6. Juni 2014

Ursachensucher Mensch. Gastbeitrag von Ludwig Weimer

Mit diesem Beitrag möchte ich die Fragen zu „Die Gewißheit, den richtigen Göttern zu dienen“ (Beitrag von nachdenken_schmerzt_nicht in ZR vom 20.5.14) weiterführen.

Das Kind fragt, bis es nervt: Warum? Aber warum fragt es so? Hat der Mensch darum den Geist gefunden?

„Wenn uns einmal ein höheres Wesen sagte wie die Welt entstanden sei, so möchte ich wohl wissen ob wir im Stande wären es zu verstehen. Ich glaube nicht.“ (G. Chr. Lichtenberg, Sudelbücher K 18) Dieser große Aufklärer hielt es für möglich, dass der Begriff Entstehung nur eine menschliche Deutung von Kausal-Erfahrungen ist, also eine unzulängliche Vorstellung von der Wirklichkeit.

Das freie und selbstkritische Denken solcher Geister ist ein Wunder des Geistes. Ich möchte mich hier mit jener Vernunft befassen, die beide Parteien, die agnostische und die jüdisch-christliche, zusammenführen könnte. Bewusst habe ich nicht die Worte „religiös“ oder „gläubig“ gewählt. Denn sie sind belastet aus der Sphäre des Glaubens vor der berechtigten Aufklärung.

Lichtenbergs Frage bezieht sich auf die Unmöglichkeit eines sicheren wissenschaftlichen Urteils über solche Fragen wie: Woher kommt die Welt? Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Er betont unsere Verstandesgrenzen durch den Hinweis: Nicht einmal der Schöpfer der Welt könnte es uns ins Hirn legen, denn als überweltlicher Geist kann er nicht in die entstandene Welt direkt eingreifen und er würde zudem an den Grenzen unserer Auffassungsgabe scheitern.

Heute argumentieren Christen gewöhnlich, die Frage sei so zu lösen: Die Naturwissenschaft müsse in ihren Grenzen bleiben, die persönliche Glaubensentscheidung hingegen dürfe sich über den Ursprung von Naturgesetzen, Naturkonstanten und Anfangsbedingungen äußern. Die einen sagen dann „Zufall“, andere „Gott“. Aber diese Kompetenzen-Teilung ist eine Scheinlösung. Im Einzelmenschen treffen Wissenschaft und Glaube zusammen, zwar unvermischbar, aber auch unzertrennlich, wenn er einen mündigen Glauben auf der Höhe der Zeit haben will.

Martin Nowak, einer der herausragenden Experten im Bereich Evolution und Spieltheorie, bedauert daher angesichts des in den USA schwelenden Konflikts zwischen Evolutionsbiologen und christlich-fundamentalistisch Glaubenden, dass stets eine Entscheidung zwischen Evolution und Christentum gefordert werde. Es müsse doch kein Widerspruch sein.

Lichtenberg überlegte im Blick auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen ähnlich: „Sollte es denn so ganz ausgemacht sein, daß unsere Vernunft von dem Übersinnlichen gar nichts wissen könne? Sollte nicht der Mensch seine Ideen von Gott eben so zweckmäßig weben können, wie die Spinne ihr Netz zum Fliegenfang? Oder mit andern Worten: sollte es nicht Wesen geben, die uns wegen unsrer Ideen von Gott und Unsterblichkeit eben so bewunderten wie wir die Spinne und den Seidenwurm?“ (Sudelbücher L, 952) Er bezeichnete den Menschen als ein „Ursache suchendes Wesen“, als „Ursachensucher“ (Sudelbücher J, 1551).

Das Argument, wenn unser Denken die Wirklichkeit gar nicht abbilden würde, hätte sich der Mensch nicht als Herrscher über den ganzen Planeten durchsetzen können, sticht auf dem Gebiet der Metaphysik nicht; hier könnte ‚Religion‘ geradezu die gütige Decke über die Lücken und Fehler sein. Eine religio vera müsste also gleichzeitig das aufgeklärteste Wissen über den Menschen sein, um etwas Wahres über das Unsichtbare wissen zu können.

