22. Juni 2016

Die Lust am Bösen, das Paradies der Verbote

Ein Racheakt aus Verzweiflung, der das Scheitern in Beruf oder Liebe kompensiert, oder aus politischer Verblendung, auch der krankheitsbedingte Tötungsakt eines Einzeltäters liefern wenig Einsicht zum Verstehen des falschen Lebens einer ganzen Gesellschaft. Man kann dagegen auch keine Mauern bauen wie dort, wo sie nicht nur in die Höhe, sondern wegen der Tunnel auch noch 20 Meter in die Tiefe zu bauen sind. Der Selbstmord-Attentäter, der mit einer spektakulären Tat seinem glanzlosen Leben einen Wert geben will, ist eine Ausnahme. Der „wertkonservative Rebell“, der eine Politikerin tötet, deckt schon mehr auf, dass das Böse die Regel wäre, wenn es keine Richter und Gefängnisse gäbe.

Braver Bürger ist also jeder, den das schnöde Eigeninteresse beeindruckt und zurückhält? Und Straftäter werden jene wenigen, die ausrasten? Dann gibt es also - und dies bei jedem von uns - eine latente, vom bürgerlichen Gewissen verheimlichte Lust am Bösen?

Wir wissen nicht, wozu wir fähig sind. Wir verdrängen es nur?

Die meisten leben die heimliche Lust am Bösen als Sublimierung im Krimifilm aus, manche wandeln sie um in Schimpfworte im Ehekrach. Der Brave genießt das Böse, das er nicht, nicht er getan hat. Der Christ denkt zuallerletzt an das unterlassene Gute, das speziell ihm Ermöglichte, das er zu tun versäumt hat (denn das hätte ihm ebenso wie die Untat als Sünde zu gelten).

Warum ist für die Künstler eher das Böse faszinierend als das Gute? Warum müssen aktuelle Inszenierungen Liebesdramen und Opern ins Bordell verlegen?

Gibt es denn keinen Himmel mehr, nur Perversionen?

Dass jeder Geltung sucht, Anerkennung, dass er eifersüchtig wird und sich irgendwie rächt für seine Bedeutungslosigkeit, zum Beispiel im Besäufnis, akzeptiert die psychologisierte Welt. Dass er Schwächen hat und Machtgelüste, muss nicht gleich bedeuten, dass er den Rivalen umbringt. Wenn es passiert, tröstet die Statistik: Kein Regelfall. Unsere Triebhaftigkeit führt aber zu oft zu Lebenslügen, zu Sadismus oder zu Vergewaltigung oder zu Selbstmord. Wie können in Zukunft Kinder und Enkel widerstehen, wenn das lange Leben von Oma und Opa unselig-pflegegeld-süchtig wird? Staat und Gesetz werden sie eindämmen müssen, wenn die Moral versickert ist.

Wir alle wehren uns gegen einen Überwachungsstaat und gegen ein Speicher-Netz, das allwissender ist als ein Polizei-Gott im Himmel. Wir verbieten ihnen die Kontrolle. Wir wollen frei sein und uns selber das Böse nicht verbieten lassen.

Die zweite Seite

Die Abgründe des Menschen zeigen auch eine positive Seite. Das Spielen mit dem Todesrisiko beflügelte nicht nur Krieger, sondern auch Sportler und Erfinder. Hätte unsere Gattung keine Grenzüberschreitungs-Lust, wären wir vielleicht Tiere geblieben. Das Ausloten des Verbotenen machte uns zu Dichtern, Wissenschaftlern und Philosophen. Die Einsicht, dass wir keine Götter sind (aber auch keine Teufel), führte in einigen privilegierten Regionen religionskritische Denker und Heilige zu hochstehenden Entdeckungen.

„Als sich die Menschen über die Erde hin zu vermehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden, sahen die Gottessöhne, wie schön die Menschentöchter waren, und sie nahmen sich von ihnen Frauen“, heißt es in Genesis 6, „in jenen Tagen gab es auf der Erde die Riesen.“ Nur so konnten sich die späteren Hochkultur-Schreiber die frühen riesigen Steinfiguren und –mauern erklären. Warum haben wir Heutigen trotz des Lächelns über den Unsinn dieser Kausalität dennoch so viel Lust am Hören von der fleischlichen Versuchung selbst für Engel?

Das ‚Sündige‘ fasziniert nicht deshalb, weil es das Schlechte durchschaut, sondern weil es als Gut begehrt und als höchstes Glück vermisst wird. Diese Selbsttäuschung scheint möglich, weil hinter jedem Missbrauch gerade einer unserer lebenswichtigen Grundtriebe glüht. Wir müssen essen, wir wollen Besitz, wir wollen geliebt sein. Wir wollen mit dem Besitz eine Sicherheit schaffen und laden uns eine Last auf; im Extrem wird einer geizig und Feind seiner Freunde.

Im Jüdischen gibt es vielfältige Gedanken über zwei Triebe im Menschen, den guten Trieb und den bösen, und geht es darum, auch den bösen wie ein zweites Pferd zum Beitragen für das gute Ziel miteinzuspannen.

Im Christlichen und im Humanismus Goethes gibt es die Hoffnung, die rechte Frau könne den Tiger im Mann bändigen, sogar das einfache Gretchenhaft-Weibliche könne das allzu Irdische hinaufführen zum rettenden Maß.

Es gab Menschen wie Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus und es gab sie auch in unserer Zeit, wie die Widerstandskämpfer der Weißen Rose oder die Mutter Teresa. Es gibt ein Ethos, welches das Erlaubte und Gebotene anders definiert als unsere Konsumgesellschaft. Nicht: Erlaubt ist, was wir abmachen zwischen X und Y, sondern: Erlaubt und geboten ist, was ein objektives Naturrecht, was der Dekalog vom Sinai uns erlaubt, und darüber hinaus gibt es eine selbstlose Liebe, die überhaupt kein Maß besitzt. Daher träumen unsere jungen Menschen immer noch von ewiger Treue.

Der Mensch schämt sich, immer noch. Der Mensch kann die Leiden eines Fremden mitfühlen, das Mitleid, die Hilfswellen zeigen es immer neu. Oft kostet es ja mehr als eine händchenhaltende Kette zu bilden oder Teelichter aufzustellen.

Das Gewissen funktioniert, auch dann, wenn es gegen seine Bisse anarbeitet, um ein Schlechtes in ein Gutes umzudeuten. Wir wissen noch, was verboten ist. Sonst müssten wir nicht lügen. Auch wenn unsere Phantasie das Jenseits des Himmels verloren hat, das Jenseits des Paradieses kennen wir und ärgern uns. Täglich sind die Medien voll davon.

Ludwig Weimer

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