24. August 2016

之後郝景芳 《北京折疊》 再獲雨果獎



Literaturpreise haben ja etwas gemäßigt Mißliches an sich (das gilt freilich nicht für die Empfänger noch für die Institutionen, die sie verleihen). Oder vielleicht sollte es besser heißen: etwas Janusköpfiges. Sie sind entweder allgemein bekannt oder von ebensolcher Unbekanntheit. Zur ersten Kategorie zählen Auszeichnungen wie etwa der Nobelpreis, der Literaturpreis des Nordischen Rates, der Goethepreis der Stadt Frankfurt oder der Ingeborg-Bachmann-Preis. Sie alle gelten als Ritterschlag für die damit Bekränzten und entheben das Publikum stracks von jeder näheren Kenntnisnahme des damit verbundenen Werkes. Auf der anderen Seite finden sich die mannigfachen Pokale für Genre- und Spartenliteratur, die Jahr für Jahr für Publikationen auf einem thematisch eng umzirkten Bereich vergeben werden. Damit verbindet sich, vor allem die für Leser auf diesen Gebieten, aber auch für orientierungslose Außenstehende, in aller Regel eine Leseempfehlung, ein Qualitätssiegel. (Zwischen den beiden Polen stehen im deutschsprachigen Literaturbetrieb die zahllosen Stadtschreiber- und Förderpreise, die zumeist die Namen verschollener Literaten tragen und die an schon zu Lebzeiten gleichermaßen verschollene Literaten vergeben werden. Der Daseinszweck dieser Wanderpokale ist es bekanntlich, armen Dichtern, die nicht mehr als zwanzig Büchern pro Jahr unter das pp. Publikum bringen, alle fünf Jahre einmal eine milde Gabe ohne den Anschein des Almosens zukommen zu lassen. Es handelt sich hier mithin um nichts, das die République les Lettres in irgendeiner Weise tangiert).

Zu solchen Spartenpreisen zählen etwa im englischen Sprachraum Auszeichnungen für kitschige Lieberomanzen (die RITA Awards); für Western (die Spur Awards) - eine Literaturgattung, die erstaunlicherweise immer noch gepflegt wird und die filmisches Pendant mittlerweile um fast vier Jahrzehnte überlebt hat (der letzte Grabstein auf dem Stiefelhügel jenes Genres war bekanntlich 1980 Michael Ciminos "Heaven's Gate"), bekannter dann die Edgar Awards für die Herbarien des Mord- und Totschlags (und das nicht nur in rein erdachter Form, da es hier auch die Kategorien für die beste Biographie und das beste Sachbuch gibt), und nicht zuletzt jene Preise, die sich den Provinzen der Res publica litteraria widmen, die man als normalsterblicher Leser am ehesten mit dem Begriff "Genre" assoziiert: dem schillernden Gebiet des Phantastischen: also jener Erzählungen, die die Gefilde des Mimetischen hinter sich lassen und im imaginativen Bermudadreieck zwischen den Polen des Schreckens (Horror), des Wunderbaren (Fantasy) und des zumindest Denkmöglichen und Extrapolierten (Science Fiction) oszillieren. Verliehen werden diese Preise (jedenfalls im englischen Sprachbereich) zumeist - aber nicht nur - von Autorenverbänden. Nach dem Vorbild der Mystery Writers of America, die in den 1940er Jahren gegründet wurden, um Vertragsrechte auch juristisch gegenüber der damals neuen und wildwesthaft agierenden Taschenbuchbranche gerichtlich erstreiten zu können (eigentlich müßte der Schutzpatron dieses Metiers mithin Perry Mason sein), die mit dem Festbankett bei der feierlichen Verleihung des Edgar Allan Poe Award ihrer Handelsware eine gewisse Dignität verliehen, wird von den 1965 gegründeten Science Fiction Writers of America der Nebula Award (deren erster Erfolg darin bestand, einem unbekannten Oxforder Mediävisten namens J.R.R.Tolkien eine Entschädigungszahlung für einen unbezahlten Taschenbuch-Reprint des Herrn der Ringe vor Gericht zu erstreiten) vergeben.  Den ältesten und renommiertesten Preis in diesem Metier stellt der Hugo Award dar, der seit 1953 in jedem Jahr von den Teilnehmern am Worldcon, der World Science Fiction Convention, dem größten Treffen seiner Art, verliehen wird. (Wobei es streng genommen nicht nur wirkliche Teilnehmer sind. Seit gut zwanzig Jahren werden von den jeweiligen Ausrichtungskommittees auch sogenannte "supportive memberships" angeboten: zum halben Preis der Teilnahmegebühren an der vier- bis fünftägigen Veranstaltung erhält man die durchaus aufwendig gestalteten, speziell für die Gelegenheit aufgelegten Publikationen wie das "Souvenir Book" mit Beiträgen der namhaften Autoren - und Kritiker - die als Ehrengäste geladen sind - und das Recht, bei den beiden Wahlgängen zum Hugo - der Aufstellung der in der Regel fünf Nominierungen für jede Kategorie und bei der Endauswahl aus der so entstandenen Liste - teilzunehmen. Für den diesjährigen, den 74. Weltkongress in Los Angeles, der in der vorigen Woche vom Mittwoch, dem 17. August bis zum Sonntag, den 21., stattfand, gab es das Wahlrecht für  50 US$ statt des umfassenden Eintrittspreises von 240.)