Wie kann es angesichts so viel demütig-kritischer Klarheit wie bei Lichtenberg noch eine Theologie geben, über die man nicht spottet? Die biblische beruht ganz und gar auf der Erfahrung einer kritisch beleuchtenden Geschichte Gottes mit Welt und Menschheit.

Das entscheidende Wissen, das die Europäische Aufklärung nicht mehr in den Kirchen vorfand, liegt hierin: Der biblische Glaube wurde in den Kirchen entweder zur reinen Staats-Sittenlehre (mit linker protestantischen Variante) oder war abgesunken zu einem volksreligiösen Aberglauben. Lichtenberg notierte witzig-paradox: „Und ich dank es dem lieben Gott tausendmal, daß er mich zum Atheisten hat werden lassen“ (Sudelbücher E 252).

Es gibt gute Gründe, warum die nachaufgeklärten Zeitgenossen sich lieber dem blinden Zufall verdanken wollen als einem himmlischen Vater, vor allem im Blick auf die Grausamkeit in der Natur und die von Menschen bereiteten Leiden. Kann ein liebender Schöpfer soviel Schlimmes zulassen, nur um einer Freiheit des Menschen willen, die vielleicht nur eingebildet ist? Kannte der Allwissende nicht das Risiko? Überschätze er sein irdisches Ebenbild? Oder juckte ihn das böse Spiel?

Und naturphilosophisch grundsätzlicher gefragt: Wie könnte denn ein Geist den Schritt zur Materie aus sich heraus überhaupt setzen? Seltsamerweise fällt es vielen leichter, einen wahnwitzig erfolgreichen ‚Gott Zufall‘ als Schöpfer anzunehmen als einen Gott, der auch das ganz Andere seiner selbst zu Eigenständigkeit als Geist-in-Materie gewollt und auf eine uns unbegreifliche Weise ins Leben gerufen haben könnte. Diese Logik erklärt sich wohl nur durch den berechtigten – darf ich‘s sagen – Hass auf bigotte, dumme Fromme, von denen man sich absetzen musste.

Nowak sieht in der „Kooperativen Intelligenz“ das Erfolgsgeheimnis der Evolution: Zu Mutation und Selektion als den zwei tragenden Säulen der Evolution tritt die Kooperation hinzu. Die Menschen, so sagte er jüngst, beherrschten als einzige Wesen der Erde die fünf grundlegenden Mechanismen der Kooperation, zu denen das Prinzip „Wie Du mir, so ich Dir“ genauso zählen wie die Nachbarschaftshilfe und mehr. Das bedeutet natürlich mehr als die Schwarmintelligenz bei Tieren, da es auch die Leistungen von Sprache, Kultur und Gewissen einschließt.


Bei der Erforschung, wie, warum, wodurch der Schöpferglaube in der europäischen Neuzeit in die Krise kam, geriet ich selber vor ein unerwartetes Ergebnis. Die normale verbreitete Auffassung ist, mit dem Entstehen und Wachsen der modernen Naturwissenschaft habe die Aushöhlung des Glaubens der Kirchen begonnen. Zeitlich betrachtet, stimmt das nicht. Vorreiter der Aufklärung in England, Deutschland und Frankreich in Sachen Krise des Glaubens an Schöpfung und Vorsehung war nicht die Naturwissenschaft, sondern die Geschichtswissenschaft. Nämlich die Entdeckung der Geschichtlichkeit aller Weltbilder und insbesondere der biblischen Wundererzählungen. Zugespitzt gesagt: Weil die Kirchen dem Verstand einen wörtlichen Wunderglauben zumuteten, aber in ihrer Praxis kein Wunder, sondern ein allzu menschlicher Laden waren, entstand die ätzende Bibelkritik leidender und selbstloser (Ausschluss von Lehrstühlen) Pastorensöhne.

