24. April 2015

Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit

Großbritannien ist das Land der Traditionen - und die politischen machen einen nicht geringen Teil davon aus. Wo sonst sitzt der Sprecher einer Parlamentskammer nicht auf einem nach neuesten Ergonomierichtlinien konstruierten Bürostuhl, sondern auf einer ca. 650 Jahre alten Matratze? Auch die beiden großen Parteien, die Tories und die Labour Party können auf eine lange Tradition zurückblicken. Vor dem Hintergrund der anstehenden Wahl zum House of Commons zeigt sich aber, dass sie sich beide im Umbruch befinden. 

Der Wahlkampf für die general election im Vereinigten Königreich am 7. Mai geht in die heiße Endphase. Nach den aktuellen Umfragen steht ein Kopf-an-Kopf-Rennen an. 

Wieso es überhaupt so knapp wird, mag man sich fragen - sitzt doch die aktuelle Koalitionsregierung alles andere als fest im Sattel. Cameron schlingert in der Europa-Frage, und vor allem Juniorpartner Nick Clegg von den LibDems trug bis vor kurzem regelmäßig die rote Laterne als unbeliebtester Politiker und verliert möglicherweise sogar sein Mandat in Sheffield, das er 2010 mit über 15.000 Stimmen Vorsprung gewonnen hat. 

Schauen wir uns also die aktuelle politische Situation im UK etwas genauer an. Ich glaube nämlich, dass sie sowohl in den Gemeinsamkeiten als auch in den Unterschieden ein interessanter Spiegel zu Deutschland ist.
Tim Black liefert im Spiked Magazine eine schonungslose Analyse der beiden großen Parteien ab:
Miliband made this clear in his first interview after becoming Labour leader in 2010: ‘The era of New Labour has passed. A new generation has taken over.’ And it is this constant process of negating New Labour that has allowed New New Labour to imagine that it stands for something. Disavowing Tony is now one of Labour-supporting commentators’ favourite pastimes. (...) Blair is now the necessary evil to be forever exorcised in Labour’s midst, the scapegoat to be repeatedly sacrificed in order that Labour might ‘go again’. 
Miliband stellte in seinem ersten Interview als Labour-Vorsitzender klar: 'Die Ära von New Labour ist zu Ende. Eine neue Generation hat übernommen'. Und es ist diese ständige Verneinung von New Labour, die New New Labour die Vorstellung ermöglicht, dass sie für etwas stehen. Tony zu verleugnen ist eine der Lieblingsbeschäftigungen von labourfreundlichen Kommentatoren. (...) Blair ist nun das notwendige Übel inmitten von Labour, das auf alle Zeit ausgetrieben werden muss; er muss immer wieder als Sündenbock herhalten, damit Labour wieder auf die Füße kommt.  
Das klingt dem Beobachter der deutschen Sozialdemokratie durchaus vertraut, und es ist bezeichnend, dass die beiden Autoren des Schröder-Blair-Papieres, die ihre Parteien modernisiert und eine wirtschaftsnähere Politik durchgesetzt haben, gleichzeitig einen tiefen ideologischen Riss verursacht haben. Die Parallele geht sogar so weit, dass einer der Hauptkritikpunkte an Blair ist, dass er mittlerweile als Berater des Präsidenten von Kasachstan arbeitet und dabei stinkend reich geworden ist.