Die Zahl dieser Kategorien ist seit der Etablierung vor sechs Jahrzehnten immer wieder erweitert und variiert worden - darin nicht ganz unähnlich dem anderen Vorbild, mit dem eine Branche der Populärkultur ihren Umtrieben etwas Glanz verleiht: den Academy Awards, allgemein als Oscars bekannt (allerdings ist die Namensgebung nicht ganz so banal erfolgt wie bei der Hollywoodsparte, deren Preisfigur angeblich dadurch ihren Spitznamen erhielt, daß die Bibliothekarin der verleihenden Academy of Motion Picture Arts and Sciences, Margaret Herrick, abschätzig bemerkte: "he reminds me of my uncle Oscar". Der Edgar ehrt en Stammvater der detektivischen Rationation, Edgar Allan Poe, der Hugo den aus Luxemburg stammenden Radiopionier und Verleger der ersten ganz auf Science Fiction spezialisierten Pulp magazines der zwanziger Jahre; Hugo Gernsback, der zwar diese Erzählweise, ihre Themen und Motive, nicht erfunden hat - hier fallen einem eher Namen wie Mary Shelley, Jules Verne, H. G. Wells ein -, sie aber als eigenes Genre etabliert, kenntlich gemacht - und nach Auffassung zahlloser Späterer auf ewig ins Ghetto des Unreifen, Juvenilen, schlicht undiskutierbar Nerdigen verbannt hat.) Von Anfang an sind dort Filme mit bedacht worden (in diesem Jahr "The Martian"); seit geraumer Zeit werden Filme und einzelne Folgen von Fernsehserien in getrennten Kategorien bedacht, um ihren unterschiedlichen Gewichtungen gerecht zu werden. Ebenso die Herausgeber von Magazinen, Buchreihen, Anthologien: dies ist ein Aspekt, der in wohl allen Branchen, selbst "richtiger" Literatur, Lit. Fic., wie man sagen knnte, geflissentlich übersehen und notorisch unterschätzt wird: die Äste am Baum des Phantastischen bilden hier eine lobenswerte Ausnahme. Aber das Hauptaugenmerk liegt auf der Literatur selbst.

