9. November 2014

Die Justizialisierung der Verfassung und der Liberalismus

In Deutschland hat der klassischen Liberalismus generell einen schweren Stand. Gerade auch aktuell wird dies deutlich, in einer Zeit, in der nicht nur die sächsische FDP aus dem Landtag gewählt wird, sondern auch ganz offen in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen ein Mehltau, der innere Harmonie und konformistisches Gemeinschaftsgefühl anstrebt, zunimmt statt abnimmt und Abweichlertum als zerstörerischer Egoismus gebrandmarkt wird, der im übrigen wie selbstverständlich als Hauptursache für all die kollektivistischen Verirrungen der Weltgeschichte angesehen wird.  



Es sollte, um Missverständnissen vorzubeugen, an dieser Stelle klargestellt werden, dass ich hier den Begriff „klassischer Liberalismus“ weit definiere. Ich verwende das adjektiv „klassisch“ als Abgrenzung vom Linksliberalismus, reinem Gesellschafts- oder reinem Wirtschaftsliberalismus, aber auch einem Rechtsliberalismus. Weiterentwicklungen im ursprünglichen Geist des  klassischen Liberalismus, wie den ursprünglichen Ordoliberalismus, schließe ich in den Begriff mit ein.

In den Niederlanden wie auch in der Schweiz gibt es immer noch nennenswerte klassisch-liberale Kräfte, gerade auch in dem weiter gefassten Sinne, der auch den Ordoliberalismus erfasst. Auch in Großbritannien scheinen sich solche gerade neu zu formieren. Interessante Auffälligkeit dabei: Alle drei Länder weißen keine Verfassungsgerichtsbarkeit auf, welche formal einwandfrei zustande gekommene Gesetze inhaltlich an der Verfassung überprüfen könnte. Natürlich gilt dies in der Schweiz nur in Bezug auf Bundesgesetze, denn in einem föderalen Staat mit Kompetenzaufteilung müssen Kantonsgesetze auf Kompatibilität mit übergeordnetem Recht überprüft werden können. Ich halte dies für eine interessante Entwicklung.

Ich habe mich in Deutschland durch das Konzept einer Verfassungsgerichtsbarkeit immer sehr wohl und geschützt gefühlt und es war immer der eine entscheidende Aspekt, warum ich Deutschland unter dem Strich immer noch gegenüber den Niederlanden oder der Schweiz den Vorzug gab. Der einzige Grund. Ich Frage mich inzwischen, ob er das Wert ist. Es gibt zwar in der Niederlanden und in der Schweiz einige prominente Klöpse, die so in Deutschland vom Verfassungsgericht gekippt wurden wären. Beispielhaft zu nennen wären das Minarettverbot in der Schweiz, aber das sind Ausnahmen, wenn auch sehr prägnante. Die Idee der Freiheit, des Schutzes des Individuums vor angeblichen oder tatsächlichen Allgemeininteressen, scheint mir im allgemeinen in den genannten Ländern stärker verankert und im Falle der Niederlande und der Schweiz auch bereits stärker verwirklicht zu sein, als im oberflächlich verrechtlichten Deutschland.

Das deutsche System wird von amerikanischen, vergleichenden Rechtswissenschaftlern gerne als überkonstitutionalisiert bezeichnet. Vielleicht ist es das auch: Die verrechtlichte Debatte verdrängt die politische Debatte über grundlegende Prinzipien, welche die öffentliche Gewalt binden sollen. Stattdessen wird die Frage grundlegender Prinzipien in Deutschland zur rein juristischen Debatte, während in der politischen Debatte das missgelaunte (oder im grünen Rausch auch mal euphorische) Bauchgefühl den Ton angibt. Die Verfassung steht einer Freiheitseinschränkung für etwas oder jemandem, dass man nicht mag/leidet/nicht ästhetisch findet nicht im Wege? Sehr gut, worauf warten wir dann noch mit der Regulierung oder gleich mit dem Verbot? Und wenn es für die Verbotsforderung noch keine Mehrheit gibt, dann ist es umso wichtiger die restlichen Unerleuchteten, die das eigene Empfinden nicht teilen, zu erziehen und zwar auch mit staatlicher Hilfe, sobald man die Mehrheit (in den entscheidenden Gremien) hat.

Es scheint das vor lauter Fokussierung auf Detailregelungen der Blick auf wesentliche Kernprinzipien verloren geht.

Wenn selbst die Frage nach einem Rauchverbot in Kneipen nicht als politische Debatte geführt wird, sondern das Rückzuggefecht der Liberalen nur auf der Ebene der verfassungsrechtlichen Diskussion stattfindet, wenn am Ende das Bundesverfassungsgericht im Rauchverbot nicht nur in Bezug auf Kompetenzstreitigkeiten (das ist in einem föderalen System unvermeidlich eine nur Gerichten anzuvertrauende Frage, sonst bringt die föderale Gewaltenteilung nichts), sondern inhaltlich eine verfassungsrechtlich relevante Frage sieht, dann mögen sich liberale zwar kurzfristig freuen, hat doch das System den Verbotsforderungen Grenzen setzt. Aber das ist ein Pyrrussieg. Die Argumente sind rein juristisch und am Ende bleibt hängen, dass dem Großteil des Bauchgefühls und politischen Launen nichts im Wege steht, also warum nicht ausleben? Außerdem sind die verfassungsrechtlichen Grenzen teilweise mit Müh und Not aus den Fingern gesogen, um dem grenzenlosen anti-liberalen Tendenzen etwas entgegen zu setzen. Und dies lässt sich im Zweifel auch umgekehrt anwenden, wenn wohlfahrtsstaatliche Ansprüche aus abstrakten Verfassungsprinzipien abgeleitet werden und damit einer ordnungspoltischen Debatte über Vernunftprinzipien entzogen sind — die Aufgrund der Überkonstitutionalisierung sowieso nicht stattfindet. Höchstens findet eine Debatte über das richtige Bauchempfinden für die harmonische Konsensgesellschaft statt. Konsensgesellschaft nicht im Schweizer Sinne, also nicht im Sinne einer vernunftgeleiteten Kompromissfindung, die möglichst viele einbindet, sondern im Sinne einer mit emotionalem Anpassungsdruck getriebenen Gesellschaft.

Techniknörgler


© Techniknörgler. Für Kommentare bitte hier klicken. Dieser Artikel ist der letzte Teil einer zweiteiligen Serie, die sich mit dem Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und einer verrechtlichung der Politik einerseits und den Werten des klassischen Liberalismus andererseits beschäftigt. Der erste Artikel dient als einführendes Vorwort, der auf den historischen Kontext und die tiefe historische Verankerung einer Justizialisierung der Politik in Deutschland eingeht.