellt dabei das Handeln, nicht das Ziel in den Vordergrund und vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass mir die deontologische Ethik intuitiv näher ist.

Auch trägt dieser Satz für mich den Grundgedanken des Liberalismus in sich, dass persönliche Freiheit nur dort eingeschränkt werden muß, wo sie die Freiheit eines anderen verletzt. In dem Sinne, dass wenn man dem anderen alle Freiheiten zugesteht, die man für sich selbst in Anspruch nimmt, eine Beschränkung niemals stattfinden muß.

Ich kenne keine (absolute) Wahrheit, wie eine Gesellschaft sich organisieren sollte. Ich möchte niemandem Vorschriften machen, wie er sich verhalten soll. Denn Freiheit, auch die anderer, ist mir wirklich wichtig. Auch die Freiheit, das, was ich geschrieben habe, als völligen Unfug zu betrachten.

Wenn ich aber mit Menschen über Politik rede, kommt immer sehr schnell die Moral des Ziels zur Sprache. Ich versuche dann dazulegen, dass auch dem Hadeln eine Ethik zugrunde liegen kann, die man als richtig empfinden mag, obwohl sie zu einem anderen Ziel führt. Nicht immer aber doch manchmal habe ich das Gefühl, dass diese Einsicht eine Tür ein klein wenig aufstößt und in Zukunft die Bereitschaft kleiner werden lässt, Menschen moralisch zu beurteilen, ohne die Ethik ihres Handelns zu betrachten.

Das ist, was ich tun kann. Das ist, was ich tue.
nachdenken_schmerzt_nicht


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