Und zwar - und hier liegt jetzt ein nicht mehr ganz trivialer und monadisch um sich selbst kreisender Aspekt dieses doch recht befremdlichen Treibens - werden hier nicht nur Romane bedacht, sondern auch Texte der Kurz- und Mittelstrecke - in den Kategorien "Kurzgeschichte" (das entspricht, dem Reglement gemäß, Texten bis 7500 Worten Länge, mithin gut 20 Druckseiten umfassend), "novelettes", längeren Erzählungen (bis 17500 Worte umfasend, also je nach Satzspiegel 35 bis 50 Seiten) und "novellas", Kurzromanen, deren Länge unter der eines ausgewachsenen, mehrhundertseitigen Romans bleibt. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, daß diese kurzen Erzählformen, von Anfang an und verändert bis heute, ein zentraler Bestandteil dieses Genres darstellen, das sich selbst gern als "literature of ideas" sieht, als Reflektion abstrakter Ideen, naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, philosophischer Denkmöglichkeiten. Für die meisten Texte ist das entschieden zu hoch gegriffen - auch in diesen Formaten überwiegen die schlichten Unterhaltungsnarrative, das oft mechanische Durchspielen alter Konstellationen. Und doch: es bleibt dabei, daß hier, im oft mißachteten und geringgeschätzten Genre, in Büchern "with spaceships on the spine", mit Schwertmaiden und Galaxien auf dem Titelbild, konzentriert in Regalecken der größeren Buchläden, die in man sich als erwachsener Leser ungern verirrt, jene kurzen Erzählformen ein letzes Refugium gefunden haben. Während die Kurzgeschichte, die Novelle im Rest der literarischen Produktion keine nennenswerte Rolle spielt: diese Erzählform, dieses Format, das in der Ausbildung der literarischen Moderne - von E.T.A.Hoffmann, Poe, Tschechov, Maupassant, Kipling, Horacio Quiroga, F. Scott Fitzgerald, Machado de Assis und und und eine zentrale Rolle gespielt hat, eine der bevorzugten Formen, um eine Geschichte zu erzählen, Gestalten einprägsam vors Auge des Lesers zu stellen, eine Zeitstimmung prägnant anzureissen, ohne den Leser auf Tage oder Wochen hinaus mit Beschlag zu belegen: nur hier scheint es wirklich lebendig. (Hand aufs Herz: wann haben Sie das letzte Mal eine Kurzgeschichte gelesen, vielleicht gar mit Vergnügen an der Erzählfertigkeit des Autors, an dem Kosmos, der hier blitzartig aufscheint? Für passionierte Leser, mittenmang und unbekümmert ums eigene hochliterarische Seelenheil bekümmert, passiert genau dies Dutzende Male im Jahr.)  Nicht nur, daß hier hunderte von Texten pro Jahr erscheinen (die Kompilatoren der jährlichen Florilegien, wie Gardner Dozois oder Jonathan Strahan, schätzen das jährliche Volumen regelmäßig auf zwei- bis dreitausend Erzählungen), es finden sich durchweg passionierte Leser und es werden Rezensionen verfasst, kritische Diskussionen finden statt. Dabei liegt das Verdienst dieser letzten Ventilationen im geringsten Maß in der Erörterung dieser Texte, sondern in Hinweis auf ihre Existenz und ihre Themen, im Hinweis auf neue Namen: das, was eine lebendige Tradition kennzeichnet. 

Nicht unwesentlich dürfte zum Niedergang der kurzen Erzählformen (neben der Konkurrenz durch die Massenmedien Radio und Fernsehen, deren Formate ein der short story vergleichbares Zeitbudget vom Rezipienten einfordern) der Umstand beigetragen haben, daß solche Texte, seien sie 10 oder 20 Seiten lang, den meisten Lesern nur als Schulstoff untergejubelt worden sind, mit dem unauslöschbaren Hautgout des Prüfungs- und Klausurenstoffs, des unbedingt "zu Interpretierenden" (was will uns der Autor "damit sagen?" Standardantwort: Er will uns auf die Schlechtigkeit der Welt aufmerksam machen und fordert die sofortige Abstellung sämtlicher Mißstände). Zum Vergleich darf man sich vorstellen, man dürfte sämtliche Lieder, Stücke, Songs, die einem das Herz aufgehen lassen, von den Dire Straits, Leonard Cohen bis Mozart, allein unter dem schriftlich zu absolvierenden Aspekt: "wie erweitert sich hier die Formensprache des Barock?" "Analysieren und kritisieren Sie die sozialkritischen Ansätze von 'Sultans of Swing'"  goutieren: der Adornosche Aversionstherapie  ("Wer an Kunstwerken Genuß suchr und findet, ist ein Banause: Worte wie "Ohrenschmaus" überführen ihn") wäre der Erfolg garantiert, den sie im Bereich des literarischen 100-Meter-Laufs unzweifelhaft verbuchen konnte.