Trotzdem haben die Blairites immer noch Einfluss - immerhin war Blair der erfolgreichste Labour-Premier nach dem Krieg. Und er selbst mischt munter im Wahlkampf mit - bis hin zu einer persönlichen Spende von jeweils 1.000 Pfund für über 100 amtierende Labour-MPs, was Miliband ordentlich in die Bredouille bringt
Ed’s strategy is essentially to reach out to three groups of people: former Labour voters who stopped voting Labour because they hate Tony Blair, former Lib Dems who wouldn’t have dreamt of voting Labour because they hated Tony Blair, and students and first time voters who only vaguely recall who Tony Blair is, but hate him anyway because they think that’s what cool young people are supposed to do. So given that is Labour’s strategy, why is the party this morning broadcasting the fact their election campaign is being bankrolled by Tony Blair? Who exactly is meant to benefit from this? 106 cash-strapped candidates, I suppose. But even though every little helps, £1000 isn’t going to go all that far. And each of those candidates is about to spend every hour between now and polling day being chased around by angry people in ill-fitting multi-colored jumpers who will shout: “Did you take Blair’s blood money?!? Did you??!!!!" 
Eds Strategie zielt im Grunde darauf ab, drei Gruppen von Menschen zu erreichen: Ehemalige Labour-Wähler, die aufgehört haben, Labour zu wählen, weil sie Tony Blair hassen; ehemalige Lib Dems, die nicht einmal im Traum daran gedacht haben, Labour zu wählen, weil sie Tony Blair gehasst haben; und Studenten und Erstwähler, die nur eine grobe Erinnerung an Tony Blair haben, aber ihn trotzdem hassen, weil sie glauben, dass das von coolen jungen Leuten so erwartet wird. Wenn das die Strategie von Labour ist, warum gibt die Partei dann heute morgen bekannt, dass ihr Wahlkampf von Tony Blair finanziert wird? Wer soll davon genau profitieren? 106 Kandidaten, die knapp bei Kasse sind, vermute ich. Aber auch wenn jeder kleine Betrag hilft, werden 1000 Pfund sie nicht allzu weit bringen. Und jeder dieser Kandidaten wird bis zum Wahltag keine Stunde verbringen, ohne dass wütende Leute in bunten, schlecht sitzenden Pullovern hinter ihm her rennen und schreien: "Hast Du Blairs Blutgeld genommen?!? Hast Du es genommen??!!!!" 
Wenn man nun bedenkt, dass es im UK keine WASG/PDS/Linke gibt, die bei uns die allergrößten Gegner des Dritten Weges (in Form der Agenda 2010) absorbiert hat, kann man sich vorstellen, wie zerstritten diese Partei sein muss. Selbst die Bezeichnung Bruderkrieg wäre als Metapher untertrieben, denn es wäre keine Metapher, sondern eine Tatsachenbeschreibung. Brisanterweise schlug nämlich das Pendel ausgerechnet in einer Kampfabstimmung zwischen dem gewerkschaftsnahen Ed Miliband und dem Blair-Zögling David Miliband - seinem Bruder - zurück zu Old Labour. Und Ed hat nun die Aufgabe, die britischen Lafontaines und Gabriels unter einen Hut zu bringen. Immerhin hat die Partei ihren historisch einmaligen Mitgliederverlust fast wieder ausgeglichen (böse Zungen behaupten, das liege daran, dass der Mitgliedsbeitrag für gewisse Gruppen wie Jugendliche oder Kriegsveteranen bei exakt einem Penny liegt). Den Tories dagegen laufen die Mitglieder davon.

Dazu hat er noch zwei strategische Nachteile im Gegensatz zur deutschen SPD: Zum einen hatte er in der Opposition nicht die Chance, einen großen Teil von Blairs Reformen wieder zurückzunehmen, 
um die Basis ruhig zu stellen (das geschah zwar in gewissem Maße auch, geht aber auf das Konto von Gordon Brown). Zum anderen waren sowohl Blair als auch Brown für das britische Engagement im Irak - der fundamentale Unterschied zu Schröder, dem die SPD das heute noch hoch anrechnet, weshalb es nie zum vollständigen Bruch kam. Miliband hat dagegen eine von Obama und Cameron geplante Intervention in Syrien im Parlament verhindert und fährt auch einen aggressiveren Kurs gegenüber Israel. Eine Amtsübernahme Milibands würde das außenpolitische Gleichgewicht deutlich verändern - ein konservatives Regierungsmitglied bezeichnet ihn sogar als "erste Wahl Putins".