Die Naturwissenschaftler hingegen blieben noch zwei volle Generationen fromm, bevor sie angesteckt wurden. Noch 1713 beherrschte die sogenannte Physico-Thelology alles. Jede neue naturwissenschaftliche Entdeckung wurde in einem neuen Buch gefeiert. Es gab eine Astro-Theology, eine Pyro-Theology, Spezialkompendien über Vögel, Fische, Frösche, Heuschrecken, Muscheln und Schnecken und eine Insektotheologie, eine Melittotheologie. Ein unstillbarer Hunger nach solchen Beweisen der Schöpferweisheit trieb noch Metallo-, Geo, Zoo-, Chemio-, Spermato-, Therato-, Tycho- und Mikrotheologien hervor. Erst mit des später berühmten Hamburger Bibelkritikers Reimarus Physikotheologie von 1762, „Betrachtungen über die Triebe der Thiere“, kam eine Veränderung. Gott ist für ihn nur noch eine Schutzklausel, eigentlich ist alles Selektionismus. Er schrieb also das erste Werk zur Verhaltensforschung. Erst jetzt wurde die Naturwissenschaft Gegner des (naiven) Schöpfungsglaubens. Die Falten des Rhinozeros und die Anatomie einer Laus als Nachweis der Finger Gottes wurden seit Darwin zum Gegenbeweis (Die Physikotheologie hatte einen Wandel der Arten nicht in Betracht gezogen).

Ein Unbegriff von Wunder oder deutlicher gesagt die Tatsache der fehlenden zeitgenössischen Wunder wurde Auslöser der Zerstörung des christlichen Glaubens (von Lessing erkannt und 1771 herrlich-klar formuliert auf nur sechs Seiten: „Über den Beweis des Geistes und der Kraft“). Natürlich ist es eine große Hilfe, die Ablösung vom alten Weltbild anhand einer Formgeschichte der biblischen Texte dem Verstand wie dem Glauben zu erleichtern, leider reicht aber auch die heute sehr ausgebaute Literaturwissenschaft allein für sich nicht ohne das Erlebnis einer authentischen Kirche. Die auf Papst Franziskus gesetzten Hoffnungen zeigen diese Sehnsucht.

Das angeblich „finstere Mittelalter“ litt zwar auch an diesem Noch-fehlen der Gattungs- und formgeschichtlichen Bibelhermeneutik, aber seine Theologik war so innovativ wie die gotische Kunst. Und es ist geradezu rührend, wie ein Thomas von Aquin dennoch (ohne Formgeschichte) mit den Wundern in der Bibel zurechtkommt. Er erklärte z. B. die Finsternis beim Tod Jesu so, dass die Naturgesetze, wie man sie damals nach Aristoteles sah, nicht verletzt werden: Dämonen/Engel schieben die Gestirne am Himmel; der Mond-Schieber erhielt den Befehl, um 3 Uhr nachmittags die Sonne zu verdecken, also abzuweichen und für Umweg und Verzögerung zu beschleunigen.

Gut, das erscheint uns heute kindlich, aber es war eine Revolution, weil es ratio/Erkenntniskritik und fides/Tradition vereinigte.

Bei anderen Themen sieht man die Weite des Denkens: Laut Thomas von Aquin gehören auch die Juden zum Leib Christi Kirche und ist ihre Beschneidung dem christlichen Sakrament der Taufe gleichzustellen (das ist kühn; Thomas beschränkte sich klüglich auf die Juden vor Christus, aber die generellen Konsequenzen sind doch unausweichlich). Auf einen Messias warten war für ihn eine eher größere Glaubensleistung als die unsere, die schon zurückblickt auf das Faktum Christus. Er war da nicht allein; Alexander von Hales hatte die Zugehörigkeit gerecht lebender Juden und Heiden schon vor ihm begründet.

Der deutsche Naturwissenschaftler und Philosoph Albert den Große verteidigte Thomas, den man der Ketzerei verdächtigte, weil er die Philosophie des Heiden Aristoteles der neuen Theologie zugrunde legte. Schon Albertus ersetzte das Autoritäten-Zitieren durch das Experiment an der Sache selbst. Er soll herumgefragt haben, wie die Experten zu ihren Erkenntnissen gelangen, z. B. der Bienenzüchter zu seinem Wissen.