Traditionell liegt den Hugo Awards, um auf den Anlaß zurückzubiegen, nicht zuletzt wegen des Auswahlverfahren ein Ruf des Populistischen, des Bieder-Bewährten nahe. Das ist nicht zuletzt ein Relikt der Aufwallungen der sechziger Jahre, als im Zuge der sogenannten "New Wave" versucht wurde, das Genre durch das Anbordnehmen avantgardistische Erzählformen, formale Aspekte und die zeitgeistigen Obsessionen vom militanten Antimilitarismus bis zur vermeintlichen Bewusstseinserweiterung und -sprengung durch sex, drugs and rock'n'roll entweder zur vermeintlichen Speerspitze der literarischen Darstellung aufschließen zu lassen oder aber diese Art des Erzählens überhaupt zu torpedieren. Fünfzig Jahre später, nachdem die Formspiele des oft inhaltsfreien Avantgardismus beträchtlich an Reiz verloren haben und die als "traditionellen", "unreflektierten" Darstellungsweisen als das erscheinen, was sie immer schon waren: effektive narrative Transportmittel anderer Facetten, die sie nicht durch stilistische Ablenkungen zudecken oder deren schlichtes Fehlen kaschieren, wirken solche Kabalen erratisch. Anders verhält es sich mit dem Vorwurf, die Hugo Awards, und nicht nur sie: die ganze Szene dieser Literatur, sei parochial, eng, allein auf die Perspektive der USA, der englischsprachigen Welt, der westlichen Hemisphäre, der "ersten Welt" fokussiert - eine Literatur des Arrivierten, der Sieger. Angesichts dessen, daß die SF, neben den Wunschprojektionen technischer und sozialer Utopien auch immer ein Vehikel zur Kritik, zur Satire, zur Invertierung der gewohnten Maßstäbe war, daß ihr stärkstes Movens immer die Imaginierung von Welten war, die anders waren - von den Frühformen wie Jonathan Swifts Gulliver's Travels über Adlous Huxleys Brave New World und Margaret Atwood The Handmaid`s Tale - greift dieser Vorwurf zwar entschieden daneben. Das Genre hat sich immer durch das ausgezeichnet, was die neumodische Vokabel "Inklusion" einmal abdeckte: die Offenheit für Neues, Ungewohntes. (Darin unterscheidet es sich nicht von der "richtigen" Literatur, die auch stets, seit Jahrhunderten, vom Übersetzen, von der Kenntnisnahme anderer Literaturformen und -traditionen lebt und aus ihnen neue eigene Tradionen formt.) Allerdings ist durch den Mangel an Übersetzungen und deren zugegebenermaßen beschränkte Rezeption im englischsprachigen Raum eine paradoxe Situation entstanden: während der Rest der Welt sich formal an den Themen, an den Erzählweisen der englischsprachigen Modelle und Vorbilder orientiert - schöpft man dort aus den eigenen Quellen. Gewisse Bezugnahmen, wie auf die Oeuvres von Franz Kafka oder Jorge Luis Borges ergeben sich aus dem Status, den diese Autoren im Rahmen ihrer allgemeinen weltweiten Rezeption erlangt haben. Fast ließe sich sagen, daß die SF nicht ohne ihre anglo-amerikanische Basis denkbar wäre, wohl aber ohne den Rest der Welt. Darin liegt nichts "Kulturimperialistisches": die Themen, die Aspekte - von der Bedrohung durch die Technik, die Entdeckung ferner Welten, der geänderte Verlauf der Geschichte und seine Bedingungen, das Denkexperiment der Zeitreise: all das ist dort ausprobiert, angedacht, verfeinert worden, hat seine literarische Evolution bei Autoren und Lesern durchlaufen. Wer, gleich wo auf der Welt, sich dieser Tropoi bedient, dieser Themen, arbeitet letztlich in dieser Tradition. Auch wenn der lokale Hintergrund und die Vorliebe für manche Themen variiert. 