Aber wie wahrscheinlich ist das? Ziemlich wahrscheinlich. Im popular vote liegen Labour und Conservative gleichauf. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts sind aber die Umfragen in den constituencies interessanter, die man hier tagaktuell nachlesen kann. Sie sagen einen hohen Verlust für die Tories und vor allem für die LibDems voraus, von dem Labour aber nur bedingt profitieren kann. Großer Sieger wird aller Wahrscheinlichkeit die Scottish National Party. Und das macht Labour-Chef Ed Miliband zum Favoriten, denn die Nationalists würden definitiv mit Labour stimmen (bzw. sich bei Gesetzen, die Schottland nicht betreffen, sich traditionell enthalten). Gibt es also nicht in den nächsten zwei Wochen noch einen Stimmungsumschwung Richtung Tories, muss Cameron aus No10 ausziehen.

Übrigens ist der mögliche Machtverlust ebenfalls nicht die einzige Sorge der Konservativen Partei - auch hier gibt es Unstimmigkeiten hinsichtlich des richtigen Kurses der Partei:
Labour is not alone in this curious determination to wage an existential war on party-political traditions past. Ever since the then Tory chairman, Theresa May, told Tory supporters, ‘You know what some people call us: the nasty party’, ridding the Conservative Party of its ‘nasty’ image, cleansing it of ideological toxins, disavowing its socially conservative past, has become the closest thing Cameron et al have ever had to a mission. In the absence of something positive to stand for, some vision of how things ought to be, modernisation, the process of constantly bringing the party up to date through the jettisoning of what it once was, has become an objective. Gay-marriage supporting, feminist-loving and a sucker for female bishops - this is the Tory Party of today. No wonder ex-Tory prime minister John Major said that traditional Conservatives like himself felt ‘bewildered’ and ‘unsettled’ by contemporary Conservative policies. 
Labour ist mit ihrer eigenartigen Entschlossenheit, einen totalen Krieg gegen die parteipolitischen Traditionen der Vergangenheit anzuzetteln, nicht allein. Seitdem die damalige Tory-Vorsitzende Theresa May ihren Anhängern sagte, "Ihr wisst, wie manche uns nennen: die hässliche Partei", ist die Befreiung der Konservativen Partei von ihrem "hässlichen" Image, die ideologische Entgiftung, die Verleugnung ihrer konservativen gesellschaftlichen Position in der Vergangenheit das Einzige, was Cameron & Co annähernd als so etwas wie einen Auftrag empfinden. Mangels irgendetwas Positivem, für das man stehen kann, einer Vorstellung, wie es laufen soll, ist die Modernisierung zum Selbstzweck geworden, in einem ständigen Prozess, die Partei dem Zeitgeist anzupassen und das, was sie einmal war, als Ballast abzuwerfen. Die Tory-Partei von heute befürwortet die Homo-Ehe, liebt den Feminismus und hat eine besondere Schwäche für Bischöfinnen. Kein Wunder, dass der ehemalige Tory-Premierminister John Major feststellte, dass traditionelle Konservative wie er selbst perplex und verunsichert auf die aktuelle Politik der Konservativen blicken.
Wenn Sie, lieber Leser, ein CDU-Wähler sind und Ihnen nach dem Lesen dieses Absatzes das Wasser in den Augen steht, dürften Sie damit auch nicht allein sein.

Großbritannien steht aus liberal-konservativer Sicht vor der Wahl zwischen Not und Elend. Das Land steht vor Grundsatzfragen - Verhältnis zur EU, seine Rolle in der internationalen Politik, die Zukunft der union - Lösungen sind hier nicht zu erwarten. Das scheint auch keiner zu tun. Eingangs habe ich die Tatsache erwähnt, dass Nick Clegg von allen Parteivorsitzenden bis vor kurzem am wenigsten Popularität für sich verbuchen konnte. Dieses Schlusslicht hat er nun abgegeben. An Ed Miliband.  
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Meister Petz

© Meister Petz. Titelvignette: The House of Commons at Westminster. Plate 21 of Microcosm of London (1809). Gemeinfrei. Für Kommentare bitte hier klicken.