9. Januar 2015

Sollbruchstellen der Freiheit

Worum geht es islamistischen Terroristen wie den Pariser Attentätern vom 7. Januar 2015? Geht es um Religion, um den Islam? Etwas, vielleicht. Geht es um politisch-weltliche Macht? Sicher, auch. Zuallererst aber geht es um Freiheit. Es geht also um alles. 
Konrad Adenauer hat dies 1952 in der ihm eigenen rhetorischen Schlichtheit auf den Punkt gebracht: „Wir stehen vor der Wahl zwischen Sklaverei und Freiheit. Wir wählen die Freiheit!“ Damals war das Gespenst der Unfreiheit der Kommunismus. Wenige Jahre zuvor war es der nationalsozialistische Terror gewesen, der die halbe Welt in den Abgrund der Unfreiheit gestürzt hatte. Heute ist es ein global ambitionierter, terroristisch operierender Islamismus, der die Freiheit aller Menschen (und nicht nur „unsere“ Freiheit) bedroht. Die Ideologie ist dabei lediglich das Vehikel; ob Nazis, Kommunisten oder Islamisten; stets haben sie es auf individuelle Freiheiten, ja auf die Individualität an sich, abgesehen. Es scheint dem Menschen eine Tendenz innezuwohnen, andere zu unterdrücken und zu knechten; zumindest wenn er in Kollektiven auftritt; evolutionsbiologische Mutmaßungen über die Ursachen oder den „Zweck“ dieser Tendenz gehören nicht an diesen Ort. 
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Was also wollten die Terroristen in Paris? Das Rächen einer vermeintlichen Beleidigung des Propheten durch ein französisches Satiremagazin? Eher nicht. Die Möglichkeit, daß die Attentäter oder deren Unterstützer sich von Karikaturen je wirklich und persönlich gekränkt oder beleidigt gefühlt hätten, kann man wohl getrost vergessen. 

Das Ziel ist vielmehr, daß die indigenen westlichen Bevölkerungen sich ihrerseits in Reaktion auf solchen Terror zu Anschlägen und Progromen gegen friedliche Muslime (ja, es gibt sie, und sie stellen selbstverständlich die Mehrheit dar) hinreißen lassen. Die Hoffnung der Terroristen ist weiter, daß diese, bislang friedlichen, Muslime sich dann ihrerseits erheben. Es geht darum, und das ist eben nicht bloß eine Phrase der „Islamversteher“, die Gesellschaften zu spalten; das Ziel der Terroristen sind brennende Vorstädte; Aleppo und Kobane sollen in die Welt getragen werden. Ziel ist es, daß die Menschen sich entindividualisieren und zuvorderst als Teil eines Kollektivs begreifen, der Muslime also und der „Nichtmuslime“ um sich anschließend gegenseitig und möglichst gewalttätig zu bekämpfen, den Endsieg der Islamisten, der Unfreiheit also, fest im Blick. Und die Saat trägt bereits am Tag nach dem Pariser Anschlag erste Früchte: auf Moscheen wurden Schüsse abgegeben und Handgranaten geworfen

Dies scheint mir eine wesentliche Sollbruchstelle freiheitlicher Gesellschaften zu sein. Sie verläuft nicht zwischen „Gläubigen“ und „Ungläubigen“ oder zwischen Gruppierungen anderer Art, sondern entlang der Grenze zwischen Individuum und Kollektiv. Unbenommen der gegenwärtigen, lächerlich-überzogenen medial-politischen Reaktionen auf „Pegida“, scheint mir hierin tatsächlich eine Gefahr solcher „Gegenbewegungen“  zu liegen: die damit verbundene Deindividualisierung des Einzelnen zugunsten eines irgendwie definierten Kollektivs, sei es als Christ, als Angehöriger des Abendlandes oder sonst etwas, und das sich in erster Linie durch ein „gegen etwas“ definiert. Es wird gegen Islamisierung gestritten, aber nicht für die Freiheit, was dann leider die in Dresden zu vernehmenden "Putin, hilf uns" Rufe einiger Pediga-Demonstranten auf den zweiten Blick plausibel  erscheinen läßt. 

Es ist jedoch die Unfreiheit selbst, die stets den Weg über das Kollektiv nimmt. Das war im Faschismus so, ebenso im Sozialismus/Kommunismus, und es ist so im politischen Islam. Das zentrale Bestimmungsstück freiheitlicher Gesellschaften ist aber das Individuum; seine Rechte gegenüber dem Kollektiv (dem Staat etwa) markieren Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Und auf diese, ja auf jegliche, individuelle Freiheit haben es die Terroristen abgesehen. Der Islam ist hierbei ein Vehikel (wenn auch ein offensichtlich besonders geeignetes), dessen sich die Unfreiheit bedient, um andere zu knechten.

Sich dem nicht zu unterwerfen bedeutet möglicherweise zuallererst, Individuum zu sein und zu bleiben, das seine persönliche Freiheit in jenem kleinen eigenen Lebenskontext, gegenüber seinen Freunden und Nachbarn oder im Beruf etwa, aktiv lebt und verteidigt. Es braucht gelebte und praktizierte individuelle Freiheit. Auf Lobeshymnen in Sonntagsreden oder Neujahrsansprachen kann die Freiheit dagegen gut verzichten. 
Immerhin hat die Mehrheit der deutschsprachigen Medien von ihrer Freiheit am Tag des Anschlags Gebrauch gemacht, indem die Karikaturen von Charlie Hebdo, z. T. auf Titelseiten, abgebildet worden sind. Ein Hoffnungszeichen? Ob die Zeitungen dies auch nach einem großen Anschlag auf deutschem Boden noch täten? Man darf skeptisch sein. In den Medien des angelsächsischen Sprachraums werden die Karikaturen von Charlie Hebdo zumeist gepixelt dargestellt oder ganz zensiert, um radikale Muslime nicht zu „provozieren“. Hat je ein Terroranschlag schneller sein vordergründiges Ziel erreicht? 

Es steht wirklich nicht gut um die Freiheit in diesen Tagen.


Andreas Döding


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