Freilich hat sich "der Rest" dieser Welt, was seine konkreten Texte betrifft, in früheren Dekaden nicht niedergeschlagen. Für ein englischsprachiges Publikum müssen die Texte natürlich in übersetzter Form vorliegen; sie müssen zudem an leicht zugänglicher Stelle greifbar sein (so gibt es durchaus Veröffentlichungen mehr-oder-weniger klassischer SF-Romane in den letzten Jahren, wie etwa vollständige Neuübersetzungen der traditionell für die englische Übertragung gekürzten Voyages extraordinaires von Jules Verne: aber das ist von spezialisierten Verlagen, nämlich akademischen University Presses veröffentlicht worden und erreicht die typische Genreleserschaft nicht.) Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Und diese Veränderung läßt sich, eine hübsche Volte, auf die grundstürzende technologische Innovation zurückführen, die die Welt in den letzten 25 Jahren gewandelt hat. Und - hier liegt eine besonders hübsche Ironie für ein Genre, dessen tiefster Antrieb sich der Erkenntnis verdankt, daß die Welt sich durch Technik wandelt und das diesen Wandel zu antizipieren versucht - und das genau diesen Wandel vollständig übersehen hat: nicht die Raumfahrt, nicht die Roboter, nicht neue Lebensgestaltungen, sondern das Internet. Zum einen sind viele der neuen Autoren, die sich gerade auch als Verfasser kurzer Texte einen Namen gemacht haben, nicht oder nur teilweise aus dem englischsprachigen Raum herkünftig: sie schreiben in der lingua franca der Moderne, und sie partizipieren an den sich wandelnden Traditionen dieses Genres, aber ihr Hintergrund divergiert: Hannu Rajaniemi etwa, als finnischer Computerprogrammierer in Schottland wohnend; Aliette de Bodard, Pariserin mit vietnamesischen und französischen Wurzeln und Autorin der Erzählungen und Romane des "Xuya"-Zyklus, einer Space Opera-Serie mit leicht exzentrischem Hintergrund (in ihrem Erzählkosmos haben das alte Viet Namh-Reich und die Mayakultur die wissenschaftliche Methode und die Eroberung des Weltraums ins Werk gesetzt), die in einer Reihe der jährlich erscheinenden "Best-of"-Anthologien seit vier oder fünf Jahren für gute Unterhaltung sorgen. Oder Yoon Ha Lee, gleichermaßen in koreanischen wie US-Amerikanischen Belangen verwurzelt, der in seiner Mischung aus High-Tech-Phantasie, Märchenmotiven, und kafkaesker Allegorie an das Werk Cordwainer Smiths anknüpft.  Darüber hinaus sollte man nicht die Autoren vergessen, deren indischer Hintergrund ihre Erzählungen nicht zwingend grundiert: wie Vandana Singh oder Indrapramit Das. Zum anderen haben die traditionellen Science Fiction-Magazine (und die gelegentlichen Anthologien, in denen neue kurze Erzählungen publiziert werden) durch die neuen Formen des elektronischen Publizierens ihre Monopolstellung eingebüßt. Die in elektrischen Magazinformaten wie Clarkesworld, Lightspeed, Strange Horizons und einigen anderen publizierten Texte stehen in ihrer Qualität den älteren Arenen nichts nach, aber sie sind jedem Leser weltweit, instantan, auf einen Mausklick hin greif- und lesbar (so er denn des Englischen mächtig ist: und selbst dies gilt nur halb: denn die Übung führt zur Beherrschung, keinesfalls der Unterricht).

Auch im kleinen Kosmos der Hugo Awards wird dieser Wandel sichtbar. Etwa bei Thomas Olde Heuvelt, dessen Novelle "The Day the World Turned Upside Down" (elektronisch in eben dieser Form in Lightspeed publiziert) im vorigen Jahr den Hugo Award erhielt (seine erste Nominierung bekam er zwei Jahre vorher für die Übersetzung der Erzählung "Die jongen die geen schaduw wierp" - "The Boy Who Cast No Shadow"; im niederländischen Original war dieser Text mit dem Paul Harland-Prijs gedacht worden, einer der ganzen wenigen Preise im Genre, die mit einem substanziellen Preisgeld verbunden sind; an der Stiftung dieser Auszeichnung hängt eine überaus tragische Geschichte, aber das ist ein anderes Thema. Olde Heuvelt hat dieses Geld vollständig für eine Übersetzung ins Englische auf professionellem Niveau verwendet: eine Investition, die sich ausgezahlt hat).  