Die Abwendung von Platon und die Übernahme der aristotelischen Sicht der Welt geschah also schon im 13. Jahrhunderts unter Thomas von Aquin mitten in der Kirche, im Kloster, herausgefordert durch die neuen Universitäten, und nicht erst durch die aufgeklärten Naturwissenschaftler.

Die Frage, wozu der biblische Monotheismus überhaupt gut sei und ob er nicht auch wie der Koran zu Unduldsamkeit und Gewalt führe, ist aktuell brisant geworden. Viele Fortschritts-Christen neigen zu einem Kuschel-Pluralismus, so dass sie jenen nicht mehr verteidigen müssen.

Die psychologisch-soziologische Deutung, er verschleiere die Machtfrage, verkennt, was er in der Bibel leistet. Er sagt nämlich: Du bis nicht das Höchste. (Und nun beginnt der Unterschied zur Koran-Deutung:) Du kannst auch das Höchste nicht manipulieren, denn es ist christlich definiert durch die Gestalt Jesu, dessen Verhaltens-Prinzipien im Höchstmaß friedlich und human waren. Dadurch ist Gott für Christen nicht missbrauchbar. Wie tief das trifft, zeigt die Tatsache, dass man Jesu herzen-aufklärende Wahrheit töten wollte.

Am Christentum wird nur noch etwas klarer, was schon die jüdischen Propheten und Toralehrer mit ihrer Götzenkritik erkannt hatten. Die Götterkritik der griechischen Philosophen wurde schon in der jüdischen Diaspora und dann von den Christen hinzugenommen, gleichsam als Offenbarung Gottes vor den Türen Israels. Es gab einen geistigen Bund der Aufklärung zwischen Glaubenden und Agnostikern. Was man die „Kirchenväter“ nennt, das waren keine frommen Ungebildeten, sondern Spitzenleute der Aufklärung. Sie dachten so hoch von der Erlösung des Menschen, dass sie von einer ‚Vergöttlichung‘ (gemeint: Teilhabe am Leben Gottes) sprachen.

Noch Albert Camus antwortete auf Nietzsches Diktum „Wenn es einen Gott gibt, wie ertrüge ichs, keiner zu sein?“ mit den Sätzen: „Es gibt in Wirklichkeit einen Gott, das ist die Welt. Um seiner Göttlichkeit teilhaftig zu werden, genügt es, ja zu sagen. ‚Nicht mehr beten, segnen‘, und die Erde wird erfüllt sein von Gottmenschen“ (in: Die metaphysische Revolte).

Heute führt der zeitgeistliche Trend Kirchenleute zu der unsäglich dummen Selbstrelativierung: „Mach’s wie Gott, werde Mensch!“ Mit solchen schwachherzigen Christen könnte Camus rein nichts anfangen.

Im Polytheismus greifen die Götter, die für Ressorts oder Länder zuständig sind, angeblich helfend direkt in die Welt ein. Im Pantheismus gehört das Göttliche zu den Naturgesetzen. Zur Erkenntnis des Monotheismus gehört die Einsicht in die Transzendenz Gottes, die bedeutet, dass der Überweltliche nicht ‚eingreift‘, sondern die Herzensgedanken und die Hände von Menschen braucht. Die Bibel erzählt davon und weiß: Er will ein Volk sammeln, ein großes, denn das Elend ist groß, damit er dadurch helfen kann. Das ist eine totale Aufklärung und Gewissensverpflichtung. Die Praxis ist voller Versagen, aber echte Christen verweigern zu folgern: Wir geben es auf.