Eine besondere Rolle kommt hier einem Narrativersum zu, das in den letzten Jahren eine völlig unerwartete Erweiterung des nur vermeintlich "traditionell anglo-amerikanischen Systems" (mit seiner ebenso vermeintlichen White Anglo-Saxon-Protestant-Perspektive) darstellt: der chinesischen Science Fiction der letzten gut fünfzehn Jahre. Angestoßen wurde das hauptsächlich durch die Übersetzertätigkeit von Ken Liu, 1976 in Lanzhou geboren und in den Vereinigten Staaten aufgewachsen (auch er wie so viele im der Metier Tätigen aus der Programmiererbranche herkünftig), und dessen Kurzgeschichte "The Paper Menagerie" 2013 der erste Text überhaupt war, der mit allen drei "großen" Awards - dem Nebula, dem Hugo und dem World Fantasy Award zugleich bedacht wurde. In den letzten fünf Jahren hat er Dutzende von Kurztexten aus dem Chinesischen publiziert, und Namen wie Xia Jia, Ma Bojong, Chen Quifan haben mittlerweile für passionierte Leser im Genre und diesem Format durchaus Wiedererkennungswert. Im vorigen Jahr wurde seine Übersetzung des wohl am meisten gelesenen SF-Romans Chinas, dem ersten Band von Liu Cixin Santi-Trilogie, bei Tor Books unter dem Titel "The Three-Body Problem" (im Original 2006 erschienen; in Übersetzung 2014), als erster, tja: kann man in diesem Fall sagen "fremdsprachiger"? Roman mit dem Hugo Award bedacht. (Kleine Fußnote am Rand: es wurde von der Pressestelle des Weißen Hauses im vorigen Jahr mitgeteilt, das Buch zähle zu Präsident Obamas Sommerurlaubslektürevorrat. Eine Abprüfung auf wirklich erfolgte Lektüre scheint noch auszustehen. Andererseits kann ich - aus zweiter Hand gesichert -  versichern, daß es unter Pekinger Studenten keinen geben soll, der mit dem Buch nicht vertraut sei. Allerdings scheint es sich, und hier scheint Nerd-Lektüre höchst kulturinvariant zu sein, sich ausschließlich um männliche Leser handeln.)

Und in diesem Jahr - und jetzt biege ich wirklich auf den Startpunkt Los Angeles 2016 zurück - wurde in der Kategorie "best novelette" die Erzählung "Folding Beijing" von Hao Jingfang gekürt. Ken Liu Übertragung erschien in der zweiten Ausgabe des - übrigens durchweg zu empfehlenden Internetmagazins Uncanny Stories vom Januar/Februar 2015; das Original im Dezember 2012. "Hard science fiction"-Fans könnten einwerfen, hier handele es sich gar nicht um SF, sondern um literarische Phantastik, magischen Realismus vielleicht: Um die Schilderung eines "gefalteten Peking", in dem sich drei verschiedene, tja, man könnte es "Aggregatzustände" nennen, überlagern, wie in verschiedenen Dimensionen: in dem die Wohlhabenderen mehr Zeit, mehr Sonnenstunden, mehr Platz zur Verfügung haben als die robotenden Beamten und die Habenichtse der "untersten" Ebene. Die Entdeckung dieser sich überlagernden Dimensionen, die Bedingungen des Wechseln des Ebenen, der Versuch und das Scheitern des Ausbruchs: all das bildet das Substrat der Erzählung. Natürlich ist das auch verlarvte Kritik an den realweltlichen Zuständen, so wie man es vor dem Fall der Mauer aus den Bereichen der nautschnika fantastika gewohnt war - und doch wieder nicht: mittlerweile dient dieser Modus des Erzählens, die Verlegung der Kritik ins zeitlich Ferne oder Irreale, nicht mehr dem Schutz vor der Zensur. Das ist eine Extrapolation heutiger Zustände, heutiger Befürchtungen, so wie sie auch im Westen üblich ist. Zur SF gehört der Text  vor allem, weil, trotz der nicht-technologischen Umstände, seiner phantastischen Urbanistik, weil die Exploration, die Auslotung dieses Novum (das nach der Definition von Tsvetan Todorov die Grundbedingung eines phantasischen Textes darstellt), auf stringente, logisch deduktive Weise erfolgt: das Gefaltete Peking und das Sich-Entfalten seiner Topographie ist der eigentliche Protagonist der Erzählung. Hao Jingfang, 1984 in Tianjin geboren, und mit einem Abschluss in Wirtschaftswissenschaften (mit Astronomie im Nebenfach), hat nur eine Handvoll Kurztexte veröeffntlicht; mittlerweile aber drei Romane 流浪玛厄斯 (Liulang maesi, Der irdische Planet, 2011), 回到卡戎 (Hui dao karong; Rückkehr zum Charon, 1984) und zuletzt den wohl sehr autobiographischen Roman "Geboren in Beijing, 1984", der ohne Beigabe phantastischer Elemente die Lebensumstände, Wünsche und Träume ihrer Generation schildert. 