Papst Franziskus meditierte in Yad Vashem gerade kühn und mahnend: „Der Vater kannte das Risiko der Freiheit … doch vielleicht konnte nicht einmal der Vater sich einen solchen Fall, einen solchen Abgrund vorstellen! … Wer hat dich verdorben … überzeugt, dass d u Gott bist? … Gib uns die Gnade, … uns zu schämen für diesen äußersten Götzendienst.“

Wegen des sicher zu erwartenden kritischen Einwands, der ‚zu Gott gemachte‘ Jesus sei ein weiterer Götze, nur ein Hinweis: Das Laterankonzil von 1215 erklärte zur Sprache der Dogmen und überhaupt aller Rede vom überweltlich Göttlichen: Es seien immer nur Analogien aus unserer Erfahrung möglich und daher sei die Unähnlichkeit in der Sache auch immer größer als die Ähnlichkeit. – Wer den Satz versteht „Ihr seid das Salz der Erde“, sollte auch den Sinn der Sätze verstehen können, Christus sei das Lamm Gottes, er sei das Licht der Welt, die Tür zu Gott, also der ‚Sohn‘ Gottes. Keiner muss es selber glauben, aber man sollte verstehen, was gläubige Aufgeklärte damit meinen.

Das Problem des deutschen Idealismus mit seiner Spitze in Hegel ist, dass die Kirchen jener Zeit zu wenig die Unterscheidung zwischen Götzen, Göttern und Gott lebten und kannten. Die Unterscheidung zwischen menschengemachter, manipulierter Religion und biblischer Aufklärung wurde erst wieder durch Kierkegaard entdeckt und nach dem Ersten Weltkrieg von Karl Barth und Leonhard Ragaz formuliert, ist inzwischen aber wieder fast verwischt, verdrängt und vergessen.

Weil diese Unterscheidung fehlt, kam es durch die nötige Trennung von Staat und Religion von der Französischen Revolution an bis heute zu einem Hinausdrängen der Religion aus dem öffentlichen Raum in das Private, Individuelle. Diese Umwandlung aus einem Politikum Kirche, die einmal das Weltreich Rom besiegt hatte, zu einem Staatsdiener verführte die Christen nach und nach heimlich und leise, soweit sie nicht ausbrachen als Mönche, Heilige oder Freikirchen. Heute erliegen gerade die Fortschrittswilligen und politisch Engagierten der Gefahr, allgemeine Themen zu ihrer Daseinsberechtigung heranzuziehen. Fürstin Gloria beklagte zum Kirchentag in Regensburg, dass viele nur noch eine Umwelt-retten-Kirche vertreten. Man kann es mit Döblinger „Humanitarismus als ein gewendetes Christentum“ nennen (Zettels kleines Zimmer am 21. 05. 2014). Die Armen, die ihren Schatz vergaßen und Kieselsteinchen anbieten!

In der End-These von nachdenken_schmerzt_nicht hatte es geheißen, der Gefahr entgingen wir „durch den Verstand, dem uns die Aufklärung überantwortete, - auch wenn wir damit die Hoffnung, der eigenen Ohnmacht entkommen zu können, aufgeben“ müssten.

Diese Ohnmacht bleibt, wenn kluge Leute eine Hilfe vorschlagen, aber dabei ziemlich um den heißen Brei herum reden: Unsere Gesellschaft (z. B. ein einiges Europa) müsste wieder einen „großen Narrativ“ finden, eine Erzählung, die begeistert und eint. Nicht nur ganz früher hätten Mythen dies vermocht.

Wir müssen aber unterscheiden. George Steiner deckte auf, was die Wurzeln Europas ohne Jerusalem wären: Gewalt und Sex (Der Raub Europas durch Zeus als Stier; Trojanischer Krieg wegen des Raubes Helenas), List (der listenreiche Odysseus) und Brudermord (Gründung Roms). Dazu die deutsche Rachelust (Nibelungenlied). Positiv bleibt da nur die griechische Philosophie. - Und die römische Straßen- und Brückenbaukunst, aber die ist kein ‚Narrativ‘, so wenig wie Hitlers Autobahnen.

Warum die Lust am Bösen? - Darauf beruht die Ohnmacht. Die Antwort kann wohl nur in dem Hinweis auf die Minderheiten bestehen, die stellvertretend für das Ganze das Gute durchtragen müssen. Darunter befinden sich auch jene Juden und Christen, die als Minderheit ihren großen Narrativ kennen und bewahren: die Geschichte Gottes mit ihnen, weil dieser ein Volk als Salz der Erde braucht, denn anders wollte er nicht eingreifen, als durch die Freiheit, die zur Liebe gehört.

Ludwig Weimer

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