Es liegt durchaus eine hübsche Ironie darin, daß eine Facette der "US-amerikanischen" Zukunftsliteratur auf einem anderen Kontinent, in einem anderen Sprache, vor einem anderen kulturellen Hintergrund geschrieben wird. Und daß für den Leser, und zwar weltweit, dies keinerlei Unterschied bedeutet.

Solche Petitessen im seichten Tümpel der Trivialliteratur sollten natürlich unter dem Radar der Medien hindurchsegeln. In China scheint man sich darüber freilich durchaus noch freuen zu können (Xinhua.net, media.people.com.cn). Sogar die SZ, Genre-Nerdigkeit eher unverdächtig, heute ein kleines Porträt gewidmet,

Hao Jingfang, die auf der Science Fiction Convention in LA am Sonntag den Preis persönlich entgegennahm (die jedem SF-Fan bekannte stilisierte Metallrakete auf dem jährlich wechselnden Holzsockel), spricht übrigens ein ausgezeichnetes Englisch - auch das teilt sie mit den Landsleuten ihrer Generation. Während es vielen Preisträgern (die traditionell vorher nicht von ihrem Gewinn in Kenntnis gesetzt werden) doch, trotz des trivialen Anlasses, die Sprache verschlägt, drückte sie ihr herzliches Bedauern aus, daß sie jetzt nicht mit mehr gutem Gewissen zu der - mittlerweile ebenso traditionell gewordenen "Hugo Losers Party" gehen könne. Diese Gasterei wurde in diesem Jahr von einem gewissen George R.R.Martin ausgerichtet und als Conferencier betreut. Immerhin wissen wir nun, warum dieser Herr keine Zeit findet, die letzten beiden Romane des Songs of Ice and Fire fertigzustellen (und diese Klage ist, traditionell nun zum Dritten, nun auch seit mehr als zehn Jahren unverbrüchlicher Bestandteil des Genre-Diskurses)





Hier: http://www.guokr.com/post/630523/ findet sich der chinesische Text der Erzählung,

清晨4:50,老刀穿过熙熙攘攘的步行街,去找彭蠡。
从垃圾站下班之后,老刀回家洗了个澡,换了衣服。白色衬衫和褐色裤子,这是他唯一一套体面衣服,衬衫袖口磨了边,他把袖子卷到胳膊肘。老刀四十八岁,没结婚,已经过了注意外表的年龄,又没人照顾起居,这一套衣服留着穿了很多年,每次穿一天,回家就脱了叠上。他在垃圾站上班,没必要穿得体面,偶尔参加谁家小孩的婚礼,才拿出来穿在身上。这一次他不想脏兮兮地见陌生人。他在垃圾站连续工作了五小时,很担心身上会有味道。
步行街上挤满了刚刚下班的人。拥挤的男人女人围着小摊子挑土特产,大声讨价还价。食客围着塑料桌子,埋头在酸辣粉的热气腾腾中,饿虎扑食一般,白色蒸汽遮住了脸。油炸的香味弥漫。货摊上的酸枣和核桃堆成山,腊肉在头顶摇摆。这个点是全天最热闹的时间,基本都收工了,忙碌了几个小时的人们都赶过来吃一顿饱饭,人声鼎沸。
und hier: http://uncannymagazine.com/article/folding-beijing-2/ die englische Übersetzung:
1.
At ten of five in the morning, Lao Dao crossed the busy pedestrian lane on his way to find Peng Li.
After the end of his shift at the waste processing station, Lao Dao had gone home, first to shower and then to change. He was wearing a white shirt and a pair of brown pants—the only decent clothes he owned. The shirt’s cuffs were frayed, so he rolled them up to his elbows. Lao Dao was forty–eight, single, and long past the age when he still took care of his appearance. As he had no one to pester him about the domestic details, he had simply kept this outfit for years. Every time he wore it, he’d come home afterward, take off the shirt and pants, and fold them up neatly to put away. Working at the waste processing station meant there were few occasions that called for the outfit, save a wedding now and then for a friend’s son or daughter.



(Für Guiming)




­
Ulrich Elkmann

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.